muck
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Folgendes lesenswertes Interview mit dem Historiker erschien am 06.06. in der FAS:
[Gekürzt wegen Zeichenbegrenzung]
Wie schätzt Ihr Snyders historische Einordnung ein?
Ich halte sie für einen interessanten und überzeugenden Erklärungsansatz für die mir völlig unverständlichen Forderungen, dass sich die Ukraine der russischen Aggression ergeben solle und Putins Standpunkt Beachtung verdiene. Snyders Ausführungen zu Putins Selbstbild und der Vergeblichkeit der (zu Recht kritisierten) diplomatischen Offensiven Emmanuel Macrons sprechen mir aus der Seele.
Nicht genügend berücksichtigt hat Snyder in der Charakterisierung der deutschen Politik meiner Meinung nach allenfalls die Tatsache, dass wir im Sinne Flussers "lesende Wesen" sind, in unser Weltbild also nur Fakten einfließen können, die sich uns mitteilen. Der Ukraine waren in ihrer Geschichte nur kurze Perioden der Eigenstaatlichkeit vergönnt; in vielen Landkarten der UdSSR taucht sie nicht mal als Sowjetrepublik auf.
Das wirft die Frage auf: Nahm der durchschnittliche Wehrmachtssoldat, der 1941 in den Krieg zog, die Ukraine wirklich als gesonderte Entität war? Oder war sie für ihn nur ungefähr das, was z.B. der Freistaat Bayern für das Deutsche Reich war? Ein womöglich unterschiedener Teil des Ganzen, aber doch ein Teil?
Und ist der heutige Blick des immerhin rund 45 Jahre alten Durchschnittsdeutschen auf die Ukraine nicht auch unvermeidlich dadurch geprägt, dass das Land erst in seiner Jugend auf der Landkarte auftauchte?
Oder ist bereits diese Vermutung Ausdruck der von Snyder beschriebenen paternalistischen Haltung?
[Gekürzt wegen Zeichenbegrenzung]
Herr Snyder, Sie halten Russland für einen faschistischen Staat. Warum?
Gibt es etwas am russischen Staat, was heute nicht faschistisch ist? Hier eine Liste von Merkmalen des Faschismus, die auf Russland zutreffen: Eins: Einparteienherrschaft. Zwei: der Kult des Führers. Drei: Kontrolle der Medien. Vier: Kult des Imperiums, seiner Toten und seiner historischen Unschuld. Fünf: Die Welt wird durch Verschwörungstheorien erklärt. Sechs: ein Ständestaat nach dem Vorbild von Mussolinis Italien, nur noch radikaler. Sieben: Vernichtungskrieg und Völkermord. Acht: ein Kult des Willens und der Tat. Russlands hybride Kriegsführung, diese Kombination aus Propaganda und Gewalt, kann als Triumph des Willens über die Realität gesehen werden. Und dann natürlich die Idee vom Feind. Der Ausgangspunkt des Faschismus ist der Begriff des Feindes, und der Feind Russlands in Putins Sicht ist der Westen. So hat Carl Schmitt das definiert: Politik heißt, zu bestimmen, wer der Feind ist.
Schmitt war ein Ideologe des Nationalsozialismus.
Und heute steht sein Erbe in Russland in hohen Ehren. Alexander Dugin, Iwan Iljin und andere Vordenker des Putinismus beziehen sich auf ihn. Iljin sagt genau wie Schmitt, dass Politik mit der Definition des Feindes beginnt. Putin hat ihn oft zitiert. Auch Schmitts Konzept vom „Großraum“ ist hier wichtig, also der Gedanke, dass nur wenige Staaten souverän sind, und zwar die großen Imperien. Alle anderen sind aus dieser Sicht nur Attrappen. So denkt die führende Klasse in Moskau: Russland ist ein reales Land, Amerika auch, die meisten anderen sind nur Vasallen.
Iljin hat als russischer Emigrant den Nationalsozialismus gefeiert. Er vertrat die Idee, dass jeder, der die Ukraine als unabhängigen Staat sieht, Russland den Todesstoß versetzt.
Putin hat Iljin mehrmals in diesem Sinn zitiert. Und er fügt hinzu: Wer die Ukraine von Russland trennen möchte, wird vernichtet. Iljins Glaubenssatz war: Russland ist eine homogene Masse unter einem Führer. Für Iljin war die Herstellung der Großmacht Russland der Anfang der Heilung der Welt. Und diese Heilung sollte der Triumph des Faschismus auf dem ganzen Erdball sein. Putins Regierung hat Iljins sterbliche Überreste aus dem Exil zurückgeholt, und der Präsident persönlich hat Blumen auf sein Grab gelegt.
