Je älter, je besser

hjwien

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Liebe Freunde,

ich möchte heute eine Frage zur Diskussion stellen, die eigentlich einen weit über die Archäologie hinausgehenden Charakter hat und deshalb auch unter Philosophie- oder Kulturgeschichte stehen könnte.
Da aber mein Ausgangspunkt archäologischer Natur ist, stelle ich die Frage hier auf:

Warum fasziniert Alter die Menschen?

Diese Frage ist sehr allgemein. Ich war kürzlich in einem schönen Städtchen, wo es einige Bauwerke aus der Zeit des ersten römischen Kaisers, Augustus, gibt. Dann fiel mir aber auf, daß auch bei übrigen Bauresten und auch im Museum dortselbst immer wieder versucht wurde, alles möglichst augusteisch zu datieren, obwohl meiner Meinung nach vieles eher in die Zeit der flavischen Kaiser (69-98 n. Chr.) datiert.
Bei näherem Nachdenken fiel mir auf, daß ich ähnliches schon des öfteren beobachten konnte, wie nämlich manchmal krampfhaft versucht wird, Artefakte so alt wie möglich zu datieren, speziell in der Klassischen Archäologie gern immer wieder bis hinunter zu Augustus, also so an den Anfang der Kaiserzeit.
Noch vor dreißig Jahren war es gang und gäbe, nach folgendem Kriterium zu datieren: Qualitätvoll = früh, schlecht gearbeitet = später. Selbst wenn die Forschung mittlerweile darüber hinweg ist, findet sich dieses Bild noch in vielen Köpfen.

Daß Alter Menschen fasziniert, ist mir klar, denn der Mensch ist in seiner Lebenspanne begrenzt und ist daher berührt von Dingen, die ihn überdauern und auch seine Vorfahren schon überdauert haben.
Daß es wissenschaftlich interessant ist, wann bestimmte Dinge zum ersten Mal auftreten, ist auch klar. Aber diese allgemeine Jagd nach einem möglichst hohen Alter, warum? Im Falle des kleinen Städtchens wäre es doch kein Beinbruch, wenn einiges halt siebzig Jahre jünger ist, es bliebe doch trotzdem römisch und alt genug.

Was denkt Ihr?
 
Warum fasziniert Alter die Menschen?

Ein Grund kann sein, dass man daran denkt, was das "Alte" schon "erlebt" hat.

Am Beispiel des Baudelaire-Gedichts "Little old women" (habe nur die englische Version zur Hand):
I see your untried passions come into full bloom;
I live your vanished days, gloomy or filled with light;
My heart multiplied enjoys all of your vices!
My soul is resplendent with all of your virtues!
:anbetung:
 
Laienhaft ausgedrückt:
Je älter, desto begrenzter vermutlich die technischen Hilfsmittel und das technologische KnowHow, umso höher der Aufwand, die Arbeit, die Kreativität und Erfindungsgeist, die in die Herstellung/Erbauung hineingesteckt werden mussten.
Mich faszinieren die teilweise genial einfachen Lösungen für recht komplexe Probleme, die die Baumeister oder Handwerker damals fanden bzw. vielleicht auch finden mussten.

Das gibt mir einen Hinweis darauf, wie genial der Mensch sein kann, wenn es notwendig wird, was wiederum irgendwie Hoffnung für kommende komplexe Probleme macht.
 
Nun du sprichst einen der Knackpunkte doch selbst an Hjwien. Das veraltete Denken in hochwertige Frühzeit und "mangelhafte" Spätzeit ist ja nicht nur in der Forschungsliteratur vertreten gewesen. Reiseführer, Diskussionen, Artikel haben diese Haltung mit übernommen und damit auch die Menschen geprägt. Das es nun nicht mehr so gehalten wird, ist wahrscheinlich vielen Leuten entgangen. Damit gewinnt automatisch das Augusteiische an Bedeutung. Was allerdings noch viel mehr wiegt, so denke ich zumindest, ist das man Augustus kennt, die Flavier oder Soldatenkaiser allerdings nicht. Augustus wird einfach als etwas besonderes gesehen und erhält eine herausragende Stellung. Damit ist es für eine Stadt, Siedlung usw natürlich immer toller wenn man unter Augustus schon da war oder gegründet wurde, als einfach unter der Römerzeit.
 
