Machiavelli des Principe vs. Machiavelli der Discorsi

Chan

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Machiavelli wäre vermutlich begeistert gewesen

Ich halte das Gegenteil für sehr viel wahrscheinlicher – er wäre entsetzt gewesen. Der wahre Machiavelli ist der Machiavelli der "Discorsi", also ein überzeugter Republikaner und Bewunderer der römischen Republik, dem jegliche Tyrannei verhasst war. Stalin aber war ein Tyrann par excellence, der den "Principe" von Machiavelli eifrig studiert hat, in dem er ein Staats- und Führermodell zu erkennen glaubte, dass seinem persönlichen Größenwahn und Sadismus entgegenkam. Was also hat es mit dem "Principe" auf sich? Hat Machiavelli darin seine wirklichen Gedanken offenbart? Wohl kaum, denn die stehen in den "Discorsi" und haben mit den Ideen im "Principe" nichts zu tun. Es gibt mehrere Theorien über diesen Widerspruch. Die gängigste besagt, dass die "Discorsi" den Idealfall einer Republik behandeln und der "Principe" den Ausnahmefall eines hoffnungslos zerfallenen Gemeinwesens, das nur durch die erbarmungslose Strenge eines "Fürsten" zu neuer Stärke geführt werden kann.

Als Modell für einen solchen politischen Erlöser wird an mehreren Stellen Cesare Borgia beschrieben und über den grünen Klee gelobt, was merkwürdig anmutet, weil Machiavelli den grausamen Papstsohn eigentlich verachtete. Mehr noch, Machiavelli verachtete auch Lorenzo Medici, für den er den "Principe" schrieb, um sich selbst für eine Wiedereinstellung in den öffentlichen Dienst zu empfehlen. Lorenzo galt als brutal und machtversessen, also präsentierte ihm Machiavelli ein Politikermodell, das dem tyrannisch veranlagten Medici psychologisch schmeichelte. Der eigentliche Hintergedanke aber war vielleicht ein ganz anderer, nämlich Lorenzo mit Ratschlägen zu bedienen, die ihn letztlich ins politische Verderben stürzen würden, weil ein Tyrann vom Schlag des "Principe" notwendig scheiteren würde. Das war jedenfalls die Meinung eines Zeitgenossen von Machiavelli, Kardinal Reginald Pole. Die Theorie, dass der "Principe" absolut nicht ernst gemeint ist, sondern eine chiffrierte Kritik an tyrannischen Fürsten, kam schon vor der Veröffentlichung des Textes im Jahr 1532 auf. Manche interpretierten ihn als ein Gift, das den Leser gegen die Gefahr der Tyrannei sensibilisieren soll, indem es diese in ihren schrecklichsten Farben malt. Dummerweise verlief die Textgeschichte so, dass die fast zeitgleich geschriebenen "Discorsi", die den wahren Machiavelli enthalten, in den Hintergrund traten, während der skandalumwobene "Principe" peu à peu in den Ruf eines ernstgemeinten Lehrbuchs für politische Praktiker geriet.

Hier ist eine Passage aus dem 2. Kapitel des 2. Buches der "Discorsi", in der Machiavellis Haltung zur Republik und zur Tyrannei gut zum Ausdruck kommt:

And it is easy to understand whence this affection arises in a people to live free, for it is seen from experience that Cities never increased either in dominion or wealth except while they had been free. And truly it is a marvelous thing to consider to what greatness Athens had
arrived in the space of a hundred years after she had freed herself from the tyranny of Pisistratus. But above all, it is a more marvelous thing to consider to what greatness Rome arrived after it liberated itself from its Kings. The cause is easy to understand, for not the individual good, but the common good is what makes Cities great. And, without doubt, this common good is not observed except in Republics, because everything is done which makes for their benefit, and if it should turn to harm this or that individual, those for whom the said good is done are so many, that they can carry on against the interests of those few who should be harmed. The contrary happens when there is a Prince, where much of the time what he does for himself harms the City, and what is done for the City harms him. So that soon there arises a Tyranny over a free society, the least evil which results to that City is for it not to progress further, nor to grow further in power or wealth, but most of the times it rather happens that it turns backward. And if chance should cause that a Tyrant of virtu should spring up, who by his courage and virtu at arms expands his dominion, no usefulness would result to the Republic but only to be himself; for he cannot honor any of those citizens who are valiant and good over whom he tyrannizes, as he does not want to have to suspect them.
 
Ich denke, das ist ein eigenes Thema, welches am besten im Forum Kultur- und Philosophiegeschichte seinen Platz findet. Ich hätte schon verschoben, aber dann würde der Kontext fehlen, daher die Aufforderung an Chan, seinem Beitrag den notwendigen Kontext zu geben und einen "Machiavelli des Principe vs. Machiavelli der Discorsi - wer war der echte Machiavelli?"-Thread (unverbindlicher Überschriftenvorschlag) zu eröffnen. Ein Mod wird dann diesen Beitrag hier löschen.
 
@Chan. Eigentlich wäre es selbstverständlich, Aussagen in dem Kontext zu interpretieren, in dem sie getätigt worden sind.

