Hat Wilhelm II. Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs?

Rurik schrieb:
Am 28. Juli 1914 stellte Falkenhayn nach einem Besuch bei Wilhelm fest: "Die Stimmung des Kaisers war völlig umgeschlagen. Er hielt wirre Reden, aus denen nur klar hervorging, dass er den Krieg jetzt nicht mehr will und entschlossen ist, um diesen Preis selbst Österreich sitzen zu lassen. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass er die Angelegenheiten nicht mehr in der Hand hat."

Das war zu dem Zeitpunkt, als Wilhelm volle Kenntnis von der serbischen Antwortnote erhalten hatte. Daraufhin erteilte er dem Auswärtigen Amt die bestimmte Direktive in Wien vorstellig zu werden, um dort seine Ansicht, nämlich das aufgrund der entgegenkommenden Antworteben kein Kriegsgrund mehr vorliege, kundzutun. Doch im AA hatte man eben ganz andere Pläne...........................
 
In diesem Thread geht es ja vor allem auch um die Schuld des Kaisers am Ausbruch des Kriegs. Und da muss man sicher sagen, dass nicht er die entscheidende Rolle spielte, sondern der Generalstab, der Kriegsminister, der Reichskanzler das Auswärtige Amt und andere in konzertierter Aktion. Die zentrale Figur in den Entscheidungsprozessen der deutschen Reichsführung ist Kaiser Wihelm sichr nicht gewesen. Sein Votum wurde von dort gesteuert und gelenkt.


Wilhelm II. hatte durchaus die Möglichkeit ganz entscheidend in das Räderwerk einzugreifen. Die Verkündung des Zustandes der "drohenden Kriegsgefahr", den er am 31.Juli 1914 unterzeichnete und die Mobilmachung vom 01.August wären ohne seine ausdrückliche Genehmigung nicht möglich gewesen!

Das geht aber mE viel zu weit, ohne gleich mit Mommsen diskutieren zu müssen "war der Kaiser an allem schuld?". Da er außenpolitisch die letzte Kompetenz darstellte, ist er auch für das wesentliche außenpolitische Treiben seiner Berufenen verantwortlich (ob er das nun überblickte oder nicht).

Mommsen hat in dem von dir genannten Werk auch nicht umfänglich genug recherchiert, denn er behauptete doch allen Ernstes das Wilhelm und Bethmann im Zuge der 2.Marrokokrise von Kiderlen überredetr werden musste. Nach Lektüre von Röhls monumentalen Werk wissen wir, das dem nicht so ist. Wilhelm und Bethman waren von Anfang an mit dieser Kamikazeaktion einverstanden.

Dieter schrieb:
Das mag so sein, doch hatten die Militärs gewaltige Vorarbeit geleistet.

Es war aber Wilhem II. gewesen, der den Militärs erst diese Möglichkeit überhaupt erst eingeräumt hat.
 
Vllt. einmal ein etwas abseitiger Ansatz, um die "Schuldfrage" zu diskutieren, und zwar einen entscheidungstheoretischen Ansatz.

Damit wären wir bei der Fragestellung, welche Entscheidungsalternativen hatte W. II., ohne ex post Betrachtung, in der Zeit von Ende Juni bis Ende Juli 1914?

Prämissen, W. II. hatte eine starke verfassungsrechtliche Stellung, insbesondere in der Außen- und Militärpolitik. Er war somit u.a. mitverantwortlich für die Ausgestaltung der Politik des DR seit 1888 und er war m.E. keine Marionette.

