Hallo Dieter,
ich bin beileibe kein Experte für Metalitätsgeschichte, aber in der öffentlichen Meinung des 20.-21. Jh. hast du sicherlich Recht, dass die meisten Gemeinschaftsgefühle national geprägt sind. Und dieses wird meistens auch in die Vergangenheit projiziert, ob zu unrecht oder nicht, ist der heutigen Bevölkerung meist egal. Wir haben ja ständig in unserem Forum Leute, die auf der Suche nach Identifikation sind, historisch begründeter Legitimität, usw.
Aber wir als "Hobbyhistoriker" müssen uns da auf Quellen berufen. Nun haben aber leider Bauern in Griechenland, oder Fellachen in Ägypten kaum mal Quellen hinterlassen, damit man ihr Gefühl, ihr Selbstverständnis, ihre Loyalität, den Beweggrund ihres Gemeinschaftsgefühls, mit wem sie sich verbunden fühlten, usw. zu erfahren. Trotzdem können wir dieses vermuten, wenn man sich verschiedene Indizien, Verhaltensweisen, usw. anschaut.
Z.B. hat noch vor 250 Jahren die griechische Bevölkerung sich einen "Pups" drum geschert, was "ihre" glorreiche antike Vergangenheit betrifft, was man daraus schließen kann, dass z. B. die wunderbaren antiken Bauten, Skulpturen, usw. als billigen Baustoff ansahen, ja sie sogar in Kalkbrennern ohne weitere Gedanken an "ihre" Historie vernichteten.
Vieles, was wir heute als selbstverständlich erachten, ist dadurch entstanden, dass wir z.B. das 19. oder 20. Jahrhundert zurückprojizieren und denken, dass war damals auch so, oder schon immer so.
Im dem Zusammenhang kann ich nur diese Dissertation empfehlen, die verfolgt, wie die Identitäten sich im Verlauf der Identitätsfindung herausbildeten:
Modernismus und Europaidee in der Östlichen Mittelmeerwelt, 1821-1939.
http://www-brs.ub.ruhr-uni-bochum.de/netahtml/HSS/Diss/_Weiterleitung/Kreutz/diss.pdf
mit folgenden Kapiteln:
I. Ideen 7
1. Europa als Idee 7
2. Die Verbreitung der Europaidee 11
3. Renaissancen 16
II. Moderne 28
1. Kontakte 28
2. Gesellschaft und Wandel 36
3. Die Entstehung einer Öffentlichkeit 47
III. Wiedergeburt 52
1. Phönizier, Pharaonen und das Mittelmeer 54
2. Hellenen und Romäer 73
3. Juden und Hebräer 80
4. Ionien und Anatolien 86
5. Iran und Turan 88
IV. Sprachenfragen 94
1. Griechisch: Zwischen Homer und Koine 94
2. Arabisch: Zwischen Christen und Muslimen 103
3. Hebräisch: Rückkehr in die Zukunft 112
4. Türkisch: Eine neue Sprache für eine neue Nation 117
V. Zivilisation 120
1. Neo-Hellenismus und neue Epik 123
2. Freiheit und Fortschritt 158
3. Nationen und Nationalismen 171
Darin wird sehr schön deutlich, was alles erst unternommen werden musste, um die "Massen" überhaupt von der Idee des Nationalismus zu überzeugen. Dieses war nicht so selbstverständlich, wie heutige Leute vom Balkan bzw. Griechen gerne Glauben machen.
So gab es in der Geschichte des Osm. Reiches sicherlich noch bessere Momente zum Aufstand der Griechen, wo ein Eingreifen der Hohen Pforte noch schwerer gewesen wäre, aber alle Aufrufe zu Aufständen durch westeuropäische Kräfte wurde bis ins 18. Jh. hinein von den Christen nicht beachtet.
Obige Dissertation passt auch gut zu diesem Buch:
Sabine Riedel
Die Erfindung der Balkanvölker
Identitätspolitik zwischen Konflikt und Integration
2005.
hieraus:
http://www.geschichtsforum.de/f42/i...ooks-und-artikel-13930/index2.html#post319882
mit dem Fazit:
"Diese vergleichende Analyse von zehn Konfliktherden in Südosteuropa (u.a. Bosnien-Hercegovina, Kosovo, Republik Makedonien)
belegt, dass die beteiligten ethnischen Identitäten das Resultat unserer Moderne sind. Mit Hilfe der Methode der Dekonstruktion zeichnet das Buch deren Entstehungsgeschichte nach und diskutiert dabei die Konfliktdimension ethnischer Proporzsysteme. Dem gegenüber steht als Alternative die integrative Kraft des politischen Nationsmodells eines ethnisch neutralen Verfassungsstaats."
Wenn du mich fragst, wie sich ein Bauer auf dem Peloponnes fühlte, dann war sein Gefühl geprägt von seiner Scholle, seiner Sprache, seiner Religion, seinem Dorf. Ich glaube nicht, dass sein Horizont noch weiter ging. Die Antike war in seinem Selbstbild sicher nicht vorhanden. Die Kontinuität sah er sicher nicht, vielleicht wusste er nur was von byz. Kaisern in fernen Zeiten als obersten Hirten, aber wenn, dann vielleicht schon eher was vom obersten Patriarchen in einer glanzvollen Metropole fern seiner Heimat.
Ich muss erstmal Abendbrot essen, dann vielleicht mehr.
Mohltiet, LG lynxxx
Noch ein kleiner Nachtrag: Wenn man sich Berichte von Reisenden anschaut, zu jenen Zeiten, dann werden auch die Bruchlinien des "Fremden" und des "Eigenen" manchmal deutlich, in einer multiethnischen, multilingualen, multireligiösen Welt, nämlich vorrangig nicht an der Sprache, oder der Haarfarbe, etc. sondern an der Religion. Deshalb waren ja z.B. auch die osmanischen Türken so bestürzt, als die Araber ihren Nationalismus entdeckten, ihre Glaubensbrüder: "Auch du Brutus..."