Historische Triftigkeit

Tabun68

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Hallo!

Ich beschäftige mich gerade mit der historischen Triftigkeit, komme aber nicht so ganz dahinter. Ich weiß, dass die historische Triftigkeit die Glaubhaftigkeit bzw. den Geltungsanspruch einer Geschichte bzw. Darstellung angibt. Dabei unterscheidet J. Rüsen einmal die empirische, normative und narrative Triftigkeit.

Empirisch triftig ist eine Erzählung, wenn die Fakten und Daten darin durch verschiedene Quellen belegbar sind.

Was bedeutet nun normative und narrative Triftigkeit?

Rüsen schreibt: "Geschichten werden mit dem Argument begründet, daß sie normativ triftig sind, d.h. daß die von ihnen präsentierte Vergangenheit eine Bedeutung für die zeitliche Orientierung der gegenwärtigen Lebenspraxis hat."

Damit kann ich leider nichts anfangen, bitte helft mir!
 
Rüsen - dessen Name wahrscheinlch jedem mal untergekommen ist, der in den letzten 35 Jahren Geschichte aufs Lehramt studiert hat - hat ja viel zu Geschichtsbewusstsein und -vermittlung gearbeitet. Das Wort triftig ist in gewissem Sinne polysem/mehrdeutig, ich würde es hier als "bedeutsam" fassen. Geschichte im Geschichtsunterricht ist ja kein Selbstzweck. Man studiert sie nicht um ihrer selbst Willen. Es geht auch nicht in erster Linie um eine "gute Allgemeinbildung" (die sollen die Schüler en passant auch bekommen). Methodisch sollen die Schüler gewisse Kompetenzen im Geschichtsunterricht erlernen. Die historischen Gegenstände (woraus wir unsere Themen zimmern) müssen eine Bedeutsamkeit/Triftigkeit für die Schüler/Gegenwart haben. Schreibt man ein historisches Lehrbuch oder bereitet man Unterricht vor, muss man im Grunde immer begründen können, warum man Thema x so aufbereitet, wie man es aufbereitet.
Warum etwa behandeln wir Ur- und Frühgeschichte im Unterricht der (meist) 6. Klasse?
Warum wählen wir für die Antike als wichtigstes Thema die attische Demokratie?
Warum sind diese Themen für den Schulunterricht triftig und andere nicht?
(natürlich spielt auch die quellenmäßige Überlieferung eine Rolle ;) )
 
Ich beschäftige mich gerade mit der historischen Triftigkeit, komme aber nicht so ganz dahinter.

Im Kern geht es um die "Objektivität" eines Narrativ. Das betrifft zum einen die neutrale und möglichst historisch immanente Rekonstruktion der Ereignisse. Also der Frage, "Wie" ein historischer Prozess abgelaufen ist.

Andererseits stellt sich die Frage nach den Ursachen bzw. einer Erklärung, wie ein historischer Prozess zu erklären sei. Und an diesem Punkt geht es um die Beurteilung, welcher Zusammenhang sich zwischen den Strukturen und den handelnden Akteuren - "Agent" - sich ergab ergab.

Ansonsten ist die Verwendung des Konstrukts der "Triftigkeit" im erkennnistheoretischen Kontext leicht antiquiert. Im Prinzip wird heute nach der "Wahrheitsfähigkeit" einer These oder Theorie gefragt und da kommen natürlich historische Quellen, archäologische Befunde oder andere empirisch belegbare Fakten ins Spiel.

Je dichter die Faktenlage ist, desto eher kann ein Narrativ, als These, als Theorie etc. als "wahr" angesehen werden. Und somit hat die Darstellung eine gewisse "Triftigkeit".

Ansatzweise hier diskutiert:
Das handelnde Individuum in der Geschichte
 
Zuletzt bearbeitet:
Ersteinmal danke für eure Antworten!
Ich möchte den Kontext noch einmal näher beschreiben, dann wird es sicher auch etwas zielführender.
Ich beschäftige mich derzeit mit "Geschichtscomics" im Kontext von Geschichtsunterricht. Ein Autor schrieb, dass die Qualität von "Geschichtscomics" anhand ihrer historischen Triftigkeit einzuschätzen sei, sprich ist der Comic historisch triftig, ist sein Potential für historisches Lernen im Geschichtsunterricht (Sachkompetenz) höher, als bei Comics, welche einen hohen fiktiven Anteil haben.
Dabei wird jedoch zwischen sogenannten Geschichts-Sachcomics und Geschichts-Romancomics unterschieden (Vgl. Mounajed 2011).
Geschichts-Sachcomics zeichnen sich dadurch aus, dass der Künstler die Absicht hatte ein historisch triftigen Comic zu"produzieren", dadurch haben sie einen geringen fiktiven Anteil und erfüllen alle 3 Triftigkeitskriterien (empirisch, normativ, narrativ), d.h. sie sind mit historiographischen Darstellungen vergleichbar.
Geschichts-Romancomics hingegen sind für Unterhaltungszwecke produziert und sind daher eine Mischung aus Fakten und Fiktion, erzählen aber dennoch triftig ohne das die Darstellung von Geschichte kontrafaktisch wird (was für mich bedeutet, dass sie narrativ triftig sind vllt. auch normativ??? aber eben nicht empirisch... so ganz erschließt es sich mir nicht).