Bündnisfrage:

Gavrilo war österreichischer Staatsbürger, damit war das Attentat eine innerösterreichische Angelegenheit und wäre auf eine Anklageerhebung wegen Majestätsverbrechen (Hochverrat) hinaus gelaufen. Völkerrechtlich hätte das DR so argumentieren können und der Bündnisfall wäre nicht eingetreten. Wie wir wissen, stellte W. II. aber Franz Joseph einen "Blankoscheck" aus. Ob aus monarchischer Solidarität, Mitgefühl, ich weiß es nicht, aber aus entscheidungstheoretischer Sicht eine Einengung resp. Präjudizierung folgender Entscheidungen. Versagt haben hier, neben W. II., der Reichskanzler, das AA, der Große Generalstab und die Bundesfürsten, da der Handlungsspielraum auf der außenpolitischen Bühne eingeschränkt wurde, und zwar ohne Not.

Diplomatische bzw. außenpolitische Optionen hätte es viele gegeben, die den Handlungsspielraum nicht eingeschränkt hätten und ohne "Gesichtverlust" abgegangen wären.

Das österreichische Ultimatum war maßlos, auch das hätte für das DR einen Rückzugsweg offen gehalten.

Ab dann trat, wie w.o. und in der bekannten Literatur beschrieben, der sog. "Bündnisautomatismus" ein. Ab dann wäre ein Rückzug des DR nur mit einem "Gesichtsverlust" möglich gewesen. Die Entscheidungsfreihheit von W. II. war ab diesem Moment sehr stark eingeschränkt, ein "Nicky-Brief" hätte daran nichts geändert.

Damit war die seinerzeitige außenpolitische Konstellation klar.

Innenpolitisch hätte eine Unterschriftsverweigerung (z.B. Mobilmachung) von W. II. mit einer Abdankung einhergehen müssen.

Die "Schuld" W. II. bestand in der Julikrise m.E. darin, daß er ohne Not den Bündnisfall präjudizierte und sich dann in den "Bündnisautomatismus" einfügte, warum er das tat, dürfte kaum historisch aufklärbar sein.

Alle anderen Handlugsalternativen, w.z.B. eine konzertierte Aktion der deutschen Bundesfürsten, sind per se so absurd, daß sie nicht diskussionswürdig erscheinen.

M.
 
Melchior schrieb:
Die "Schuld" W. II. bestand in der Julikrise m.E. darin, daß er ohne Not den Bündnisfall präjudizierte und sich dann in den "Bündnisautomatismus" einfügte, warum er das tat, dürfte kaum historisch aufklärbar sein.

Da dürfte sicher ein gewisser Fatalismus im Spiel gewesen sein. Das Bekanntwerden der Flottengespräche zwischen Großbritannien und Russland hat das Vertrauen zu Londons schwer eschüttert und darüber hinaus die Wehrvorlage, die im Juni 1914 die Duma passierte, dürfte ihre Wirkung auch nicht verfehlt haben. Man kam immer mehr zu Schluss, das der KRieg unvermeidbar sei und dann sei dieser besser jetzt als später zu führen, denn jetzt hätte man noch eine Chance. Die Zukunft würde Russland gehören.
 
Vllt. einmal ein etwas abseitiger Ansatz, um die "Schuldfrage" zu diskutieren, und zwar einen entscheidungstheoretischen Ansatz.

Ein weiterer Ansatz als Ergänzung zum Vorschlag von Melchior. Der Schuldfrage wohnt m.E. die Tendenz inne, einzelne Personen zu glorifizieren oder zu stigmatiseren und damit der Geschichte ein "Gesicht" zu geben.

Aus meiner derzeitigen Sicht war KW2 ein wichtiger Akteur in dem Geflecht der Entscheidungen im Sommer 1914, aber er hat andere wichtige Meinungsbildner beeinflußt und wurde wiederum von diesen in seiner Sichtweis bestärkt oder einzelne Perspektiven abgeschwächt. In diesem Sinne kann es für 1914 nur eine Verantwortung für eine Gruppe von Personen geben, die die zentrale Machtelite um KW2 herum gebildet hat.

Zieht man Konzepte heran, die für die Analyse des Entscheidungsverhaltens im Rahmen des Kalten Krieges entwickelt wurden, dann ist die Sichtweise auf "Krieg und Frieden" das Ergebnis eines intensiven Beeinflussungsprozesses und bildet "Strategic Cultures" oder "Defence Cultures", wie bei Wendt in Anlehnung und Abgrenzung zur "realistischen Theorie" der internationalen Politik formuliert.