Ich werfe mal einen unausgegorenen Gedanken in die Runde. Könnte es nicht sein, dass auch die Sichtweise, dass unser christlich-teleologisches Weltbild einen Verfall darstellt, eine Rolle spielt. Ob dies nun bewusst oder unterbewusst geschieht, sei dahingestellt. Jedoch ist allein der Sprachgebrauch ein deutlicher Indikator dafür, dass man sich selbst in einem Prozess befindet, wo die Welt immer schlechter wird. Man denke an Reformation (Zurückführung) oder Revolution (Zurückwälzen). Die Ursprünglichkeit der christlichen Kirche war es, die die Reformatoren wiederherstellen wollten, indem man alles, was zur Verfälschung und damit zu einer qualitativen Abwertung der Religion geführt haben mag, beseitigte. Also die Forderung "sola scriptura", wobei Schriften von Autoritäten ihren Status als ebenfalls bindend verloren.

Oder man denke an den Traum des Nebukadnezar, in dem er folgendes sah:
Des Bildes Haupt war von feinem Golde, seine Brust und Arme waren von Silber, sein Bauch und seine Lenden waren von Erz, 33 seine Schenkel waren Eisen, seine Füße waren eines Teils Eisen und eines Teils Ton. 34
Bibel-Online.net - Daniel 2 (Luther 1912)
Daniel deutet ihm diesen Traum als Abfolge von Weltreichen und Kirchenvater Hieronymus dann deutet die vier verschiedenen Materialien dieser Statue als chronologische Aneinanderreihung von Weltreichen, also konkret der Babylonier, der Meder und Perser, der Makedonen und der Römer. Bezeichnend ist, dass die Materialien immer unedler werden, je weiter die Zeit voranschreitet. Es findet also ein Abstieg, ein Verfall statt. Sowohl was die Qualität betrifft, als auch was die Zuordnung der Glieder angeht. Vom edlen Haupt, das zeitlich am Beginn steht, bilden die Füße das Ende


Was die Epoche der Aufklärung betrifft, so ist eine der heißen Kisten der Naturzustand des Menschen. Auch hier wieder der Wille, das zu erkennen, was ursprünglich war, was dem zeitgenössischen Menschen Ursprung ist und wo wir daraus Gewinn ziehen können.

Bevor ich weitere Beispiele bringe, stelle ich das erst mal zur Diskussion. In meinem Hinterstübchen liegen noch ein paar Ideen.
 
Ich werfe mal einen unausgegorenen Gedanken in die Runde. Könnte es nicht sein, dass auch die Sichtweise, dass unser christlich-teleologisches Weltbild einen Verfall darstellt, eine Rolle spielt. Ob dies nun bewusst oder unterbewusst geschieht, sei dahingestellt.
Ein sehr interessanter Gedanke, mit dem ich Begriffe wie Verfalls- oder Lebensaltersmetaphorik assoziiere - sozusagen bis hin zu Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes.

Auf der anderen Seite haben wir es seit der frühen Neuzeit mit dem Gedanken an Fortschritt (progressus) zu tun, vielleicht auch mit der Verschränkung beider Grundströmungen.

Bin gespannt, was noch aus dem Hinterstübchen kommen wird!
 
Auf der anderen Seite haben wir es seit der frühen Neuzeit mit dem Gedanken an Fortschritt (progressus) zu tun, vielleicht auch mit der Verschränkung beider Grundströmungen.

Eben hier scheint mir der Begriff bzw. die Beschäftigung mit dem Naturzustand ein Scharnier zu sein. In dieser Zeit finden sich sowohl Ideen, die den Menschen in einem Fortschritt sehen (etwa Locke), als auch welche, die eine Rückbesinnung auf das Natürliche, auf den Urzustand, fodern (etwa Rousseau).

Seit dieser Zeit scheint der Schwerpunkt in der Tat auf dem progressus zu liegen. Aber das sagt ja nicht, dass der andere Gedanke im Allgemeingut ausgelöscht bzw. nicht mehr präsent ist.
 
Zwei profane Gedanken:
So absolut gibt es die Faszination nicht. Denkmalschützer haben immer wieder mit Leuten zu kämpfen, die meinen, das alte Gemäuer sollte endlich etwas Schönem, Neuem Platz machen.
Die Faszination beruht ganz erheblich auf dem Motiv der Rekordjagd: Wer hat den höchsten, den schiefsten Turm etc.
 
Das ist ein interessanter Gedanke, den Lukrezia da einbringt, denn die Diskussion gab es ja gerade in einem anderen Pfad, wo sich jemand fragte, ob es nicht toll wäre, ins antike Griechenland zurückzukehren. Der Sehnsucht nach dem Alten, vielleicht ursprünglichen, als vielleicht realer empfundenen steht dann die Skepsis gegenüber, dies selbst einlösen zu müssen. Ob die Leute, die ganz begeistert MIttelalterfeste feiern, es eine Woche im realen Mittelalter aushalten würden?
Und anders gefragt: Viele Leute schauen begeistert einem alten Auto hinterher, am liebsten wohnt man in einer tollen Altbauwohnung. Aber warum, wenn man weiß, daß viele Menschen dafür empfänglich sind, baut man nicht mehr in solcher Form? Der Cruiser von Chrysler war ja mehr ein mißlungener Versuch, wie Bogart fühlt man sich ja kaum in einem solchen Gefährt.
 