Deshalb ist es für mich wichtig die 3 Triftigkeitskriterien abgrenzen zu können.
 
Zu meinem Erstaunen entdecke ich gerade einen Wikipedia-Artikel zum Thema: Historische Triftigkeit – Wikipedia
Ich fand ihn eigentlich ganz erhellend geschrieben.

Tatsächlich ist der Wikipedia Artikel besser (verständlicher) als andere Artikel die ich bereits gelesen habe.
Verstehe ich es also richtig, dass eine Erzählung dann normativ triftig ist, wenn die Interpretation von Fakten, sprich deren Deutung, den derzeit gesellschaftlichen Normen entsprechen. Das aus den empirisch belegten Fakten quasi die "richtigen" Schlüsse gezogen werden.
Und eine narrativ triftige Erzählung verknüpft dann sozusagen empirische Fakten und deren Deutung zu einer sinnvoll strukturierten Erzählung?
Liege ich da richtig?
Irgendwie erinnert mich das ein bisschen an das Schema den Dreischritt historischen Lernens: Sachanalyse, Sachurteil, Werturteil... gibt es da eine Parallele?
 
Verstehe ich es also richtig, dass eine Erzählung dann normativ triftig ist, wenn die Interpretation von Fakten, sprich deren Deutung, den derzeit gesellschaftlichen Normen entsprechen. Das aus den empirisch belegten Fakten quasi die "richtigen" Schlüsse gezogen werden.
"Richtig" oder "falsch" sind hier eigentlich eine Kategorien. Es geht darum, ob die historische Erzählung einen Bezug zur Lebenswirklichkeit der heutigen Gesellschaft hat. Ob es gesellschaftlich bedeutsam ist.

Z.B. ist zwar sehr interessant, dass die alten Ägyptern im Tempel von Kom Ombo immer ein lebendiges Krokodil gefangen hielten, welches sie paradoxerweise als Gott verehrten. Aber außer der Tatsache, dass das interessant ist, ist das für uns heute nicht bedeutsam (Widerlegungen dieser Einschätzung sind immer willkommen!). Bedeutsamer für uns ist, dass die Ägypter mit die ersten waren, die Zahlen und Schrift entwickelten, um ein hierarchisches Staatswesen in einer gleichzeitig prekären wie auch favorisierten Lage aufrecht zu erhalten.

Und eine narrativ triftige Erzählung verknüpft dann sozusagen empirische Fakten und deren Deutung zu einer sinnvoll strukturierten Erzählung?
Nicht die Deutung, sondern die Relevanz.

Irgendwie erinnert mich das ein bisschen an das Schema den Dreischritt historischen Lernens: Sachanalyse, Sachurteil, Werturteil... gibt es da eine Parallele?
Im Prinzip deckt die Triftigkeit nur die Sachanalyse des Lehrers ab. Noch nichtv die der Schüler im Unterricht. Und die müssen das intersubjektive Sachurteil und das zwischen Intersubjektivität und Subjektivität liegende Werturteil fällen.
Als Lehrer musst du begründen, warum du ein Thema in welcher Sozialform zum Unterrichtsgegenstand machst. Du musst bei Schule immer bedenken: Wir haben Schulpflicht in Dtld. Somit ist Schule eine Zwangsveranstaltung. Der Staat - und somit der Lehrer als sein Vertreter - hat somit die Pflicht gegenüber seinen Schutzbefohlenen, dafür zu sorgen, dass die Schulzeit keine verschwendete Zeit ist. Ergo muss alles, was der Lehrer den Schülern präsentiert, relevant sein und der Lehrer muss begründen können, warum das relevant ist.
 
Deine Erklärung hilft mir sehr!
Zur narrativen Triftigkeit steht im Artikel: "Im Gegensatz zu der empirischen und normativen Triftigkeit ist das Kriterium der narrativen Triftigkeit auf die Sinnbildungsleistung bezogen, welche durch das historische Erzählen geleistet wird". Was ist diese Sinnbildungsleistung?
 