Faschistische Denker glauben, dass Kompromisse immer nur Atempausen sind, die man hinnimmt, um für die Vernichtung des Feindes neue Kraft zu sammeln. Kann man mit Putin also einen dauerhaften Verhandlungsfrieden finden?
Die westliche Idee vom Kompromiss lautet: Ich respektiere deine Interessen und du meine. Das ist mit Putin kaum möglich. Aber man kann trotzdem mit ihm verhandeln – wenn man zuvor einen Krieg gewonnen hat. Solange Putin glaubt, gewinnen zu können, ist das schwer denkbar.
Faschistische Führer brauchen dauernd neue Siege, um ihre Diktatur zu rechtfertigen. Wird Putin also nach einem möglichen Sieg in der Ukraine bald den nächsten Krieg beginnen?
Russland funktioniert als eine Art Kriegs-Soap in Fortsetzungen. Nach Georgien kam der erste Angriff auf die Ukraine, nach Syrien jetzt der zweite. Und immer wird der Krieg von spektakulärem Storytelling im Fernsehen eingerahmt. Das ist ein bewährtes Herrschaftsmittel, und deshalb wird Putin vielleicht bald einen neuen Krieg beginnen, wenn er den in der Ukraine gewonnen hat. Wenn er aber verliert, wird er seine Medien dazu benutzen, einfach das Gegenteil zu behaupten.
Wenn er alles als Sieg verkaufen kann, ist er auch nicht in Gefahr, durch eine Niederlage „sein Gesicht zu verlieren“, wie manche sagen. Liegen also diejenigen falsch, die sagen, man müsse ihm durch Zugeständnisse einen gesichtswahrenden Ausweg offen halten?
Putin hat fast komplette Kontrolle über die Wahrnehmung des Krieges in seinem Land. Wenn er einen Sieg ausruft, werden die meisten Russen ihm glauben. Wer sich im Westen um sein „Gesicht“ Sorgen macht, hat das nicht verstanden.
[…]
Sie nennen Putin einen Faschisten. Würden Sie ihn mit Hitler vergleichen?
Ich spreche von Faschismus, weil Faschismus viele Gestalten hat. Es gibt britische, französische, italienische, deutsche oder amerikanische Faschisten, und alle sind ein wenig anders. Wenn ich jetzt sagen würde, Putin ist wie Hitler, dann wäre das zu eng gefasst. […] Trotzdem: Wo es um die Ukraine geht, sind die Ansätze der Nazis und des heutigen russischen Regimes ähnlich. Dazu gehört, dass die Ukrainer als Kolonialvolk wahrgenommen werden, dessen Elite ausgelöscht werden muss.
Manche sagen, solche Versuche, Putins Krieg mit der Politik der Nazis zu vergleichen, liefen auf Verharmlosung des Holocausts hinaus.
Diese Hemmung macht es schwer, Faschismus heute beim Namen zu nennen und für seine Bekämpfung Verantwortung zu übernehmen. Das gilt auch für Russlands faschistischen Vernichtungskrieg in der Ukraine. Deportation war eine Methode Hitlers. Heute sind anderthalb Millionen Ukrainer deportiert worden. Das ist Völkermord. Ukrainische Kinder werden entführt, um zu Russen gemacht zu werden. Das ist Völkermord. Die Russen töten die Eliten der besetzten ukrainischen Gebiete, und auch das ist Völkermord.
Fällt es den Deutschen wegen ihrer Geschichte schwerer als anderen, das zu erkennen?
Die Deutschen verdienen Anerkennung für ihren Umgang mit der Geschichte. Aber es gibt in Deutschland die Versuchung, in einem verengten Blick auf den Nationalsozialismus wenig mehr wahrzunehmen als nur Hitler und die Vernichtungslager. Wenn man dieses Phänomen aber in der ganzen Breite seiner Erscheinungsformen sehen würde, könnte man leichter sagen, dass Putin an vielen Punkten so handelt wie Hitler. Putin will die Ukraine zur Kolonie machen, und genau das wollten auch die Nazis. Nur: Das hat sich dem deutschen Gedächtnis nicht eingeprägt. Hitlers koloniale Haltung zur Ukraine war nie Gegenstand der deutschen Erinnerungspolitik. Deshalb fühlen die Deutschen heute so wenig Verantwortung für die Ukraine. Stattdessen gibt es eine Kontinuität kolonialer Einstellungen. Dazu gehört, dass die Deutschen den Ukrainern viel zu wenig zuhören. Das ist ein grundlegender Fehler, denn wenn man eine Kolonialgeschichte hat, wie mein Land Amerika oder eben wie Deutschland, lautet das erste Gebot immer: Wir müssen den Völkern, die wir früher als Kolonien behandelt haben, zuhören.
