Im Kreis einer heiteren Gesellschaft

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Aus Damals-Online vom 18.11.05 von Dr. Bernhard Morbach

Im krisengeschüttelten Italien des 14. Jahrhunderts bildete sich der neue Typus der „Trecento-Musik“ heraus, deren kunstvolle mehrstimmige Lieder auf Festen und Geselligkeiten der feinen Gesellschaft erklangen.


Frömmigkeit, Feste und Luxusbedürfnis – all diese Aspekte des mittelalterlichen Lebens sind engstens mit der Musik verknüpft. Über die musikalische Praxis in der höfischen Lebenswelt des 14. Jahrhunderts gibt etwa eine Szene in der Einleitung des „Decamerone“ (1348) von Giovanni Boccaccio Auskunft: „… in einem Saale des Erdgeschosses, den sie betraten, sahen sie die Tische mit schneeweißen Tüchern gedeckt und Gläser hingesetzt, die wie Silber blinkten … Die Gerichte, die nun kamen, waren schmackhaft zubereitet, und der trefflichste Wein stand bereit. … Und als die Tische weggenommen waren, ließ die Königin die Instrumente bringen; und auf ihren Befehl nahm Dioneo eine Laute und Fiammetta eine Geige, um in süßen Weisen einen Tanz zu spielen. Sogleich stellte sich die Königin mit den anderen Damen und den zwei jungen Männern zum Reigen an … Und sie begannen langsamen Schrittes zu tanzen; und nach dem Reigen stimmten sie liebliche und fröhliche Lieder an.“

Diese Festszene hat durchaus einen realen Hintergrund. Zweimal wütete im Italien des 14. Jahrhunderts die Pest, heftig auch in der Gegend um Florenz. Die es sich leisten konnten, flohen aus der Stadt in Villen auf dem Land, vermieden jeden Kontakt mit der urbanen Bevölkerung und unterhielten sich mit Geschichtenerzählen, Tanz und Musik. Und auch einen konkreten musikalischen Sachverhalt können wir ermitteln: In dem Zitat ist nicht die Rede davon, daß man nach Noten musizierte, vielmehr hat man die Tanzmusik nach feststehenden Modellen und Konventionen improvisiert. Bei den Liedern jedoch, deren Vortrag aus Gesang und Instrumentalspiel bestand, wurden die aktuellsten Madrigale, Ballatas und Caccias bevorzugt. Diese Lieder sind in der Regel für zwei oder drei Stimmen komponiert; der mehrstimmige Satz wurde kunstvoll ausgearbeitet. Im 14. Jahrhundert pflegte man diese Kunst in mehreren Städten Oberitaliens, zeitgleich mit der Musik der französischen „Ars nova“. Da die italienische Variante jedoch ganz eigene Charakteristika aufweist, spricht man nicht von einer „italienischen Ars nova“, sondern von der „Musik des Trecento“ oder einfach nur vom „Trecento“ (von italienisch [mille-]trecento für das 14. Jahrhundert).

Die Blütezeit der italienischen Trecento-Musik beginnt um 1300 und erstreckt sich bis ins frühe 15. Jahrhundert, also zeitgleich zur kulturellen Blüte der Renaissance in Oberitalien. Die dortigen Stadtrepubliken hatten sich mehr und mehr aus der Oberhoheit des Kaisers lösen können, auch der päpstliche Einfluß schwand. Florenz etwa erlebte im 14. Jahrhundert mit dem Kauf oder der Eroberung von Pistoia, Lucca, Arezzo und Pisa einen bedeutenden Zuwachs seines Herrschaftsgebiets. Dazu stieg die städtische Elite im Zeichen wirtschaftlicher Prosperität und einträglicher Bankge?schäfte auf. In diesem Szenario, in dem die reich gewordene Oberschicht ihr aufwendiges Repräsentationsbedürfnis zu befriedigen suchte, erwuchs den Künstlern, Dichtern, Malern und Musikern ein vielfältiges Betätigungsfeld.

Auf der anderen Seite verunsicherten das Schisma, kriegerische Auseinandersetzungen und vor allem die großen Pestepidemien die Zeitgenossen erheblich. Poeten und Historiker beklagten wortgewaltig die Krisen ihrer Zeit. Für sie wie für die Oberschicht mochten die feinsinnigen Lieder des Trecento auch ein Refugium bedeuten.

