Historischer Aussagewert von Dissertationen

excideuil

unvergessen
Mein kürzlicher Ehrentag brachte mir die Erfüllung eines länger gehegten Bücherwunsches:

Bernstein, Amir D.: Von der Balance of Power zur Hegemonie – Ein Beitrag zur europäischen Diplomatiegeschichte zwischen Austerlitz und Jena/Auerstedt, Duncker & Humblot, Berlin, 2006
(Die Philosophische Fakultät I der Humboldt Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2005 als Dissertation angenommen)

An sich ist das Buch trotz des hohen Preises sehr gut, bringt es mich doch weiter bei der Gewinnung weiterer Erkenntnisse zur Politik Talleyrands in diesen Jahren.

Dann bin ich auf diese Stelle gestoßen:

"Auch der sächsische Kurfürst versagte schließlich den versprochenen Beistand. [350] Zwar machte er schon in der zweiten Septemberwoche 25 Bataillone (22000 Mann) mobil, [351] aber er schob deren Einsatz im Kampf stets auf und beschränkte sich auf eine Bewachung des eigenen Territoriums. [352] Erst als Preußen am 3. Oktober Dresden erneut um militärische Unterstützung ersuchte und hierzu auch Vorteile im Frieden in Aussicht stellte, [353] kam man in Kursachsen in Bewegung. Am 10. Oktober erklärte Minister Loß, dass das casus foederis gemäß dem alten Erbverbrüderungsvertrag (1614) eingetreten sei. [354] Folglich stellte Kursachsen der preußischen Armee 20000 Mann zur Verfügung, um gemeinsam Norddeutschland zu verteidigen. Zur tatsächlichen Mitwirkung der kursächsischen Streitkräfte kam es allerdings infolge der preußischen Niederlage nicht. [355] In dem Moment, da die Kriegsgefahr konkreter wurde, versagte Kursachsen Preußen seine Unterstützung. Der kursächsische Kriegsrat beschloss am 17. Oktober, also unmittelbar nach dem Eingang der Nachricht über die preußische Niederlage, [356] sich von Preußen zu trennen und für neutral zu erklären. [357] Nach kurhessischem Vorbild ließ jetzt Friedrich August III. entlang seiner Grenze Neutraltätstafeln - 30 cm hoch, 40 cm breit - mit der Inschrift: "Territoire de la Saxe Electorale. Pays neutre" platzieren. [358]" (Seiten 216-217)

Ich erspare mir die Zitierung der auf im Text verwiesenen zahlreichen Erläuterungen.
Ich will dem Autor auch keine Absicht unterstellen. Tatsache bleibt aber, dass er trotz vieler Quellen die Geschichte "umgeschrieben" hat, denn die Teilnahme sächsischer Truppen bei Jena unter Hohenlohe ist Tatsache. Auch zu dem zweiten von mir hervorgehobenen Satz gibt es eine andere Version:

"Nach der Schlacht von Jena erklärte Napoleon vor gefangenen sächsischen Offizieren, er wisse wohl, dass sie nur gezwungen gegen ihn gekämpft hätten. Sie wurden auf Ehrenwort entlassen. Der französische Marschall Berthier ließ am 17. Oktober an den Grenzen des Kurfürstentums Sachsen Schilder mit der Aufschrift "Territoire de Saxe, Pays neutre" anbringen, um das Land vor Übergriffen französischer Streitkräfte zu schützen." [1]

Gut, das mit den Schildern mag als Detail durchgehen, aber wenn man nur 2 Jahre näher untersucht, dann sollte doch schon bekannt sein, wer da wann gegen wen Krieg geführt hat. Oder?


Werden Dissertationen vor der Veröffentlichung denn nicht auf Fehler geprüft? Anders gefragt, liegt der Schwerpunkt einer Prüfung - wenn sie denn statt findet - nur auf dem eigentlichen Thema und die randberührten Themen finden in der Beurteilung/Prüfung nicht statt?

Und noch eine Frage:
Mir ist aufgefallen, dass neue und neuere Werke immer intensiver auf Werken anderer Autoren aufbauen. Besteht da nicht die Gefahr, dass die Geschichte so nach und nach - und das betrifft nicht nur Dissertationen - "umgeschrieben" wird?