Wie sah die deutsche Kolonialgeschichte in der Ukraine aus?
Die Kolonisierung der Ukraine war Hitlers Hauptziel im Zweiten Weltkrieg. Er wollte ein deutsches Großreich, dessen Industrie von der Landwirtschaft der Ukraine getragen würde. Dabei sollten Millionen von Ukrainern dem Hungertod preisgegeben oder versklavt werden. Das war es, wofür deutsche Soldaten kämpften, aber ich glaube nicht, dass viele Deutsche das in Erinnerung haben.
Heißt das, dass Deutsche und Russen über Generationen den gleichen kolonialen Blick auf die Ukraine und andere Völker Osteuropas hatten?
Es gibt jedenfalls viele Beispiele für Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Russen zulasten der Völker dieser Region. Die Teilungen Polens gehören hierher, und vor allem der Hitler-Stalin-Pakt von 1939. Es gibt also eine mentale Bereitschaft in Moskau und vielleicht auch noch in Berlin, über die Völker zwischen Deutschland und Russland hinwegzusehen. In der Tradition der deutschen Ostpolitik gibt es die Vorstellung, dass das Schicksal des postsowjetischen Raumes zwischen Moskau und Berlin geregelt wird. Vor allem in Bezug auf die Ukraine ist das nie infrage gestellt worden. Beide Seiten sind es gewohnt, sie als Kolonie zu sehen.
Gilt das auch für die sozialdemokratische Entspannungspolitik Willy Brandts?
In Berlin wirkt eine koloniale Haltung weiter, die nicht auf Parteien begrenzt ist. Moskaus Vorherrschaft in Osteuropa wurde jedenfalls auch von Brandt nicht infrage gestellt. Und für die Ukraine hat sich niemand allzu sehr interessiert. Nach der Wende ist das nicht viel besser geworden. Die Idee, dass die Ukrainer keine Nation sind, kommt immer wieder. Auf der Linken heißt es: „Das sind alles Faschisten.“ Andere sagen: Wir müssen Russlands Interessen berücksichtigen. Immer bedeutet das, dass die Ukraine kein Subjekt der Politik ist.
[…]
Gibt es etwas am russischen Staat, was heute nicht faschistisch ist? Hier eine Liste von Merkmalen des Faschismus, die auf Russland zutreffen: Eins: Einparteienherrschaft. Zwei: der Kult des Führers. Drei: Kontrolle der Medien. Vier: Kult des Imperiums, seiner Toten und seiner historischen Unschuld. Fünf: Die Welt wird durch Verschwörungstheorien erklärt. Sechs: ein Ständestaat nach dem Vorbild von Mussolinis Italien, nur noch radikaler. Sieben: Vernichtungskrieg und Völkermord. Acht: ein Kult des Willens und der Tat. Russlands hybride Kriegsführung, diese Kombination aus Propaganda und Gewalt, kann als Triumph des Willens über die Realität gesehen werden. Und dann natürlich die Idee vom Feind. Der Ausgangspunkt des Faschismus ist der Begriff des Feindes, und der Feind Russlands in Putins Sicht ist der Westen. So hat Carl Schmitt das definiert: Politik heißt, zu bestimmen, wer der Feind ist.
Schmitt war ein Ideologe des Nationalsozialismus.
Und heute steht sein Erbe in Russland in hohen Ehren. Alexander Dugin, Iwan Iljin und andere Vordenker des Putinismus beziehen sich auf ihn. Iljin sagt genau wie Schmitt, dass Politik mit der Definition des Feindes beginnt. Putin hat ihn oft zitiert. Auch Schmitts Konzept vom „Großraum“ ist hier wichtig, also der Gedanke, dass nur wenige Staaten souverän sind, und zwar die großen Imperien. Alle anderen sind aus dieser Sicht nur Attrappen. So denkt die führende Klasse in Moskau: Russland ist ein reales Land, Amerika auch, die meisten anderen sind nur Vasallen.
Iljin hat als russischer Emigrant den Nationalsozialismus gefeiert. Er vertrat die Idee, dass jeder, der die Ukraine als unabhängigen Staat sieht, Russland den Todesstoß versetzt.
