Gotik - ein deutscher Stil?

Carolus

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Und ob er schwelgte:

"Und nun soll ich nicht ergrimmen, heiliger Erwin, wenn der deutsche Kunstgelehrte, auf Hörensagen neidischer Nachbarn, seinen Vorzug verkennt, dein Werk mit dem unverstandnen Worte gotisch verkleinert. Da er Gott danken sollte, laut verkündigen zu können, das ist deutsche Baukunst, unsre Baukunst, da der Italiener sich keiner eignen rühmen darf, viel weniger der Franzos. Und wenn du dir selbst diesen Vorzug nicht zugestehen willst, so erweis uns, daß die Goten schon wirklich so gebaut haben, wo sich einige Schwürigkeiten finden werden."

Mich irritiert so ein wenig die Aussage von J. W. v. Goethe. Eigentlich ist Gothik ein europäischer Stil, der sich von Nordfrankreich ausgebreitet hat. Ich vermute, dass Goethe ironisierend den "deutschen Kunstgelehrten" aufs Korn nimmt. Ganz absurd ist auch der Vergleich mit Italienern und gerade mit Franzosen, bei denen die Gotik entstanden ist. Es mag wohl regionale Ausprägungen der Gotik in Deutschland gegeben haben, aber solches würde ich auch in anderen Gebieten vermuten.

Die "Schwürigkeiten" (sic!) zu erweisen, dass die Goten schon wirklich so gebaut haben, sehe ich auch, da die Goten mit Gotik nur dem Namen nach etwas zu tun.

Hat der "deutsche Kunstgelehrte" zur Zeit von Goethe wirklich nicht gewußt, dass die Gotik nichts spezisch deutsches ist?
 
Meine Frage wäre, was Goethe unter Gotik verstanden hat, denn zu seiner Zeit dürfte noch keine ganzheitliche Betrachtung vorgelegen haben.
 
Das war allerdings vor seiner Italienreise. Auf der schwelgte er nur noch von Palladio etc. und schickte Kiloweise entsprechende Bücher nach Hause. Auf dieser Reise wurde er ein Fan der Renaissance und der alten Römer und der Griechen.

@Mashenka hat mich darauf gebracht, mal in seinem späteren Werk "Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit" zu suchen, da kommt er im dritten Band (1814 erschienen, also fast vierzig Jahre nach seinem schwelgerischen Aufsatz) noch einmal auf das Thema zurück. Der alte Goethe distanziert sich da zwar von seinem damaligen schwülstigen Stil, inhaltlich nimmt er nichts zurück:

Was ich über jene Baukunst gedacht und gewähnt hatte, schrieb ich zusammen. Das erste, worauf ich drang, war, daß man sie deutsch und nicht gotisch nennen, nicht für ausländisch, sondern für vaterländisch halten solle; das zweite, daß man sie nicht mit der Baukunst der Griechen und Römer vergleichen dürfe, weil sie aus einem ganz anderen Prinzip entsprungen sei. Wenn jene, unter einem glücklicheren Himmel, ihr Dach auf Säulen ruhen ließen, so entstand ja schon an und für sich eine durchbrochene Wand. Wir aber, die wir uns durchaus gegen die Witterung schützen, und mit Mauern überall umgeben müssen, haben den Genius zu verehren, der Mittel fand, massiven Wänden Mannigfaltigkeit zu geben, sie dem Scheine nach zu durchbrechen und das Auge würdig und erfreulich auf der großen Fläche zu beschäftigen. Dasselbe galt von den Türmen, welche nicht, wie die Kuppeln, nach innen einen Himmel bilden, sondern außen gen Himmel streben, und das Dasein des Heiligtums, das sich an ihre Base gelagert, weit umher den Ländern verkünden sollten. Das Innere dieser würdigen Gebäude wagte ich nur durch poetisches Anschauen und durch fromme Stimmung zu berühren.
Hätte ich diese Ansichten, denen ich ihren Wert nicht absprechen will, klar und deutlich, in vernehmlichem Stil abzufassen beliebt, so hätte der Druckbogen »Von deutscher Baukunst, D. M. Ervini a Steinbach« schon damals, als ich ihn herausgab, mehr Wirkung getan und die vaterländischen Freunde der Kunst früher aufmerksam gemacht; so aber verhüllte ich, durch Hamanns und Herders Beispiel verführt, diese ganz einfachen Gedanken und Betrachtungen in eine Staubwolke von seltsamen Worten und Phrasen, und verfinsterte das Licht, das mir aufgegangen war, für mich und andere. Demungeachtet wurden diese Blätter gut aufgenommen und in dem Herderschen Heft »Von deutscher Art und Kunst« nochmals abgedruckt.
 