Grüße
excideuil

[1] Blaschke, Karl Heinz: Sachsens Erhebung zum Königreich 1806, in
Martin, Guntram; Vötsch, Jochen; Wiegand, Peter (Hrsg.): Geschichte Sachsens im Zeitalter Napoleons – Vom Kurfürstentum zum Königreich 1791 – 1815, Sächs. LZ für pol. Bildung, Beucha, Dresden, 2008, Seite 21
 
Mit der Promotion in Geschichtswissenschaften kenne ich mich nicht im Detail aus, daher eine allgemeine Bemerkung:

Dissertationen werden mindestens von 2 Gutachtern ("Doktorvater" und Zweitkorrektor), zuweilen von 3 Gutachtern beurteilt. Die Betreuung des Doktoranden während dieser Zeit ist wohl eine individuell sehr unterschiedliche Angelegenheit.

Detailfehler - das gilt auch für andere Fachbereiche - sind da nie bzgl. der Erkennung ausgeschlossen. Das hängt stark von der Kompetenz der Beurteilenden ab, und da stellt sich wieder die Frage, wie tief die im Thema stecken. Wenn also der Fehler beim Doktoranden passiert, der sich intensiv in Quellen- und Literaturlage eingearbeitet haben sollte, ist die nachfolgende Entdeckung zuweilen wenig wahrscheinlich.

Shit happens - wenn Bernstein Deinen Beitrag hier liest, wird er sich vermutlich ziemlich ärgern.

P.S. das "Umschreiben" ist natürlich eine gewisse Gefahr. Sarkastisch könnte man auch sagen, dass inzwischen die Angst vor Plagiaten vorherrscht und größere zeitliche Aktivitäten bewirkt, als bzgl. solcher Details in der Sache.:D
 
Werden Dissertationen vor der Veröffentlichung denn nicht auf Fehler geprüft?

"Er hat sich stets im Rahmen seiner Fähigkeiten bemüht..." :pfeif:

Sicher werden Sie geprüft, aber wie Silesia völlig richtig festgestellt hat, hängt auch die Qualität der Prüfung von der Kompetenz der Prüfer ab.

Buchtexte - oder Dissertationen - sollten nie als absolute Wahrheit, ohne jede Zweifel betrachtet werden. Das wissen wir doch eigentlich alle schon. Selbst wenn mit Primärquellen "bewiesen" wird, kann man durch die richtige Auswahl die Geschichte so oder so verdrehen. Wenn da ein Dr-Titel vor dem Autor steht, ist das kein Qualitätssiegel.

Ich habe es nicht nur einmal erlebt, daß in Details das Fachwissen bei Hobbyforschern oder "Fachwühlern" größer ist, als bei professionellen Historikern.
 
Zuletzt bearbeitet:
Zu meiner Zeit wurden die Arbeiten zwar geprüft, aber
1. auch die Prüfer haben nicht ewig Zeit und Lust, und manchmal nicht das Wissen
2. die erkannten "Fehler" werden auch veröffentlicht, wenn es keine groben Schnitzer sind. Sonst wären ja alle Arbeiten " cum laude"
 
Buchtexte - oder Dissertationen - sollten nie als absolute Wahrheit, ohne jede Zweifel betrachtet werden. Das wissen wir doch eigentlich alle schon. Selbst wenn mit Primärquellen "bewiesen" wird, kann man durch die richtige Auswahl die Geschichte so oder so verdrehen. Wenn da ein Dr-Titel vor dem Autor steht, ist das kein Qualitätssiegel.

Der breite Diskurs setzt ggf. mit der Publikation ein. :winke:

Da sollte man, wenn man sich zu einem Thema etwas breiter einliest, den Stand der Meinungsbildung erschließen können, Argumentationen bewerten oder die Abbildung der Ereignisse beurteilen können.

Eine einzelne Publikation steht ja nicht im luftleeren Raum.
 
...

Gut, das mit den Schildern mag als Detail durchgehen, aber wenn man nur 2 Jahre näher untersucht, dann sollte doch schon bekannt sein, wer da wann gegen wen Krieg geführt hat. Oder?

Werden Dissertationen vor der Veröffentlichung denn nicht auf Fehler geprüft? Anders gefragt, liegt der Schwerpunkt einer Prüfung - wenn sie denn statt findet - nur auf dem eigentlichen Thema und die randberührten Themen finden in der Beurteilung/Prüfung nicht statt?

Und noch eine Frage:
Mir ist aufgefallen, dass neue und neuere Werke immer intensiver auf Werken anderer Autoren aufbauen. Besteht da nicht die Gefahr, dass die Geschichte so nach und nach - und das betrifft nicht nur Dissertationen - "umgeschrieben" wird?...

