Dion
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Unter dem Titel Trends auf dem Buchmarkt: Auch 1925 ist noch frei beleuchtet Gustav Seibt die gegenwärtige Schwemme an Jahresbüchern, die unter einer bestimmten Jahreszahl Dinge zusammenbringen, die nur aufgrund des gleichzeitigen Erscheinens erwähnt werden, sonst aber nichts oder fast gar nichts miteinander zu tun haben.
Zitat – wegen Paywall etwas ausführlicher: Der abgesteckte Zeitraum eines Jahres wird zur Wundertüte, in die alles Mögliche passt, der Friedensschluss, der strenge Winter, der krasse Verkehrsunfall, die Erstpublikation eines Klassikers. Jahresbücher funktionieren wie 365 Tage lange Zeitungen, samt Sportteil und Vermischtem. Das ist bunt und unterhaltend. Es begrenzt den Stoff aber auch, bei vollkommener Freiheit der Quellenverwendung in gut dokumentierten Epochen. So können Laienhistoriker und Sachbuchautoren beliebiger Professionalität die Forschungsarbeit der Wissenschaft leichthändig ausschlachten. Journalisten werden Historiker und bleiben doch ganz bei sich. Und wo keine eigene Idee ist, richtet es immer noch der Kalender.
(…)
Annalen boten in vormodernen Zeiten das Ordnungsmuster historischen Erzählens. Sie gaben chronologische Orientierung, hielten Amts- und Regierungszeiten von Consuln oder Kaisern und Päpsten fest …
(…)
Außerdem war die Annalenform immer offen für Naturereignisse, Kometen, Überschwemmungen, Dürren, Epidemien. Auch hier bot die Chronologie eine Art Lesbarkeit im unklaren Weltlauf: Der Komet ging der Pest voraus, das gab zu denken. Auch war das Leben in vormodernen Gesellschaften dramatisch abhängig von der Natur: Kälte, Regen oder Hitze konnten Hungersnöte auslösen. Im Sommer wurden Kriege geführt, im Winter Feste gefeiert.
(…)
Die Naturverbundenheit der Annalenform kehrt in den heutigen Jahresbüchern mit fast lachhafter Regelmäßigkeit zurück. Dichterinnen oder Staatsmänner frieren und haben Schnupfen, sie leiden unter Hitze und Kälte wie jedermann neben und nach ihnen. Das sind erzählerische Farben, die unmittelbare Vertrautheit stiften. Nur wenn aus dem Wetter ein klimahistorischer Trend wird, ergreift die Geschichtszeit wieder das Zepter.
Ich habe „1913“ von Florian Illies gelesen – und fand es gut. Hat jemand hier mit anderen „Jahrbüchern“ andere Erfahrungen gemacht?
Zitat – wegen Paywall etwas ausführlicher: Der abgesteckte Zeitraum eines Jahres wird zur Wundertüte, in die alles Mögliche passt, der Friedensschluss, der strenge Winter, der krasse Verkehrsunfall, die Erstpublikation eines Klassikers. Jahresbücher funktionieren wie 365 Tage lange Zeitungen, samt Sportteil und Vermischtem. Das ist bunt und unterhaltend. Es begrenzt den Stoff aber auch, bei vollkommener Freiheit der Quellenverwendung in gut dokumentierten Epochen. So können Laienhistoriker und Sachbuchautoren beliebiger Professionalität die Forschungsarbeit der Wissenschaft leichthändig ausschlachten. Journalisten werden Historiker und bleiben doch ganz bei sich. Und wo keine eigene Idee ist, richtet es immer noch der Kalender.
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Annalen boten in vormodernen Zeiten das Ordnungsmuster historischen Erzählens. Sie gaben chronologische Orientierung, hielten Amts- und Regierungszeiten von Consuln oder Kaisern und Päpsten fest …
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Außerdem war die Annalenform immer offen für Naturereignisse, Kometen, Überschwemmungen, Dürren, Epidemien. Auch hier bot die Chronologie eine Art Lesbarkeit im unklaren Weltlauf: Der Komet ging der Pest voraus, das gab zu denken. Auch war das Leben in vormodernen Gesellschaften dramatisch abhängig von der Natur: Kälte, Regen oder Hitze konnten Hungersnöte auslösen. Im Sommer wurden Kriege geführt, im Winter Feste gefeiert.
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Die Naturverbundenheit der Annalenform kehrt in den heutigen Jahresbüchern mit fast lachhafter Regelmäßigkeit zurück. Dichterinnen oder Staatsmänner frieren und haben Schnupfen, sie leiden unter Hitze und Kälte wie jedermann neben und nach ihnen. Das sind erzählerische Farben, die unmittelbare Vertrautheit stiften. Nur wenn aus dem Wetter ein klimahistorischer Trend wird, ergreift die Geschichtszeit wieder das Zepter.
Ich habe „1913“ von Florian Illies gelesen – und fand es gut. Hat jemand hier mit anderen „Jahrbüchern“ andere Erfahrungen gemacht?