War am Ende Goethe, der die gotische Architektur deutsch nannte und so den Begriff prägte?

Mir scheint so:


Aus dem Link:

Seit Goethes Hymnus (1772) auf Erwin von Steinbach, den legendären Erbauer des Strassburger Münsters, betrachtete man in Deutschland die Gotik als Ausdruck des eigenen Volkscharakters.​

Danach ist wohl Goethe "schuldig" an der Verknüpfung der Gothik mit den Deutschen.

Aber erst später wurde der Ursprung korrigiert:

Obwohl Abbé Lebœuf (1684-1760) den Beginn der Gotik richtig in die Regierungszeit Ludwigs VI. setzte und damit deren französische Herkunft feststellte, hielt sich das Vorurteil vom "germanischen" Ursprung der Gotik vor allem in Deutschland noch fast ein Jahrhundert.​
 
In der Wiki findet sich folgende Aussage:

Lange Zeit hielt man, vor allem im 19. Jahrhundert, die Gotik für einen typisch deutschen Stil. Nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon wurde die gotische Baukunst zum Inbegriff einer urdeutschen, christlichen, mittelalterlichen Weltordnung verklärt. Dieses romantische Traumbild wurde zum positiven Gegenbild erhoben. Der damals noch nicht vollendete Kölner Dom wurde zum architektonischen Inbegriff deutscher Größe und gleichzeitig wurde die Gotik zu einem deutschen Stil umgedeutet. In der Hochphase der Glorifizierung der deutschen Gotik hat Franz Theodor Kugler als Erster öffentlich festgestellt, dass das Herkunftsgebiet der Gotik Nordfrankreich ist.[31] Als Reaktion auf diese Erkenntnis hat dann Georg Dehio die „deutsche Romanik“ zum deutschen Nationalstil erklärt, obwohl die romanischen Bauten in Deutschland nicht anders als die gotischen ungeachtet deutscher Innovationen im jeweiligen Stil überwiegend in anderen Ländern entwickelte Formen aufweisen. Da die „deutsche Romanik“ das deutsche Wesen ausdrücken sollte, erklärte er so manche nicht ganz vollständige Übernahme der gotischer Vorbilder (im Umgang von Bauherren und Baumeistern mit einem aufkommenden und einem abklingenden Stil) zur „deutsche Romanik“ mit „gotischen Zitaten“.[32]


Das Werk von Kugler (1958) findet sich auch online: Geschichte der Baukunst : Kugler, Franz, 1808-1858 : Free Download, Borrow, and Streaming : Internet Archive

Leider ist keine Seitenangabe im Wiki-Artikel angegeben. (Das Werk ist übrigens in Antiqua gedruckt.)
 
Goethes gutgemeinte Absicht war, die Bezeichnung "gotisch" abzuschaffen. Zum einen war sie abwertend gemeint (gotisch = barbarisch), zum anderen hatten die Goten ja nun wirklich nichts mit dem Stil zu tun.

Das erste, worauf ich drang, war, daß man sie deutsch und nicht gotisch nennen ... solle

(Wer das Zitat "Die deutsche Schrift ist in ihrem Schmuck den gotischen Bauten vergleichbar..." fabriziert und ausgerechnet Goethe in die Schuhe geschoben hat, muss schon eine besondere Knalltüte gewesen sein.)
 
Da stellt sich mir die Frage, warum die Goten mit Deutschland in Verbindung gebracht werden. Sie haben doch meines Wissens niemals in einer Region gesiedelt, die bis zur Zeit Goethes bzw. sogar bis zum Deutschen Bund, innerhalb Deutschlands lag. Der Legende nach siedelten sie nacheinander in Skandinavien, entlang der Weichsel, auf dem Balkan, der Krim, in Italien, Südwestfrankreich und Spanien. Die Wielbark-Kultur (vorausgesetzt, dass man diese als "gotisch" ansieht) an der Weichsel lag zu Goethes Zeiten außerhalb Deutschlands. Ab 1870/71 waren Teile der Region vorübergehend innerhalb der deutschen Staatsgrenzen. Alle anderen Siedlungsgebiete haben gar nichts mit Deutschland gemeinsam.
 