@exci

Ich erlaube mir so zu beginnen, Geschichte ist keine exakte Wissenschaft.

Bleiben wir bei Deinem Beispiel und ich spiele den Advocatus Diaboli. Kursachsen ist an der Seite Preußens in den Krieg gezogen, in der Literatur unbestritten.

Das mit den "Neutralitätsschildern" ginge als Kriegslist und Detail durch.

Der Aspirant steigt im sächsischen Staatsarchiv tief in die Primärquellen ein und findet dort einen Mobilmachungsbefehl für die kursächsische Armee, soweit so gut. Was er dort nicht finden kann, ist eine eventuell mündliche Kommentierung dieses Mobilmachungsbefehls durch den Kurfürsten z.B.: "Wir machen mobil, aber machen sie langsam, wir forcieren nichts". 1806 hat man über so eine Bemerkung keine Aktennotizen verfaßt, 100 Jahre später wahrscheinlich schon. Unser Aspirant ist clever und sucht Marschbefehle, findet er aber nicht. Der clevere Aspirant sucht nun im Finanzdepartment nach Fourage-Rechnungen, Finanzen bringen vieles an den Tag, aber auch dort nichts, die Rechnungslegung war 1806 so richtig en detail nicht gesetzlich geregelt. Dann ergäbe sich die Fragestellung, gibt es im Archiv "Ordres de bataille", die findet er auch nicht, ist zu erwarten, weil 1806 solche i.d.R. auch nicht schriftlich fixiert wurden. Gefallenenlisten, wahrscheinlich für 1806, auch Fehlanzeige.

Der clevere Aspirant erhält nunmehr ein Forschungsstipendium für Frankreich und sucht in französischen Militärarchiven nach Gefechtsberichten aus strategischer, operativer und möglichst taktischer Sicht aus 1806 zwischen sächsischen und französischen Truppen, wahrscheinlich auch Fehlanzeige, den französischen Offizieren war es 1806 wahrscheinlich ziemlich egal, ob sie gegen preußische oder sächsische Truppen kämpften.

Der clevere Aspirant geht nunmehr in das Bundesarchiv und erfährt dort, daß infolge von Kriegseinwirkugen viele Unterlagen des Militärarchives vernichtet sind, auch Fehlanzeige.

Also Feldforschung, gibt es Denkmäler an den Krieg 1806, Fehlanzeige, das Kfstm. Sachsen bzw. das Kgr. Sachsen hatte ein paar Legitimationsprobleme mit 1806 und 1813.

Ergo, seine These, Sachsen hat mobilisiert und ist an der Seite Preußens in den Krieg eingetreten. In der Literatur ist das beschrieben, in den Primärquellen fand ich dafür nur marginale Hinweise, daß tatsächlich Sachsen aktiv militärisch an diesem Krieg beteiligt war.

Diese These würde im universitären Bereich durchgehen, da

1. der "Doktorvater" sich zum Aspiranten commitet hat,
2. Literaturbelegstellen nicht mehr ausreichen würden, um die These anzugreifen

M. :winke:
 
Zuletzt bearbeitet:
Und noch eine Frage:
Mir ist aufgefallen, dass neue und neuere Werke immer intensiver auf Werken anderer Autoren aufbauen. Besteht da nicht die Gefahr, dass die Geschichte so nach und nach - und das betrifft nicht nur Dissertationen - "umgeschrieben" wird?

Dieses Phänomen gibt es meiner Ansicht schon lange. Auch schreiben sich die Autoren gegenseitig ab, immer schön mit Nachweis, dennoch werden da Fehler einfach so weitergegeben.

Geschichte ist, das hat ja Melchior geschrieben, keine exakte Wissenschaft und heute werden die Junghistoriker dazu aufgefordert Ad Fontes zu gehen. So kann es natürlich sein, das sich ein Ereignis auf einmal anders Darstellt als das wir es evt. mal gelernt haben. Dein spezieller Fall kann ich jetzt nicht beurteilen, da müsste ich mich wirklich erst einlesen. Ich weiss aber da aus Beispielen aus der Schweizer Geschichte die im Moment wirklich umgeschrieben wird. Das hat damit zu tun, dass man eben die Quellen wieder genauer anschaut und die ältere Forschung hinterfragt.
 
