Das Thomasevangelium verlangt auch die Verkündung:
"...Das, was du mit deinem Ohr hörst, in das andere Ohr verkünde es auf euren Dächern...." (Th 33)
begrenzt die Mission aber nicht ausdrücklich auf Israel. Ich schließe aber aus der Tatsache, dass die besprochenen Fragen fast nur Juden interessiert haben dürften, dass Juden seine Zielgruppe waren. Nach meinem Modell versuchte Jesus die Juden davon zu überzeugen, dass sich auch ihre Religion in die Stoa eingliedern ließ. Das hätte die Abgrenzung zur nichtjüdischen Bevölkerung aufgehoben und Frieden geschaffen, ein sehr naheliegendes Ziel zu dieser Zeit und auch im Text belegt:
"...Wenn zwei Frieden schließen untereinander in demselben Haus, werden sie zum Berg sagen: Versetze dich, und er wird sich versetzen." (Th 48)
Dieses Ziel beinhaltet aber automatisch, dass die Mission auf Israel begrenzt werden musste und erklärt auch die straffe Organisation, denn die Überzeugungsarbeit musste rasch geschehen (und ist letztendlich gescheitert). Dieses Ziel erklärt zusätzlich die römerfreundliche Einstellung von Jesus bei den Synoptikern und im Thomasevangelium.
Th 48 ist prima facie nichts weiter als ein Versöhnungsaufruf. Da einen Aufruf herauslesen zu wollen, die religiöse Abgrenzung zur nichtjüdischen Bevölkerung aufzuheben und gar das Judentum in die Stoa einzugliedern, ist schon sehr ... gewagt.
Wie kommst Du überhaupt zur Annahme, Jesus sei mit den Lehren der Stoa vertraut gewesen? Er war zwar mit den jüdischen Schriften vertraut, aber wo siehst Du Anhaltspunkte dafür, dass er sich auch mit griechisch-hellenistischer Philosophie befasst hätte? (Wer weiß, ob er überhaupt entsprechend gut Griechisch konnte, um griechischsprachige philosophische Texte zu verstehen.)
Übrigens gab es Juden schon zu Jesu Zeiten nicht nur in Palästina. Wäre es wirklich Jesu Ziel gewesen, die Juden davon zu überzeugen, ihre Religion in die Stoa einzugliedern, um die Abgrenzung zur nichtjüdischen Bevölkerung aufzuheben, hätte er aktiv Vertreter nach Alexandria, Rom und in die zahlreichen weiteren Diaspora-Gemeinden entsenden müssen. Schließlich gab es gerade dort die meisten Reibungspunkte zwischen Juden und Nichtjuden.
Außerdem hast Du doch selbst erkannt, dass Jesus später seine Anhänger auch zu den Heiden entsandte. Warum, wenn es ihm nur darum ging, das Judentum zu stoisieren?
Die "römerfreundliche Einstellung" von Jesus (die primär ein Versuch war, die Römer nicht unnötig zu provozieren und alles zu vermeiden, was man als Aufforderung zum Aufruhr interpretieren könnte; "römerfreundlich" muss das deshalb noch nicht sein) lässt sich auch viel einfacher erklären: Jesus hatte einfach nicht die Absicht, einen bewaffneten Aufruhr anzuzetteln. Das kann aus purer Friedensliebe geschehen sein oder auch aus der Erkenntnis heraus, dass gegen die römische Übermacht ohnehin nicht anzukommen war, man sich mit ihnen also als unvermeidlichem Übel abfinden müsse.