Allerdings steht in "Dichtung und Wahrheit" nicht, dass der gotische Stil ein deutscher sei, sondern dass Goethe seinen in der Jugend geäußerten Ansichten "ihren Wert nicht absprechen" möchte. Das sollten wir auch heutzutage nicht, denn das Argument ist doch immer noch interessant: nämlich dass der Unterschied zwischen gotischem und antikem Stil auch mit dem zwischen einem kühlen und einem mediterranen Klima zusammenhängt.
 
Da stellt sich mir die Frage, warum die Goten mit Deutschland in Verbindung gebracht werden.
Das hättest Du Goscinny & Uderzo fragen müssen...

Da stellt sich mir die Frage, warum die Goten mit Deutschland in Verbindung gebracht werden. Sie haben doch meines Wissens niemals in einer Region gesiedelt, die bis zur Zeit Goethes bzw. sogar bis zum Deutschen Bund, innerhalb Deutschlands lag. Der Legende nach siedelten sie nacheinander in Skandinavien, entlang der Weichsel, auf dem Balkan, der Krim, in Italien, Südwestfrankreich und Spanien. Die Wielbark-Kultur (vorausgesetzt, dass man diese als "gotisch" ansieht) an der Weichsel lag zu Goethes Zeiten außerhalb Deutschlands. Ab 1870/71 waren Teile der Region vorübergehend innerhalb der deutschen Staatsgrenzen. Alle anderen Siedlungsgebiete haben gar nichts mit Deutschland gemeinsam.

Die Bezeichnung kam in Italien auf, in der Renaissance. Die Goten waren die ersten Barbaren, die Italien flächendeckend und für längere Zeit kontrollierten. Bei Petrarca u. a. finden wir die Vorstellung, dass die Barbaren aus dem Norden das einst so strahlende Rom in ein Zeitalter der Finsternis gestoßen hätten. Die Renaissance-Architektur knüpfte wieder an antike Vorbilder an, die von den Goten verursachte Geschmacksverirrung sollte damit überwunden werden.
 
Danach ist wohl Goethe "schuldig" an der Verknüpfung der Gothik mit den Deutschen.

Ich bitte meinen orthografischen Fauxpas zu entschuldigen und das fehlerhafte h in Gothik zu streichen. Vermutlich bin ich mit den englischen und französischen Begriffen durcheinander geraten (Gothic bzw. Gothique). Oder habe ich Gotik und Goethe vermischt?


Ich sehe gerade noch in der Wikipedia, dass die zeitgenössische Bezeichnung wie folgt lautete:

Der in Frankreich entwickelte Stil und die neue Bautechnik wurden um 1280 als opus francigenum bezeichnet.[3]​
 
Allerdings steht in "Dichtung und Wahrheit" nicht, dass der gotische Stil ein deutscher sei

Noch 1823 legt Goethe Wert auf die Bezeichnung "deutsche Bauart" für die Gotik:

"Einen großen Reiz muß die Bauart haben, welche die Italiener und Spanier schon von alten Zeiten her, wir aber erst in der neuesten, die deutsche (tedesca, germanica) genannt haben. Mehrere Jahrhunderte ward sie zu kleinern und zu ungeheuren Gebäuden angewendet, der größte Teil von Europa nahm sie auf; Tausende von Künstlern, aber Tausende von Handwerkern übten sie; den christlichen Kultus förderte sie höchlich und wirkte mächtig auf Geist und Sinn; sie muß also etwas Großes, gründlich Gefühltes, Gedachtes, Durchgearbeitetes enthalten, Verhältnisse verbergen und an den Tag legen, deren Wirkung unwiderstehlich ist."​
 
Ok, und da stellt sich mir die Frage: Hat Goethe Recht damit, dass die gotische Baukunst in Spanien und Italien germanica und tedesca hieß?
 