Eine Frage ist auch, wie weit sich der Doktorand nach der Prüfung die Mühe macht, die Dissertation zu überarbeiten. In der Regel ist ja nicht die Arbeit, die veröffentlicht wird, auch die, die von den GUtachtern geprüft wurde, sondern die veröffentlichte ist eine Neufassung, weshalb bei vielen Leuten die Veröffentlichung sich auch noch einige Zeit hinziehen kann.
Daneben ist es auch einfach so, daß eine Doktorarbeit eigentlich ein Desiderat bearbeiten sollte, ein Feld, auf dem bisher noch nicht viel geforscht wurde. Deshalb ist der junge Doktor nach einiger Zeit ein Experte, dem kein anderer, auch nicht der Doktorvater, das Wasser reichen kann, denn wenn er das könnte, müßte er ja auf veröffentlichten Überlegungen aufbauen, und dann wäre die Doktorarbeit kein Desiderat mehr.
Es mag sein, daß in der Neueren Geschichte die Lücken enger sind als bei uns in der Altertumsforschung, weshalb sich da auch manches wiederholen dürfte. Leider ist das Phänomen des Abschreibens nicht zu umgehen, und stellt meiner Meinung nach noch ein methodisches Vakuum dar, was im Studium viel mehr vermittelt werden sollte. Je mehr LIteratur der Wissenschaftsbetrieb ausstößt, desto mehr muß man sich vorher durch Unmassen an Literatur arbeiten, und ich fürchte, in fünfzig Jahren kann man nicht mehr so arbeiten wie wir heute, denn dann bräuchte man für jedes Thema Jahre an Vorarbeit. Und dabei passiert es dann auch immer wieder, daß man es nicht mehr schafft, jeden Punkt in der Sekundärliteratur zu überprüfen und nachzuvollziehen, das heißt, Irrtümer werden übernommen und weiten sich im Lauf der Zeit zu kapitalen Fehlern aus. Das Phänomen gibt es aber auch schon lange.
 
Vielen Dank für Eure Beiträge!

Wenn ich es richtig verstanden habe, ergibt sich daraus folgendes:

Eine Dissertation wird durch einen sehr überschaubaren Personenkreis geprüft. Mögliche historische Fehler werden dennoch mit veröffentlicht.

Das Ergebnis/die These einer Recherche unterliegt nur der Prüfung unter Berücksichtigung der dem Aspiranten vorliegenden Quellen. Dies bedeutet, dass wenn die Primärquellen - und im vorliegenden Fall sind sehr viele Primärquellen verwendet worden - nur ein wie vorliegendes Ergebnis zulassen, dann geht dies Ergebnis - im Rahmen der Dissertation - in Ordnung, weil dieses Ergebnis aus der Quellenlage heraus nicht anzugreifen ist und dies auch, wenn dies historisch dennoch nicht korrekt ist, sprich der Aspirant konnte gar nicht zu einem anderen Ergebnis kommen, ohne mit der "Historie" zu spekulieren.

Liege ich damit richtig?

Grüße
excideuil
 
Daneben ist es auch einfach so, daß eine Doktorarbeit eigentlich ein Desiderat bearbeiten sollte, ein Feld, auf dem bisher noch nicht viel geforscht wurde. Deshalb ist der junge Doktor nach einiger Zeit ein Experte, dem kein anderer, auch nicht der Doktorvater, das Wasser reichen kann, denn wenn er das könnte, müßte er ja auf veröffentlichten Überlegungen aufbauen, und dann wäre die Doktorarbeit kein Desiderat mehr.

Wichtiger Aspekt. Wenn dies zutrifft, erklärt es natürlich viel. Aber ist das tatsächlich noch so? Nach Gesprächen mit diversen Studenten verschiedener Studienfächer, habe ich den Eindruck bekommen, daß das "Wunschdenken" ist.
 
Vielen Dank für Eure Beiträge!

Wenn ich es richtig verstanden habe, ergibt sich daraus folgendes:

Eine Dissertation wird durch einen sehr überschaubaren Personenkreis geprüft. Mögliche historische Fehler werden dennoch mit veröffentlicht.