So kann man auch "diskutieren". Das, was einem nicht passt, wird einfach ausgeblendet. Der Verweis auf FN 2 in dem Wiki-Beitrag mit weiteren Verweisen auf Kuhlmann und Gadamer (S. 191 ff), ok auch geschenkt. Die Kritik von Gerber an Rüsen, S.217ff), auch egal. Allerdings hat das wenig mit einer halbwegs aktuellen Diskussion über die Methaphysik der Geschichte zu tun. Da sollte man schon triftige Gründe haben für ein derartiges Vorgehen.
 
Die Kritik an Rüsen und die Entwicklung der weiteren Diskussion. Man kann nicht so tun, als wenn es keine weiteren Aspekte geben würde.

Den Rest habe ich erklärt.
 
Die Kritik an Rüsen und die Entwicklung der weiteren Diskussion. Man kann nicht so tun, als wenn es keine weiteren Aspekte geben würde.

Den Rest habe ich erklärt.
Verstehe, danke für die Hinweise. Für meinen Zweck sollte es reichen die 3 Kriterien historischer Triftigkeit zu verstehen und voneinander abgrenzen zu können, da verschiedene Autoren, diese als "Qualitätsmerkmal" für Geschichtscomics heranziehen.
 
Verstehe, danke für die Hinweise. Für meinen Zweck sollte es reichen die 3 Kriterien historischer Triftigkeit zu verstehen und voneinander abgrenzen zu können, da verschiedene Autoren, diese als "Qualitätsmerkmal" für Geschichtscomics heranziehen.

Was "verschiedene" Autoren dazu zu sagen haben, ist ja ganz interessant. Welche denn? Sofern man allerdings mit einem nicht mehr aktuellem Verständnis der Aufbereitung von "Geschichte" arbeitet, kann man nur Maßstäbe für Qualität mißachten. Es gibt keine eigenständigen "Kriterien" für "Geschichts-Comics", die nicht das allgemeine methodische Verständnis hinsichtlich des "Wahrheitsanspruchs" von Geschichtsschreibung angemessen berücksichtigen.

Und es spricht m.E. auch nicht für Dein Methodenverständnis, dass Du nicht in alternativen Erklärungsmustern oder neueren Ansätzen denken kannst oder willst. Der Hinweis auf Gerber war offensichtlich nicht verstanden worden. Unabhängig davon ist es mir doch ziemlich egal, welches Methodenverständnis Du hast.

@hatl. Via eingestelltem Link wurde auf diese Teildisziplin hingewiesen. Zumal der "Interpret" von Geschichte via Quellen ein Verständnis des Kontext gewinnen muss, um immanent die Lebenswelt des "Autors" zu rekonstruieren. Das Zusammenfügen der einzelnen rekonstruktionsfähigen Teile von Geschichte ist dabei ein Akte der Interpretation und bedarf einer kritischen Betrachtung.

"Der Interpret kann den Bedeutungsgehalt des Textes nicht verstehen, solange er nicht in der Lage ist, sich die Gründe, die der Autor unter geeigneten Umständen hätte anführen können, zu vergegenwärtigen. Und weil die Triftigkeit von Gründen nicht mit dem Für triftig halten von Gründen identisch ist, kann sich der Interpret Gründe auch gar nicht vergegenwärtigen, ohne sie zu beurteilen....."(FN2, S. 191) Gesagt werden soll, dass der Interpret einen Text /Autor so interpretiert, dass es eine "vernünftige" Äußerung darstellt. Und somit ergibt sich aus der Interpretation eine "Wahrheit" zwischen dem historisch gemeinten und dem Interpretierten und erschließt so die intersubjektiv schwer nachvollziehbare Vergangenheit.

Ob und in welchem Umfang eine "Bedeutsamkeit" vorliegt, erschließt sich nicht aus der heutigen Sicht, sondern im wesentlichen aus der Rekonstruktion, wobei sich der "Interpret" sich seines eigenen lebensweltlichen Interpretationsrahmen bewußt sein sollte. Das wird u.a. deutlich bei der Aufbereitung von "Alltagsgeschichte", bei der die Relevanz aus der subjektiven Bedeutung für die historischen Subjekte gewonnen wird.

Also eher das Gegenteil zu dem, was "Tabun68" schreibt:
Verstehe ich es also richtig, dass eine Erzählung dann normativ triftig ist, wenn die Interpretation von Fakten, sprich deren Deutung, den derzeit gesellschaftlichen Normen entsprechen. Das aus den empirisch belegten Fakten quasi die "richtigen" Schlüsse gezogen werden.
 