Nun, das eine ist der Traum, das andere die Realität.
Es gibt ja so "Masochisten" , die eine Woche, meist nur ein Wochenende Mittelalter pur leben, authentisch bis zur Stecknadel, danach ist man dann erst ein mal wieder "geheilt".
 
Ich denke, dass hier einige durchaus unterschiedliche Aspekte und Vorstellungen zusammenfallen und zusammengeworfen werden. Zum einem hat man die philosophische Haltung wie sie Lukrezia und jschmidt beschreiben und zum anderen etwas was ich als Neugierde und Interesse bezeichnen würde.

Bei der philosophischen Betrachtung stellt sich mir allerdings erst einmal die Frage wie weit wir heute davon noch wirklich beeinflusst sind, oder um etwas genauer zu werden, wieviele der heute lebenden Mitmenschen diese Ideen und Vorstellungen denn überhaupt noch kennen. Ich gehe nämlich davon aus, dass Hobbes, Locke oder die Erneuerung der Kirche auf ihren ursprünglichen Vorstellungen nur einer geringen Zahl von Menschen bekannt sind und damit nicht wirklich im Allgemeinwissen verankert sind.
Diese Retrospektive ist ja auch nichts wirklich neues, schon in der Antike wird über die unterschiedlichen "Zeitalter" geschrieben in denen das früheste den perfekten Urzustand darstellt. Was man heute nur schwer, bzw. gar nicht mehr, nachvollziehen kann, ist die Frage ob in der Allgemeinheit auch den Wunsch und das große Interesse an diesem Goldenen Zeitalter gab.

Eingesetzt wurde es sicherlich zu Propagandazwecken, gerade in der römischen Kaiserzeit, ob man damit aber den Menschen aus der Seele gesprochen hat, sei dahin gestellt. Nero propagiert mit seinem Machtantritt die Rückkehr des Goldenen Zeitalters und auch andere Kaiser bedienen sich dieses Topos. Mit der Propaganda kommt man dann auch weg von der Philosophie und in andere Gefilde. "Alter" spielt auch in der Realpolitik eine Rolle genauso wie in der Erinnerung von Menschen. In der Antike und Teilen des Mittelalters wird durch "Alter" und Ahnen eine Legitimationsgrundlage und Machtbasis geschaffen, auch ein Grund wieso man so weit wie möglich zurück will. Als Beispiel seien nur die Abstammungsgeschichten von Franken oder Römern genannt. Für Städte, um den Bogen zu hjwiens ersten Post zu spannen, ergibt viel Bausubstanz der ersten Stunden natürlich eine gewisse Größe, und damit eine herausragende Bedeutung, an.

Letzendlich ist das Alte, Vergangene auch eine Fluchtmöglichkeit für den Einzelnen aus der realen Welt. Sei es das Nachleben der vermeindlich tollen Mittelalters oder die Erinnerung an ein Auto das man noch von Oma oder Opa kannte. Durch die "Rückbesinnung" auf das Alte kann man seine momentanen und zukünftigen Sorgen und Probleme ausblenden und sich in eine heile und für mich Ideale Welt begeben oder zumindest an eine positive Zeit erinnern. Fast jeder kennt sicherlich Sätze wie "Früher war alles besser!", und da schließst sich dann auch irgendwie der Kreis zur Philosophie wieder und wir sind bei dem Naturzustand und dem "goldenen Zeitalter" in dem der Mensch oft keinen Negativeinflüßen ausgesetzt war.
 
Nun, MA auf hohem Niveau, bis zum "Gestank", Wäschewaschen mit klar wasser und Lauge, Waschen mit Kaltwasser im April.
Aber das sind wie, gesagt "Masochisten
 
Das Augustus-Beispiel, das hjwien erwähnt würde ich darauf zurückführen, dass die Augustus-Ära für Rom eine Art goldenes Zeitalter darstellt. Selten ging es Rom so gut wie unter Augustus.
 
Das Augustus-Beispiel, das hjwien erwähnt würde ich darauf zurückführen, dass die Augustus-Ära für Rom eine Art goldenes Zeitalter darstellt. Selten ging es Rom so gut wie unter Augustus.

Und außerdem kennen alle Augustus, schließlich wird er jedes Jahr zu Weihnachten erwähnt seit fast 2000 Jahren.
 