Das Ergebnis/die These einer Recherche unterliegt nur der Prüfung unter Berücksichtigung der dem Aspiranten vorliegenden Quellen. Dies bedeutet, dass wenn die Primärquellen - und im vorliegenden Fall sind sehr viele Primärquellen verwendet worden - nur ein wie vorliegendes Ergebnis zulassen, dann geht dies Ergebnis - im Rahmen der Dissertation - in Ordnung, weil dieses Ergebnis aus der Quellenlage heraus nicht anzugreifen ist und dies auch, wenn dies historisch dennoch nicht korrekt ist, sprich der Aspirant konnte gar nicht zu einem anderen Ergebnis kommen, ohne mit der "Historie" zu spekulieren.

Liege ich damit richtig?

Grüße
excideuil

Eigentlich sollte Amir Bernstein trotz der Anmerkungen meiner Vorredner nicht zu einem solch eklatanten Widerspruch zur sonstigen Forschung gekommen sein - er müsste zumindest darauf hinweisen und so müsste man ihm vorwerfen, vielleicht nur die archivalischen Quellen, nicht aber die historiographischen Quellen oder Zeitungen, die zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht täglich erschienen, berücksichtigt zu haben. Er müsste zumindest seinen Widerspruch zum vorherigen Forschungsstand in irgendeiner Form kenntlich machen, ja eigentlich diskutieren und auf die Quellen, die ein Teilnehmen der Sachsen bei Jena belegen auch rekurrieren.
Insofern ist verwunderlich, dass er das nicht macht (wenn er es nicht macht).

Wichtiger Aspekt. Wenn dies zutrifft, erklärt es natürlich viel. Aber ist das tatsächlich noch so? Nach Gesprächen mit diversen Studenten verschiedener Studienfächer, habe ich den Eindruck bekommen, daß das "Wunschdenken" ist.

Dass ein historisches Feld noch nicht beackert ist, kommt immer mal wieder vor, man muss nur draufkommen. Das ist es, was Schwierigkeiten macht.
Aber auch ein auf den ersten Blick schon absolut beackertes Feld - etwa eine bis zum Erbrechen diskutierte Quelle - kann durchaus noch Möglichkeiten bieten. Die historische Quelle wird ja von der Fragestellung ausgemacht und bei neuen Forschungsansätzen kommen auch neue Fragestellungen zustanden. Die lassen sich nur leider nicht erzwingen.

Aber es ist natürlich schon so, obschon wie hjwien schon sagte, es häufig so ist, dass die Doktoranten die absoluten Kenner zu einem Thema sind, nicht die Doktoreltern, dass die Doktoreltern von einem Thema idealiter eine gewisse Ahnung haben sollten.
 
Dass ein historisches Feld noch nicht beackert ist, kommt immer mal wieder vor, man muss nur draufkommen. Das ist es, was Schwierigkeiten macht.

Okay, Geschichte bietet da wohl genug Möglichkeiten - wenn man gewillt ist, ausgetretene Pfade zu verlassen.

Besonders eklatant scheint es bei den Medizinern zu sein. Da man ohne Dr-Titel in der Branche "nichts darstellt", werden da wohl recht merkwürdige Konstruktionen gebaut. So wird eine Versuchsreihe an der Uni gleich einem halben Dutzend Studenten zugeteilt, die das Ergebnis unter verschiedenen Gesichtspunkten beurteilen und dazu ihre Doktorarbeit schreiben. Ob die Ergebnisse dann bahnbrechende Neuentdeckungen sind, ist dabei unwichtig.
 
Eigentlich sollte Amir Bernstein trotz der Anmerkungen meiner Vorredner nicht zu einem solch eklatanten Widerspruch zur sonstigen Forschung gekommen sein - er müsste zumindest darauf hinweisen und so müsste man ihm vorwerfen, vielleicht nur die archivalischen Quellen, nicht aber die historiographischen Quellen oder Zeitungen, die zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht täglich erschienen, berücksichtigt zu haben. Er müsste zumindest seinen Widerspruch zum vorherigen Forschungsstand in irgendeiner Form kenntlich machen, ja eigentlich diskutieren und auf die Quellen, die ein Teilnehmen der Sachsen bei Jena belegen auch rekurrieren.
Insofern ist verwunderlich, dass er das nicht macht (wenn er es nicht macht).