Da stellt sich mir die Frage, warum die Goten mit Deutschland in Verbindung gebracht werden.
Vermutlich deshalb, weil die germanischen Stämme allgemein als Vorläufer u. a. der Deutschen mit Deutschland in Verbindung gebracht wurden und die Goten von den germanischen Stämmen wohl abgesehen von den Franken den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen haben, auch wenn sie aus geographischen Gründen und als Ostgermanen wohl an der Ethnogenese der Deutschen kaum einen Anteil hatten.

Den Namen der Franken konnte man nicht nehmen, weil der bereits mit Frankreich assoziiert war.
 
Ok, und da stellt sich mir die Frage: Hat Goethe Recht damit, dass die gotische Baukunst in Spanien und Italien germanica und tedesca hieß?

Ich konnte in der spanische wiki das Wort "germanica" nicht finden: Arte gótico - Wikipedia, la enciclopedia libre . In der italienischen wiki steht jedoch sinngemäß, dass die Gotik in Venedig auch als deutsche Bauweise (alla tedesca) bekannt sei. Gotico - Wikipedia

Wenn man germanica (ohne Akzent) im Corpus Diacrónico eingibt (ich habe die Suche auf 1300 - 1830 eingegrenzt), erhält man sieben Stellen in 5 Dokumenten.
Nur in einem geht es um die Gotik.

Otros antepechos, no tan altos, y de distinta forma rodean tambien á las últimas naves, y desde ellas descienden otros arbotantes sobre las capillas, (igualmente coronadas con antepechos) que tienen el mismo oficio, efecto y figura que los anteriores, levantándose sobre unos y otros torres puntiagudas. De manera que este gran edificio, así en el todo, como en cada una de sus partes principales, conspira á terminar en punta, como carácter esencial de la arquitectura gótico-germanica.​

AÑO:​
1804​
AUTOR:​
Ceán Bermúdez, Juan Agustín​
TÍTULO:​
Descripción artística de la catedral de Sevilla​


Wenn man germánica (mit Akzent) eingibt, gibt es noch ein paar Treffer mehr (15 in 11 Dokumenten). Zwei der Stellen benutzen germánica für die gotische Architektur (wobei das eine ein Ergänzungsblatt von 1805 zu dem obigen Dokument ist), das zweite ist von 1829. Nach germanico/germánico und anderen Schreibweisen habe ich nicht gesucht.
 
1723014429835.png

[Buscar] (suchen) klicken; [limpiar] heißt 'reinigen' und löscht alle Eingaben im Formular.

1723014508781.png


34 Fälle in 31 Dokumenten. auf recuperar klicken (ich wähle bei Clasificación meist vorher noch Año aus, dann wird mir das nach Jahren sortiert gegeben), dann bekommt man die einzelnen Textstellen.
Hier finde ich aber nichts zum Thema Gotik (einmal El esplendor germánico, ya godo, aber das hat nichts mit der Gotik, sondern mit den Goten zu tun).
 
Da stellt sich mir die Frage, warum die Goten mit Deutschland in Verbindung gebracht werden.
Das hättest Du Goscinny & Uderzo fragen müssen...
:D
auch den Felix Dahn und andere Historiker/Literaten des 19.Jhs. könnte man dazu konsultieren (es war quasi Mode, alles "germanische" - ausgenommen die Angelsachsen jenseits des Kanals - als deutsch zu postulieren)
Aber davon abgesehen, frage ich mich, was die Relevanz von Goethes Meriten abseits seiner literarischen Produktion sein soll... trotz Wahlverwandtschaften war er kein Chemiker, trotz gotisch-deutsch Geschreibsel kein Kunsthistoriker und was seine Farbenlehre betrifft..... zu letzterer hüllte sich Physikprofessor Lichtenberg 1792 zu Göttingen in Schweigen ;)
 
Aber davon abgesehen, frage ich mich, was die Relevanz von Goethes Meriten abseits seiner literarischen Produktion sein soll... trotz Wahlverwandtschaften war er kein Chemiker, trotz gotisch-deutsch Geschreibsel kein Kunsthistoriker und was seine Farbenlehre betrifft..... zu letzterer hüllte sich Physikprofessor Lichtenberg 1792 zu Göttingen in Schweigen ;)
Dass Goethe die Gotik für einen spezifisch deutschen Stil hielt, ist auch deshalb interessant, weil er ja im Prinzip überhaupt nicht national oder patriotisch gesinnt war.
 
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