Im Westen hatten die Griechen nichts zu lernen und viel zu lehren?

El Quijote

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John Boardman wird in dem Buch Sizilien. Eine Geschichte von den Anfängen bis heute von Volker Reinhard und Michael Sommer (Darmstadt 2010) mit der Aussage "In the west the Greeks had nothing to learn, much to teach" zitiert, die Autoren zitieren aus Greeks overseas, welches sie als Standardwerk bezeichnen von 1999, Erstausgabe wohl von 1964.
Sie schreiben außerdem: "Moderne Beobachter haben sich die griechische Perspektive (einer haushohen Überlegenheit gegenüber den Völkern der westlichen Mittelmeerhäfte) notgedrungen zu eigen gemacht: Schließlich haben nur die Kolonisatoren Berichte hinterlassen, nicht aber die Kolonisierten. Die Folie, vor der man den Prozess der Kolonisation deutete, war v.a. die europäische Siedlungskolonisation der Moderne, seit der 'Entdeckung' Amerikas durch Kolumbus. Wie das präkolumbianische Amerika betrachtete man die mediterrane Peripherie als weitesgehend leeren Raum, als jungfräuliche Erde, auf der die griechischen - und phönizischen - Neuankömmlinge von äußeren Faktoren unbeeinflusst ihr Modell sozialer und politischer Organisation durchsetzen konnten. [...] Seit einigen Jahren jedoch ist die Archäologie bemüht, einen Zugang zur stummen und weitgehend versunkenen Welt der Kolonisierten zu finden [...].
 
Sehr guter Ansatz, der durch neue Perspektiven für weitere Differenzierungen sorgen kann. Schade ist nur, dass man sich in diesem Fall wohl wirklich allein auf die archäologischen Funde verlassen kann.
 
Sie schreiben außerdem: "Moderne Beobachter haben sich die griechische Perspektive (einer haushohen Überlegenheit gegenüber den Völkern der westlichen Mittelmeerhäfte) notgedrungen zu eigen gemacht"

Die von dir erwähnte, graecozentrische Perspektive ist ein wirkliches Problem. Bedingt durch die Tatsache, dass nur die Griechen in diesem Kolonisationsprozess schriftliche Überlieferung benutzten, verzerrt sich das Bild ungeheuerlich "zugunsten" der griechischen Kultur. Das ist so sicherlich falsch. Ich halte auch nichts davon, dass die Griechen im Westen "nichts zu lernen" hatten, im Gegenteil. Aus unserem eigenen Erfahrungshorizont wissen wir doch, wie sehr man von einem Austausch mit weit entfernt lebenden Menschengruppen lernen kann, nicht umsonst gibt es ausserdem das Sprichwort "Reisen Bildet!".
Das ganze ist aber eigentlich kein grosses Problem: Misst man nämlich die Kulturäusserungen ohne jede Voreingenommenheit einfach am archäologischen Material, dann zeigt sich doch ein anderes Bild. Nicht nur bei der Keramik gibt es in den Kolonien einen grossen "einheimischen" Bestand, auch andere Bestandteile des Materials zeigen, dass eben nicht nur ein reiner Export von "Kultur" stattgefunden hat, sondern dass es an diesen "melting points" der frühen Kolonialstädte zum Austausch von griechischen Lebensäusserungen mit denen der einheimischen Bevölkerung und der Marktteilnehmer aus dem gesamten Mittelmeerraum kam. Es ist eben nicht so, dass der "zivilisierte" Grieche in den Kolonien auf felltragende Barbaren traf, die ihm nichts mehr vermitteln konnten. Das ist Unsinn.
 
Preisfrage: was haben die Griechen im Westen gelernt? Ich habe in Erinnerung, dass die Griechen Siziliens so ziemlich die innovativsten Köpfe des Hellenismus waren, welche die restliche Welt mit Torsionsgeschützen, Riesenschiffen und Riesenkonstruktionen aller Art verblüfften. Aber das war der Hellenismus, die "Aufklärung der Antike" … die römische Kultur weist unzählige kulturelle und technische Importe auf, vom keltischen Helm über punisches Wachs bis zu griechischen Säulen, man könnte meinen dass die ganze Kultur (mit Ausnahme der Regierungsform) zusammengesammelt sei.
Aber was haben die Griechen z. B. von den Puniern, von den Etruskern gelernt?
 
Preisfrage: was haben die Griechen im Westen gelernt? Ich habe in Erinnerung, dass die Griechen Siziliens so ziemlich die innovativsten Köpfe des Hellenismus waren, (...)
Aber was haben die Griechen z. B. von den Puniern, von den Etruskern gelernt?

Tja, da hab ich als Archäologe als erstes ein Argument "ex silentio". Sie können nämlich beispielsweise in der Verzierung der Kleidung, in Holztechnik, in Gemälden und Verzierungen vieles von den benachbarten Einheimischen (können wir für die mal einen übergeordneten Namen finden?) übernommen haben. All diese Materialien sind weitestgehend verloren und fehlen demnach für die Beurteilung solcher Prozesse.

Die wichtigsten Ergebnisse dieser Kontakte lagen aber sicherlich in der "lebenden Kultur", in Sprache, Tradition und Politik. Wieder so ein Gebiet, das wissenschaftlich nur sehr schwer und durch das Problem der schriftlichen Überlieferung auch nur aus griechischer Perspektive beleuchtet werden kann.

Aber was ist mit solchen Kleinigkeiten wie der verbreitetste Schwerttyp (das "glades hispanioles" der Römer habe ich hier vor Augen), das Kettenhemd (angeblich ja eine keltische Erfindung) und ähnlichen Hinweisen? Was ist mit den Truppen von Bogenschützen im alten Athen, die Polizeigewalt ausübten und aus dem skythischen Kulturbereich stammten?
Ich bin der Überzeugung, dass gerade im militärischen Bereich alte Traditionen nur sehr langsam und ungern aufgegeben werden, Innovationen es also schwer haben. Umso bedeutender sind diese Übernahmen aus benachbarten Regionen.

Und ausserdem, mal ganz blasphemisch gesprochen: Wer hat denn eigentlich die topograpisch sicher gelegene, befestigte Höhensiedlung oder die Stadt erfunden? Sind die ältesten dieser "Akropoli" oder "Burgen" wirklich im griechischen Kulturraum zu finden, oder kann man inzwischen nicht eine ganz andere Traditionslinie aufmachen, die an den alten Griechen einfach vorbei führt?
Also, mal ganz unhöflich eine frage mit einer gegenfrage beantwortet: Welche Bestandteile dieser "Kultur" haben denn eigentlich die Griechen (oder die frühen Sizilianer, etc.) wirklich selbst erfunden/entwickelt, und wieviel von dem, was wir als Griechisch auffassen, ist eigentlich von anderen Völkern übernommen/geklaut?
Da bin ich ratlos.
 
Es gibt auf Sizilien den archäologischen Befund einer Siedlung (leider weiß ich nicht mehr genau welche und wo ich das gelesen habe) mit griechischen Häusern aber Vorratsbehältnissen welche sonst von den Griechen nicht verwendet wurden sondern nur von Sikulern. Preisfrage der Verfasser: Handelt es sich um sikulisierte Griechen oder hellenisierte Sikuler?
 
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