Na, ja, ob dieser Widerspruch wirklich so eklatant bezogen auf das Thema ist, wage ich einmal zu bezweifeln. Die Dissertation betrifft das diplomatische Geschehen und nicht die Militärgeschichte. Und wie die Historie bewiesen hat, hat die Teilnahme am Krieg Sachsen nicht geschadet. Im Gegenteil, mit dem Cottbuser Kreis wurde sogar Gebiet gewonnen. Die Politik Napoleons in Bezug auf Sachsen hat viel mehr mit der geografischen Lage zu tun. Daher würde ich den Widerspruch nicht überbewerten, zudem er auch - aus meiner Sicht - zu keinen falschen Schlüssen, was die folgende Politik und Diplomatie betrifft führt. Und damit erfolgte auch keine Auseinandersetzung durch den Autor. Ich halte es für ein - im Grunde für das Anliegen "unwichtiges" - Versehen am Rande, für etwas, was eher einem Doktorvater etc. auffallen sollte/müsste.
Und daraus ergab sich auch meine Ausgangsfrage.

Grüße
excideuil
 
Ich kenne ein ganz ähnliches Beispiel. Da behauptet doch ein Mediävist - ebenfalls in seiner Dissertation - glatt, dass die antike Provinz Hispania Ulterior das heutige Marokko sei. Das ist natürlich Quatsch. Der Fehler ergibt sich meiner Meinung nach aus dem Wissen, dass das römische Mauretanien in der diokletianischen Reichsreform teils der Diözese Africa (Mauretania Caesariensis), teils aber der Diözese Hispania (Mauretania Tingitana) zugeteilt wurde. Da gab es allerdings die Hispania Ulterior schon seit gut 300 Jahren nicht mehr, die unter Augustus in den Provinzen Baetica (+/- Andalusien) und Lusitania (+/-Portugal/Extremadura) aufgegangen war.
Letztendlich ein lässlicher Fehler, der den Wert der Arbeit kaum zu schmälern vermag, aber eben ein Fehler.
 
Das von El Quijote genannte Beispiel ist ja noch vergleichsweise harmlos, mir ist da schon etwas noch Haarsträubenderes untergekommen: In einer rechtswissenschaftlichen Dissertation zum Thema Einfluss des ABGB auf Privatrechtskodifikationen in Hessen und Sachsen hat der Autor das Kurfürstentum Hessen und das Großherzogtum Hessen entweder ständig verwechselt oder gar für identisch gehalten, jedenfalls mehrmals die Bezeichnung Kurfürstentum Hessen verwendet, wenn inhaltlich eindeutig vom Großherzogtum die Rede war.
(Generell war ich von dieser Dissertation schwer enttäuscht, da sie zu zwei Dritteln aus bloßen Gegenüberstellungen von Bestimmungen des ABGB mit den daran orientierten entsprechenden Bestimmungen in Kodifikationsentwürfen bestand. Eine eigenständige wissenschaftliche Leistung konnte ich nicht entdecken.)
 
Dazu noch einige Thesen von mir - einem leidgeplagten immer-noch-Täter:

1. Eine fehlerfreie Diss abzuliefern, wäre ein Meisterwerk. Insbesondere an der Peripherie des Themas ist der fleißige Schreiber dann doch geneigt, die Rahmenhandlung aus der bestehenden Literatur zu füllen. Man kann nicht das ganze Rad aus den Archiven neu erfinden. (Bei der Handschrift des ein oder anderen Protagonisten käme das einem Freifahrtschein in die Klapse gleich.)
Auch eine Diss ist ein Krieg mit begrenzten Zielen und darüber hinaus gibt es jede Menge schlechter, schlampiger, exotischer oder thematisch irrelevanter Dissertationen - musst nur einen Deppen finden, der sie annimmt...
2. Quelle ist nicht gleich Quelle: Du kannst völlig widersprüchliche Aussagen aus in etwa gleich alten Quellen ziehen. Am Anfang steht immer der "Augenzeuge" und die individuelle Wahrnehmung ist unterschiedlich. Lass mal von 10 Bundestagsabgeordneten ein Protokoll der morgigen Sitzung erstellen und vergleiche die Dinger. Mein Lieblingsbeispiel sind Schiffstagebücher. Damals und heute amtliche Dokumente. Auf jedem Schiff wurden die anders geführt, unterschiedlich ausführlich etc. Ich versuche aus den Schiffstagebüchern von gerade mal fünf an einer Seeschlacht beteiligten Schiffen einen Teilverlauf abzuleiten. Hochwissenschaftliches Ergebnis: Ihren aktenkundigen Dokumenten zufolge waren die Schiffe in vier Paralleluniversen zugange. Die minutengenauen Uhrzeitangaben für bestimmte Ereignisse varriieren um bis zu +/- 5 Stunden. Beispiel Prügelstrafen: Kommandanten verzeichneten alle verhängten Strafen im Schiffstagebuch andere nur einige, und einige andere nicht. Manche Kommandanten ließen fester als erlaubt mit der Neunschwänzigen hauen und trugen das auch brav ein. Andere ließen nur so fest hauen wie erlaubt und trugen das ein; wieder andere ließen fester hauen als erlaubt und trugen als gewissenhafte Diener des Königs das ihnen zustehende Höchstmaß ein, der Rest war halt Bonus. Leite daraus mal ne gescheite Aussage ab, wer gewalttätig und wer Menschenfreund war.
Noch ein Beispiel: Der Tod James Cooks fand nach den vorhandenen "fontes" ebenfalls in ca. 12 Paralleluniversen statt. Dabei stammen die erhaltenen Berichte durchweg nicht von Augenzeugen - sind aber dennoch Quellen, weil einfach nix anderes da ist. Darüber hinaus gibt es Gemunkele, dass Cooks Nachfolger Clerke wesentliche Quellen vernichtet hat. In so einigen Journalen der beteiligten Offiziere fehlen bummelich ein bis zwei Wochen - ansonsten geben sie minutiös den Reiseverlauf wieder. Honig sei der schlecht bei denkt. Aber was willste machen?
3. Wir sind alle zu schriftgläubig! Was ich schwarz auf weiß besitz, kann ich getrost in die Diss eintragen. Vieles, was geschrieben steht - auch und gerade in wissenschaftlichen Werken anerkannter Historiker - ist schlicht und ergreifend Unsinn. Eine der besten deutschen Marinehistorikerinnen behauptete mal - gestützt auf einen der renommiertesten Marinehistoriker Englands - dass die Seeleute beim Ankern über das Heck erst mühsam die Anker von vorn nach hinten längst übers Schiff geschleppt hätten. Nobody's perfect und irgendwann zwischen zwei und vier Uhr morgens passiert halt so'n Sch... und der fällt niemandem mehr auf in den 800+ Seiten die mangels eindeutigem Versuchsaufbau mit angelesenem Wissen vollgeknallt werden müssen. Was ich als Guttenberg-sensibilisierter Leser an schamlosen Plagiaten namhafter Marinehistoriker gefunden habe, hat mir zwischenzeitlich Angst gemacht. Und viele "Quellen" basieren auf Hörensagen, angereichert mit Phantasie - im Augenblick der Niederschreibung wird die Story dann zur ewigen Wahrheit. Könntest Du Dir ernsthaft vorstellen, dass der Mist, der heute irgendwo in der Zeitung steht, in 200 Jahren historische Quelle ist und für bare Münze genommen wird?
Sorry, das waren jetzt mehr als two cents....
 
Fairerweise sollte man allerdings berücksichtigen, dass nicht jedes Detail der Dissertation gleiches Interesse, resp. gleiche Bedeutung für den Forschungsansatz hat. Details werden auch randweise eingebaut, mglw. mit sehr geringer Beachtung.

Was also den schon erwähnten "Fachwühler" (siehe oben) interessiert, ist nicht unbedingt für die (oder ggf. überhaupt eine) geschichtswissenschaftliche Fragestellung und Lösung wichtig. Passieren allerdings Detailfehler in diesem letzteren Bereich, ist das wieder eine andere Sache.
 
Dazu noch einige Thesen von mir - einem leidgeplagten immer-noch-Täter:

1. Eine fehlerfreie Diss abzuliefern, wäre ein Meisterwerk. Insbesondere an der Peripherie des Themas ist der fleißige Schreiber dann doch geneigt, die Rahmenhandlung aus der bestehenden Literatur zu füllen. Man kann nicht das ganze Rad aus den Archiven neu erfinden. (Bei der Handschrift des ein oder anderen Protagonisten käme das einem Freifahrtschein in die Klapse gleich.)
Auch eine Diss ist ein Krieg mit begrenzten Zielen und darüber hinaus gibt es jede Menge schlechter, schlampiger, exotischer oder thematisch irrelevanter Dissertationen - musst nur einen Deppen finden, der sie annimmt...
2. Quelle ist nicht gleich Quelle: Du kannst völlig widersprüchliche Aussagen aus in etwa gleich alten Quellen ziehen. Am Anfang steht immer der "Augenzeuge" und die individuelle Wahrnehmung ist unterschiedlich. Lass mal von 10 Bundestagsabgeordneten ein Protokoll der morgigen Sitzung erstellen und vergleiche die Dinger. Mein Lieblingsbeispiel sind Schiffstagebücher. Damals und heute amtliche Dokumente. Auf jedem Schiff wurden die anders geführt, unterschiedlich ausführlich etc. Ich versuche aus den Schiffstagebüchern von gerade mal fünf an einer Seeschlacht beteiligten Schiffen einen Teilverlauf abzuleiten. Hochwissenschaftliches Ergebnis: Ihren aktenkundigen Dokumenten zufolge waren die Schiffe in vier Paralleluniversen zugange. Die minutengenauen Uhrzeitangaben für bestimmte Ereignisse varriieren um bis zu +/- 5 Stunden. Beispiel Prügelstrafen: Kommandanten verzeichneten alle verhängten Strafen im Schiffstagebuch andere nur einige, und einige andere nicht. Manche Kommandanten ließen fester als erlaubt mit der Neunschwänzigen hauen und trugen das auch brav ein. Andere ließen nur so fest hauen wie erlaubt und trugen das ein; wieder andere ließen fester hauen als erlaubt und trugen als gewissenhafte Diener des Königs das ihnen zustehende Höchstmaß ein, der Rest war halt Bonus. Leite daraus mal ne gescheite Aussage ab, wer gewalttätig und wer Menschenfreund war.
Noch ein Beispiel: Der Tod James Cooks fand nach den vorhandenen "fontes" ebenfalls in ca. 12 Paralleluniversen statt. Dabei stammen die erhaltenen Berichte durchweg nicht von Augenzeugen - sind aber dennoch Quellen, weil einfach nix anderes da ist. Darüber hinaus gibt es Gemunkele, dass Cooks Nachfolger Clerke wesentliche Quellen vernichtet hat. In so einigen Journalen der beteiligten Offiziere fehlen bummelich ein bis zwei Wochen - ansonsten geben sie minutiös den Reiseverlauf wieder. Honig sei der schlecht bei denkt. Aber was willste machen?
3. Wir sind alle zu schriftgläubig! Was ich schwarz auf weiß besitz, kann ich getrost in die Diss eintragen. Vieles, was geschrieben steht - auch und gerade in wissenschaftlichen Werken anerkannter Historiker - ist schlicht und ergreifend Unsinn. Eine der besten deutschen Marinehistorikerinnen behauptete mal - gestützt auf einen der renommiertesten Marinehistoriker Englands - dass die Seeleute beim Ankern über das Heck erst mühsam die Anker von vorn nach hinten längst übers Schiff geschleppt hätten. Nobody's perfect und irgendwann zwischen zwei und vier Uhr morgens passiert halt so'n Sch... und der fällt niemandem mehr auf in den 800+ Seiten die mangels eindeutigem Versuchsaufbau mit angelesenem Wissen vollgeknallt werden müssen. Was ich als Guttenberg-sensibilisierter Leser an schamlosen Plagiaten namhafter Marinehistoriker gefunden habe, hat mir zwischenzeitlich Angst gemacht. Und viele "Quellen" basieren auf Hörensagen, angereichert mit Phantasie - im Augenblick der Niederschreibung wird die Story dann zur ewigen Wahrheit. Könntest Du Dir ernsthaft vorstellen, dass der Mist, der heute irgendwo in der Zeitung steht, in 200 Jahren historische Quelle ist und für bare Münze genommen wird?
Sorry, das waren jetzt mehr als two cents....

Danke! Ein grandioser Beitrag! Einmal aus der Sicht eines "Betroffenen" und absolut nachvollziehbar. Man nehme nur 5 Unfallzeugen ...
Nehme ich deine Beiträge hier im Forum, dann bin ich sicher, dass du dem Ideal recht nahe kommst. Ich wünsche dir jedenfalls gutes Gelingen! :winke:
Und ich schwatze nicht so daher, ich sage dies aus der Sicht eines älteren Herren und Hobbyhistorikers, der weiß, dass ein möglichst gehaltvoller Beitrag gestützt auf Quellen seine Zeit in Anspruch nimmt.

Grüße
excideuil

P.S.: Historische Zeitungen finde ich gar nicht so schlecht, weniger wegen des "historischen" Inhaltes, aber wegen der Werbung oder Preisangaben. Das sind dann tatsächlich Dinge, die vergleichbar sind.
 
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