Vllt. einmal ein etwas abseitiger Ansatz, um die "Schuldfrage" zu diskutieren, und zwar einen entscheidungstheoretischen Ansatz.
Damit wären wir bei der Fragestellung, welche Entscheidungsalternativen hatte W. II., ohne ex post Betrachtung, in der Zeit von Ende Juni bis Ende Juli 1914?
Prämissen, W. II. hatte eine starke verfassungsrechtliche Stellung, insbesondere in der Außen- und Militärpolitik. Er war somit u.a. mitverantwortlich für die Ausgestaltung der Politik des DR seit 1888 und er war m.E. keine Marionette.
Bündnisfrage:
Gavrilo war österreichischer Staatsbürger, damit war das Attentat eine innerösterreichische Angelegenheit und wäre auf eine Anklageerhebung wegen Majestätsverbrechen (Hochverrat) hinaus gelaufen. Völkerrechtlich hätte das DR so argumentieren können und der Bündnisfall wäre nicht eingetreten. Wie wir wissen, stellte W. II. aber Franz Joseph einen "Blankoscheck" aus. Ob aus monarchischer Solidarität, Mitgefühl, ich weiß es nicht, aber aus entscheidungstheoretischer Sicht eine Einengung resp. Präjudizierung folgender Entscheidungen. Versagt haben hier, neben W. II., der Reichskanzler, das AA, der Große Generalstab und die Bundesfürsten, da der Handlungsspielraum auf der außenpolitischen Bühne eingeschränkt wurde, und zwar ohne Not.
Diplomatische bzw. außenpolitische Optionen hätte es viele gegeben, die den Handlungsspielraum nicht eingeschränkt hätten und ohne "Gesichtverlust" abgegangen wären.
Das österreichische Ultimatum war maßlos, auch das hätte für das DR einen Rückzugsweg offen gehalten.
Ab dann trat, wie w.o. und in der bekannten Literatur beschrieben, der sog. "Bündnisautomatismus" ein. Ab dann wäre ein Rückzug des DR nur mit einem "Gesichtsverlust" möglich gewesen. Die Entscheidungsfreihheit von W. II. war ab diesem Moment sehr stark eingeschränkt, ein "Nicky-Brief" hätte daran nichts geändert.
Damit war die seinerzeitige außenpolitische Konstellation klar.
Innenpolitisch hätte eine Unterschriftsverweigerung (z.B. Mobilmachung) von W. II. mit einer Abdankung einhergehen müssen.
Die "Schuld" W. II. bestand in der Julikrise m.E. darin, daß er ohne Not den Bündnisfall präjudizierte und sich dann in den "Bündnisautomatismus" einfügte, warum er das tat, dürfte kaum historisch aufklärbar sein.
Alle anderen Handlugsalternativen, w.z.B. eine konzertierte Aktion der deutschen Bundesfürsten, sind per se so absurd, daß sie nicht diskussionswürdig erscheinen.
M.