Im Vergleich zur französischen Liedkunst der Ars nova mit ihrem bedeutendsten Komponisten Guillaume de Machaut überrascht die italienische des 14. Jahrhunderts durch einfachere harmonische und rhythmische Strukturen. Dies bedeutet, daß weniger der Verstand angesprochen werden sollte, als vielmehr eine unmittelbare sinnliche Wirkung beabsichtigt war: Die italienische Harmonik ist in dreistimmigen Sätzen mit Dreiklängen „gesättigt“ und von einer auffälligen Klarheit. Letzteres gilt auch für die Melodien, die von einem hohen Maß an Spontaneität geprägt sind und die mit ihrem regelmäßig fließenden Puls unmittelbar aus der italienischen Sprache hervorzugehen scheinen.

Einer der Hauptvertreter dieser neuen Musikrichtung war Francesco Landini (um 1335–1397). Er war Organist an San Lorenzo in Florenz, wo er auch begraben liegt. Seiner Grabinschrift zufolge war er erblindet. Sie lautet: „Francesco, des Augenlichts beraubt, aber begabt mit dem Geist eines Musikers, den Musica über alle anderen setzte, ließ hier seine Asche zurück, seine Seele dem Himmel befohlen“. Landinis sakrale Orgelmusik ist nicht überliefert; diese stützte sich überhaupt – nicht nur in Italien – noch weit über das Mittelalter hinaus auf schriftlose Konventionen. Bei weltlicher Musik wurde eine kleine, tragbare Orgel, Portativ oder Organetto genannt, eingesetzt. Der Spieler übertrug Liedkompositionen auf sein Instrument. Landini hat bei dem Spiel auf dem Organetto sicher auf eigene Liedsätze zurückgegriffen, die im Rahmen einer Darbietung – oft im Kreis von Freunden – auch gesungen und gespielt wurden.

Mit Niccolò da Perugia, Gherardello da Firenze und Lorenzo da Firenze gehört Francesco Landini zur zweiten Generation der Florentiner Trecento-Komponisten. In ihrem Schaffen dominiert die Gattung der Ballata. Die Komponisten der vorangehenden Generation (1330–1350) wirkten an den Höfen der Scaliger in Verona und der Visconti in Mailand. Als bedeutendster wäre – neben Giovanni da Firenze und Magister Piero – Jacopo da Bologna zu nennen, der das Madrigal bevorzugte.

Als musikalische Gattungen sind Ballata und Madrigal in der Dichtkunst weitgehend vorgeformt. In der dritten Trecento-Gattung, der Caccia, dominiert ein anderes musikalisches Gestaltungsprinzip. Es ist in der Regel ein zweistimmiger Kanon, gegründet auf eine Stützstimme, die den effektvollen Dreiklang ermöglicht. Die spezifische Technik der Caccia hat eine bildliche Funktion. Geschildert werden bevorzugt Jagd und Fischbeiz. Der Mensch stellt dem Tier nach, welches instinktiv mit Flucht reagiert. Wie könnte man dies besser schildern als mit einem Kanon, in dem das Prinzip der späteren Fuge (das heißt Flucht!) elementar verwirklicht ist?

Überliefert ist die Trecento-Musik vor allem durch eine Prachthandschrift, die die umfangreichste Liedsammlung des Trecento mit 115 Madrigalen, zwölf Caccias und 227 Ballatas darstellt. Nach sechs Jahrhunderten ist der „Squarcialupi-Kodex“ heute wieder Grundlage einer interpretatorischen Auseinandersetzung mit der Musik des Trecento, die in der Alten Musik zu immer neuen klanglichen Ergebnissen führt – denn auch die italienische Musik des 14. Jahrhunderts fordert die Phantasie des Musikers von heute. Überliefert ist nur der Tonsatz. Bildwerke und literarische Schilderungen geben Hinweise auf das Mitwirken von Instrumenten. Alles weitere – das sind schätzungsweise 80 Prozent – bleibt dem heutigen Musiker überlassen; gerade das macht die Alte Musik so spannend, für die Interpreten und die Hörer des 21. Jahrhunderts.
 
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