Putin hat Iljin mehrmals in diesem Sinn zitiert. Und er fügt hinzu: Wer die Ukraine von Russland trennen möchte, wird vernichtet. Iljins Glaubenssatz war: Russland ist eine homogene Masse unter einem Führer. Für Iljin war die Herstellung der Großmacht Russland der Anfang der Heilung der Welt. Und diese Heilung sollte der Triumph des Faschismus auf dem ganzen Erdball sein. Putins Regierung hat Iljins sterbliche Überreste aus dem Exil zurückgeholt, und der Präsident persönlich hat Blumen auf sein Grab gelegt.
Faschistische Denker glauben, dass Kompromisse immer nur Atempausen sind, die man hinnimmt, um für die Vernichtung des Feindes neue Kraft zu sammeln. Kann man mit Putin also einen dauerhaften Verhandlungsfrieden finden?
Die westliche Idee vom Kompromiss lautet: Ich respektiere deine Interessen und du meine. Das ist mit Putin kaum möglich. Aber man kann trotzdem mit ihm verhandeln – wenn man zuvor einen Krieg gewonnen hat. Solange Putin glaubt, gewinnen zu können, ist das schwer denkbar.
Faschistische Führer brauchen dauernd neue Siege, um ihre Diktatur zu rechtfertigen. Wird Putin also nach einem möglichen Sieg in der Ukraine bald den nächsten Krieg beginnen?
Russland funktioniert als eine Art Kriegs-Soap in Fortsetzungen. Nach Georgien kam der erste Angriff auf die Ukraine, nach Syrien jetzt der zweite. Und immer wird der Krieg von spektakulärem Storytelling im Fernsehen eingerahmt. Das ist ein bewährtes Herrschaftsmittel, und deshalb wird Putin vielleicht bald einen neuen Krieg beginnen, wenn er den in der Ukraine gewonnen hat. Wenn er aber verliert, wird er seine Medien dazu benutzen, einfach das Gegenteil zu behaupten.
Wenn er alles als Sieg verkaufen kann, ist er auch nicht in Gefahr, durch eine Niederlage „sein Gesicht zu verlieren“, wie manche sagen. Liegen also diejenigen falsch, die sagen, man müsse ihm durch Zugeständnisse einen gesichtswahrenden Ausweg offen halten?
Putin hat fast komplette Kontrolle über die Wahrnehmung des Krieges in seinem Land. Wenn er einen Sieg ausruft, werden die meisten Russen ihm glauben. Wer sich im Westen um sein „Gesicht“ Sorgen macht, hat das nicht verstanden.
[…]
Sie nennen Putin einen Faschisten. Würden Sie ihn mit Hitler vergleichen?
Ich spreche von Faschismus, weil Faschismus viele Gestalten hat. Es gibt britische, französische, italienische, deutsche oder amerikanische Faschisten, und alle sind ein wenig anders. Wenn ich jetzt sagen würde, Putin ist wie Hitler, dann wäre das zu eng gefasst. […] Trotzdem: Wo es um die Ukraine geht, sind die Ansätze der Nazis und des heutigen russischen Regimes ähnlich. Dazu gehört, dass die Ukrainer als Kolonialvolk wahrgenommen werden, dessen Elite ausgelöscht werden muss.
Manche sagen, solche Versuche, Putins Krieg mit der Politik der Nazis zu vergleichen, liefen auf Verharmlosung des Holocausts hinaus.
Diese Hemmung macht es schwer, Faschismus heute beim Namen zu nennen und für seine Bekämpfung Verantwortung zu übernehmen. Das gilt auch für Russlands faschistischen Vernichtungskrieg in der Ukraine. Deportation war eine Methode Hitlers. Heute sind anderthalb Millionen Ukrainer deportiert worden. Das ist Völkermord. Ukrainische Kinder werden entführt, um zu Russen gemacht zu werden. Das ist Völkermord. Die Russen töten die Eliten der besetzten ukrainischen Gebiete, und auch das ist Völkermord.
Fällt es den Deutschen wegen ihrer Geschichte schwerer als anderen, das zu erkennen?