Was "verschiedene" Autoren dazu zu sagen haben, ist ja ganz interessant. Welche denn?
Hier ist ein Beitrag von Munier dazu. Auch aus seinen Beispielen werde ich nicht ganz schlau.
https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=tra-001:2004:2::195

"Und es spricht m.E. auch nicht für Dein Methodenverständnis, dass Du nicht in alternativen Erklärungsmustern oder neueren Ansätzen denken kannst oder willst. Der Hinweis auf Gerber war offensichtlich nicht verstanden worden. Unabhängig davon ist es mir doch ziemlich egal, welches Methodenverständnis Du hast."

Ja, mein Methodenverständnis scheint stark verbesserungswürdig. Bevor ich mich aber alternativen Erklärungsmustern oder neuere Ansätzen widme, war es für mich zunächst einmal Rüsens Ansatz der historischen Triftigkeit verstanden zu haben, den ich leider immer noch nicht ganz verstanden habe :(.
 
Bevor ich mich aber alternativen Erklärungsmustern oder neuere Ansätzen widme, war es für mich zunächst einmal Rüsens Ansatz der historischen Triftigkeit verstanden zu haben, den ich leider immer noch nicht ganz verstanden habe :(.
Mach dir nichts draus. Ich bin ein Fan präziser wissenschaftlicher Sprache, schon weil Wissenschaftssprache versucht Beliebigkeit nicht zuzulassen. Witzigerweise sind es aber gerade Didaktiker und Erziehungswissenschaftler die sich häufig unnötig unverständlich ausdrücken. Ich habe im Studium gelernt, dass wissenschaftliche Sprache präzise sein soll, aber eben auch verständlich. Also bei aller Komplexität eines Themas nicht willentlich Verständnishürden einbaut. Das gelingt insbesondere denen, die sich am meisten Gedanken um Vermittlung machen, nicht. Dass die Texte dabei häufig noch abstrakt und nicht konkret sind, hilft dann auch nicht gerade beim Verständnis.
 
Vielleicht eine etwas dumme Frage, aber müssen alle drei Kriterien erfüllt sein um im Unterricht begründet behandelt zu werden oder reicht eine ?
Ich dachte immer es müssten alle erfüllt sein. Wäre über eine Rückmeldung sehr dankbar
 
Einmal am Beispiel der Verfassung 1848:

empirisch triftig: da es durch Quellen belegt ist
Normativ triftig: da es für unsere heutige Gesellschaft noch relevant ist, da unsere heutigen Grundgesetzte Ähnlichkeiten besitzen
Narrativ triftig: ?
 
empirisch triftig: da es durch Quellen belegt ist
Das trifft es noch nicht ganz. Z.B. wäre durch Quellen belegt, dass der niederrheinische Ritter auf seiner Fahrt ins Heilige Land in Ägypten nach Süden abgebogen ist und dort allerlei Fabelwesen begegnet ist. Triftig ist das aber nicht. Dass er in Kairo zwei Deutsche in Diensten des Sultans traf, ist aber durchaus triftig. Es geht auch um die Plausibilität dessen, was in den Quellen belegt ist. Bei normativen Texten (Verfassungen, Gesetze) treffen wir natürlich nicht auf unglaubwürdige Dinge (allenfalls auf schlecht ausgearbeitete Artikel und Paragraphen, aber auch die sind triftig).

Normativ triftig: da es für unsere heutige Gesellschaft noch relevant ist, da unsere heutigen Grundgesetzte Ähnlichkeiten besitzen
Es gibt nur das Grundgesetz, nicht die Grundgesetze. Aber normativ triftig sind historische Verfassungen nicht, weil das Grundgesetz ihnen ähnlich ist, sondern weil die Regelungsbereiche ähnlich sind, weil die Probleme der Verfassungsgeber ähnlich sind: Wie werden Staat und Herrschaft organisiert? Wie Gewalten geteilt?
Auch ungeschriebene absolut-monarchstische Verfassungen (Königtum von Gottes Gnaden) sind durchaus triftig für uns heute, denn sie vermitteln den Wert der Gewaltenteilung als Instrument gegen die Willkür weniger.

Narrativ triftig: ?
Wenn ich das richtig vestanden habe, bedeutet narrative Triftigkeit die Kompetenz des "Erzählers" (also im Schulunterricht des de- und rekonstruierenden Schülers), einen historischen Sachverhalt narrativ als bedeutsam für seine Gegenwart einzuordnen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob Rüsen hier nicht mit der Meistererzählung in Konflikt gerät.
 
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