Das Augustus-Beispiel, das hjwien erwähnt würde ich darauf zurückführen, dass die Augustus-Ära für Rom eine Art goldenes Zeitalter darstellt. Selten ging es Rom so gut wie unter Augustus.

Das zweite Jahrhundert nach Christus war für das gesamte Reich eine noch viel größere Blütezeit.
Zur noch immer anhaltenden bekanntheit, gar Popularität von Augustus habe ich so meine Zweifel. Wenn man sich auf die Straße stellte und eine Umfrage zum ersten römischen Kaiser durchführte, bliebe das Ergebnis, so fürchte ich, eher mager.

Ich habe noch ein anderes Beispiel. In Berlin wurden in den letzten Jahren Grabungen in der Innenstadt durchgeführt, und bei Holzfunden wurden dendrochronologische Untersuchungen durchgeführt, die zeigten, daß die Stadt wohl ein paar Jahre älter ist als bisher angenommen. Das ging auch mit, gemessen an sonstigen Reaktionen auf Grabungsergebnisse in heimischer Flur, großem Tamtam durch die Presse, als würde man damit einen Erfolg feiern. Fand ich auch etwas komisch. Die meisten Berliner wüßten sowieso nicht, wie alt die Stadt ist.
 
Und außerdem kennen alle Augustus, schließlich wird er jedes Jahr zu Weihnachten erwähnt seit fast 2000 Jahren.

Gegenbeispiel: Viele Schulklassen christlicher und nichtkonfessioneller Ausrichtung im Museum, bei der Frage nach der Weihnachtsgeschichte verdrehen die meisten die Augen, Reaktion, ja , da war doch mal was, aber Details, bitte nicht fragen.
Genau das gleiche übrigens bei der Frage nach dem ersten Satz der Bibel, das ist mittlerweile eine Lieblingsfrage von mir.
 
Das zweite Jahrhundert nach Christus war für das gesamte Reich eine noch viel größere Blütezeit.
Zur noch immer anhaltenden bekanntheit, gar Popularität von Augustus habe ich so meine Zweifel. Wenn man sich auf die Straße stellte und eine Umfrage zum ersten römischen Kaiser durchführte, bliebe das Ergebnis, so fürchte ich, eher mager.

Man darf dabei aber auch die Regierungszeit nicht außer Acht lassen. Augustus regierte Rom über 40 Jahre; das schaffte im 2. Jahrhundert niemand.
 
Man darf dabei aber auch die Regierungszeit nicht außer Acht lassen. Augustus regierte Rom über 40 Jahre; das schaffte im 2. Jahrhundert niemand.

Das schon, aber während unter Augustus Herrschaft sich viele Landstriche vom Bürgerkrieg erholen mußten, schaute man im zweiten Jh. auf eine lange Phase der Prosperität zurück. Den Leuten ging es zumeist noch besser als unter Augustus, was die Qualität der Lebensweise anging. Und das hängt ja nicht unbedingt von der regierungszeit eines Einzelnen ab, sondern von der Kontinuität der Herrschaft, die ja von Nerva bis Marc Aurel, eigentlich auch Commodus und den Severern für die meisten Römer gegeben war.

Und ob die Faszination der Leute heute auf die Leistungen des Augustus zurückzuführen ist. Sieht man mal von den jüngsten BBC-Serien ab, ist Augustus recht selten der Held neuerer UNterhaltungsformate über Rom. Bei Asterix rennt nur Caesar rum, und die ganzen alten Sandalenschinken fanden fast immer andere Zeiten interessanter als die Herrschaft von Augustus. Ich würde wetten, es kennen viel mehr Leute den Nero.
 
Ich habe noch ein anderes Beispiel. In Berlin wurden in den letzten Jahren Grabungen in der Innenstadt durchgeführt, und bei Holzfunden wurden dendrochronologische Untersuchungen durchgeführt, die zeigten, daß die Stadt wohl ein paar Jahre älter ist als bisher angenommen. Das ging auch mit, gemessen an sonstigen Reaktionen auf Grabungsergebnisse in heimischer Flur, großem Tamtam durch die Presse, als würde man damit einen Erfolg feiern. Fand ich auch etwas komisch. Die meisten Berliner wüßten sowieso nicht, wie alt die Stadt ist.

Wobei es bei diesen Städtedaten für mich um simple Rekordjagd geht. Da will man eben älter sein, als das Nachbardorf, oder die Stadt, in die man eingemeindet wurde, oder als die meisten Städte Deutschlands etc.
Bei einigen mag dann auch Kompensation eine Rolle spielen. Neuss ist zum Beispiel keine schöne Stadt, kann sich aber darauf berufen, wenigstens 2027 Jahre "alt zu sein".
 
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