Die Deutschen verdienen Anerkennung für ihren Umgang mit der Geschichte. Aber es gibt in Deutschland die Versuchung, in einem verengten Blick auf den Nationalsozialismus wenig mehr wahrzunehmen als nur Hitler und die Vernichtungslager. Wenn man dieses Phänomen aber in der ganzen Breite seiner Erscheinungsformen sehen würde, könnte man leichter sagen, dass Putin an vielen Punkten so handelt wie Hitler. Putin will die Ukraine zur Kolonie machen, und genau das wollten auch die Nazis. Nur: Das hat sich dem deutschen Gedächtnis nicht eingeprägt. Hitlers koloniale Haltung zur Ukraine war nie Gegenstand der deutschen Erinnerungspolitik. Deshalb fühlen die Deutschen heute so wenig Verantwortung für die Ukraine. Stattdessen gibt es eine Kontinuität kolonialer Einstellungen. Dazu gehört, dass die Deutschen den Ukrainern viel zu wenig zuhören. Das ist ein grundlegender Fehler, denn wenn man eine Kolonialgeschichte hat, wie mein Land Amerika oder eben wie Deutschland, lautet das erste Gebot immer: Wir müssen den Völkern, die wir früher als Kolonien behandelt haben, zuhören.
Wie sah die deutsche Kolonialgeschichte in der Ukraine aus?
Die Kolonisierung der Ukraine war Hitlers Hauptziel im Zweiten Weltkrieg. Er wollte ein deutsches Großreich, dessen Industrie von der Landwirtschaft der Ukraine getragen würde. Dabei sollten Millionen von Ukrainern dem Hungertod preisgegeben oder versklavt werden. Das war es, wofür deutsche Soldaten kämpften, aber ich glaube nicht, dass viele Deutsche das in Erinnerung haben.
Heißt das, dass Deutsche und Russen über Generationen den gleichen kolonialen Blick auf die Ukraine und andere Völker Osteuropas hatten?
Es gibt jedenfalls viele Beispiele für Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Russen zulasten der Völker dieser Region. Die Teilungen Polens gehören hierher, und vor allem der Hitler-Stalin-Pakt von 1939. Es gibt also eine mentale Bereitschaft in Moskau und vielleicht auch noch in Berlin, über die Völker zwischen Deutschland und Russland hinwegzusehen. In der Tradition der deutschen Ostpolitik gibt es die Vorstellung, dass das Schicksal des postsowjetischen Raumes zwischen Moskau und Berlin geregelt wird. Vor allem in Bezug auf die Ukraine ist das nie infrage gestellt worden. Beide Seiten sind es gewohnt, sie als Kolonie zu sehen.
Gilt das auch für die sozialdemokratische Entspannungspolitik Willy Brandts?
In Berlin wirkt eine koloniale Haltung weiter, die nicht auf Parteien begrenzt ist. Moskaus Vorherrschaft in Osteuropa wurde jedenfalls auch von Brandt nicht infrage gestellt. Und für die Ukraine hat sich niemand allzu sehr interessiert. Nach der Wende ist das nicht viel besser geworden. Die Idee, dass die Ukrainer keine Nation sind, kommt immer wieder. Auf der Linken heißt es: „Das sind alles Faschisten.“ Andere sagen: Wir müssen Russlands Interessen berücksichtigen. Immer bedeutet das, dass die Ukraine kein Subjekt der Politik ist.
[…]
Wie schätzt Ihr Snyders historische Einordnung ein?
Ich halte sie für einen interessanten und überzeugenden Erklärungsansatz für die mir völlig unverständlichen Forderungen, dass sich die Ukraine der russischen Aggression ergeben solle und Putins Standpunkt Beachtung verdiene. Snyders Ausführungen zu Putins Selbstbild und der Vergeblichkeit der (zu Recht kritisierten) diplomatischen Offensiven Emmanuel Macrons sprechen mir aus der Seele.
Nicht genügend berücksichtigt hat Snyder in der Charakterisierung der deutschen Politik meiner Meinung nach allenfalls die Tatsache, dass wir im Sinne Flussers "lesende Wesen" sind, in unser Weltbild also nur Fakten einfließen können, die sich uns mitteilen. Der Ukraine waren in ihrer Geschichte nur kurze Perioden der Eigenstaatlichkeit vergönnt; in vielen Landkarten der UdSSR taucht sie nicht mal als Sowjetrepublik auf.
Das wirft die Frage auf: Nahm der durchschnittliche Wehrmachtssoldat, der 1941 in den Krieg zog, die Ukraine wirklich als gesonderte Entität war? Oder war sie für ihn nur ungefähr das, was z.B. der Freistaat Bayern für das Deutsche Reich war? Ein womöglich unterschiedener Teil des Ganzen, aber doch ein Teil?
Und ist der heutige Blick des immerhin rund 45 Jahre alten Durchschnittsdeutschen auf die Ukraine nicht auch unvermeidlich dadurch geprägt, dass das Land erst in seiner Jugend auf der Landkarte auftauchte?
Oder ist bereits diese Vermutung Ausdruck der von Snyder beschriebenen paternalistischen Haltung?