Social Theory of International Politics - Alexander Wendt - Google Books

Sofern man somit eine Schuld unter diesem Blickwinkel konstatieren möchte, verweist die Schuld auf die mangelhafte Breite und demokratische Legitimierung der Diskussion über die richtigen Schritte im Sommer 1914.

Autokratische Regime neigen deutlich stärker dazu, "geschlossene" "Defence Cultures" auszubilden, die das Spektrum der Alternativen nicht ausreichend bewerten und somit zu "suboptimalen" Entscheidungen kommen (wie beispeilsweise bei Stalin und Hitler ersichtlich). Eine Politik ist selten "alternativlos", sondern wird es durch "Übereinkunft" der Entscheider unter Gewichtung der subjektiv wahrgenommenen "Sachzwänge".

In diesem Sinne war KW2 "schuldig", die notwendigen Reformen des politischen Systems nicht vorgenommen zu haben. Es wäre m.E. mehr als fraglich gewesen, ob eine parlamentarische Monarchie in Berlin im Jahre 1914 mit der gleichen Konsequenz sich auf den WW1 zubewegt hätte.
 
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thanepower schrieb:
Es wäre m.E. mehr als fraglich gewesen, ob eine parlamentarische Monarchie in Berlin im Jahre 1914 mit der gleichen Konsequenz sich auf den WW1 zubewegt hätte.

Wohl eher nicht. Wilhelms Entscheidung für den Blankoscheck war ja eine , das ist eigentlich unfassbar, Augenblicksentscheidung, der keine vernünftige Beratung mit seinen engsten Beratern vohergegangen war. Wilhelm versäumte es zwar nicht den Botschafter Szögyény darüber zu informieren, das die Zustimmung des Reichskanzler noch einzuholen sei. Wilhelm meinte :" Er zweifle nicht im geringsten daran, daß er von Bethmann Hollweg vollkommen seiner Meinung zustimmen würde." (1) Der Kaiser hatte die Entscheidung des Kanzler ganz klar präjudiziert und Bethmann hat sich das anstandslos gefallen lassen.

(1) Meyer-Arndt, Die Julikrise 1914
 
Wohl eher nicht. Wilhelms Entscheidung für den Blankoscheck war ja eine , das ist eigentlich unfassbar, Augenblicksentscheidung, der keine vernünftige Beratung mit seinen engsten Beratern vohergegangen war. Wilhelm versäumte es zwar nicht den Botschafter Szögyény darüber zu informieren, das die Zustimmung des Reichskanzler noch einzuholen sei. Wilhelm meinte :" Er zweifle nicht im geringsten daran, daß er von Bethmann Hollweg vollkommen seiner Meinung zustimmen würde." (1) Der Kaiser hatte die Entscheidung des Kanzler ganz klar präjudiziert und Bethmann hat sich das anstandslos gefallen lassen.
(1) Meyer-Arndt, Die Julikrise 1914

Das sehe ich auch als den entscheidenden Punkt an. Wilhelm II. hat an der der Eskalation der Krise, die zwecks vorteilhafter außenpolitischer Friktionen aus Sicht des Deutschen Reiches betrieben wurde, entscheidend mitgewirkt.

Dass er in der Schlussphase Getriebener der recht homogen auftretenden Militärführung wurde (die politische Führung war auch deswegen beeinträchtigt, weil unterschiedliche Positionen vertreten wurden), ist auch durch seine persönliche Abwesenheit befördert worden.

Anders als beim Kriegsrat vom Dezember 1912, als Wilhelm II. eine Eskalation erwog und die Militärs zurückzuckten, hatte sich die Haltung der Militärs nun vor Hintergrund der Rüstungen und der Lageperspektive gedreht.
 
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