Es ging dabei um die Frage der Sicherung des Überlebens der UdSSR. Und in diesem Kontext ging es um die Fokussierung der Kräfte der Volkswirtschaft auf dieses Überleben. Und damit in der Konsequenz ging es darum, ein "Nationbuilding" zu vollziehen. Und aus diesen beiden Aspekten leitete sich der Vergleich zu Machiavelli und zu Bismark ab.

In diesem Sinne die passende Einschätzung zu Macchiavelli: "Ersterer [also M.] indem er den Beweggründen fürstlicher Macht auf das Streben nach Ruhm und dem Erhalt des eigenen Staates mit allen opportun erscheinenden Mitteln verengt....." (vgl. Rublack, Pos. 3210)

Und im Kern ist es die Variation von "Der Zweck heiligt die Mittel." Dass man M. nicht auf diesen Aspekt reduzieren kann oder sollte ist eigentlich selbstverständlich.

Dieses gilt auch deshalb, weil das Weltbild eines M. sich von Mittelalterlichen Vorstellungen gelöst hatte und die Macht als ein - akzeptables - menschliches Verhalten wird. "Für Machiavelli ist das Gefühl, dass kein Gott die Natur geschaffen, schon so selbstverständlich, dass er es gar nicht mehr betont. Deshalb gibt es für ihn in der Werkstatt des des Daseins keine Moral und keine Unmoral, sondern nur Affekte.(Marcu, S. 56)

Damit wird eigentlich genau das umschrieben, was sich an Konflikten in der KP, an der Art der gewählten Instrumente und an dem opportunistischen Wechsel der Positionen der Akteure zwischen 1925 und 1931 abspielte.

Und begründet mit dieser Sicht auf der Ebene des Individuums die Vorstellungen der "Realisten" auf der Ebene der internationalen Politik. Und damit die Annahme eines chaotischen Systems, das im wesentlich durch Macht reglementiert wird.

https://de.wikipedia.org/wiki/Realismus_(Internationale_Beziehungen)

http://www.geschichtsforum.de/thema/machiavellis-fuerst-habsburger-realitaeten.44739/

Ansonsten: Die emotionale Aufladung durch die Vermutung, ob Stalin an "Größenwahn" oder an "Sadismus" gelitten hat, ist genauso wenig zielführend wie Diskussion über Hitler und angebliche pathologische Defekte.

Marcu, Valeriu (1994): Machiavelli. Die Schule der Macht; im Anhang: Reflexionen des Autors zu Lenin und Hitler. München: Matthes & Seitz.
Rublack, Ulinka (Hg.) (2013): Die neue Geschichte. Eine Einführung in 16 Kapiteln. Frankfurt am Main: Fischer .
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich halte das Gegenteil für sehr viel wahrscheinlicher – er wäre entsetzt gewesen. Der wahre Machiavelli ist der Machiavelli der "Discorsi", also ein überzeugter Republikaner und Bewunderer der römischen Republik, dem jegliche Tyrannei verhasst war. Stalin aber war ein Tyrann par excellence, der den "Principe" von Machiavelli eifrig studiert hat, in dem er ein Staats- und Führermodell zu erkennen glaubte, dass seinem persönlichen Größenwahn und Sadismus entgegenkam. Was also hat es mit dem "Principe" auf sich? Hat Machiavelli darin seine wirklichen Gedanken offenbart? Wohl kaum, denn die stehen in den "Discorsi" und haben mit den Ideen im "Principe" nichts zu tun. Es gibt mehrere Theorien über diesen Widerspruch. Die gängigste besagt, dass die "Discorsi" den Idealfall einer Republik behandeln und der "Principe" den Ausnahmefall eines hoffnungslos zerfallenen Gemeinwesens, das nur durch die erbarmungslose Strenge eines "Fürsten" zu neuer Stärke geführt werden kann.

Wo das Thema "Machiavelli" schon einmal im Raum steht, mir hat sich zu dem Mann schon immer eine repeptionsgeschichtliche Frage aufgedrängt.

Ich muss dazu sagen, dass ich (leider) bisher nie dazu gekommen bin die Discorsi zu lesen. Ich habe den Principe gelesen und zu einem guten Teil die Geschichte von Florenz.
Was mich im Hinblick auf die Rezeption des "Principe" immer wieder irritiert, ist die Einschätzung, dass der Zweck nach diesem Werk grundsätzlich die Mittel heilige.
Für mich hat das gesamte Werk immer nur das Modell einer sozialen und herrschaftstechnischen Mechanik beschrieben (man mag sie für richtig halten oder nicht), ohne sich darüber in moralischer Weise auszulassen, sondern wenn er etwas goutiert oder nicht dann ausschließlich die Funktionsweise eines Handlungsmusters für sich genommen.
Abzüglich der vollkommenen Verwerfung der Tyrannis als moralisch nicht gangbaren Weg und dem am Schluss stehenden Aufruf zur Befreiung/Einigung Italiens, habe ich das Werk eigentlich als bemerkenswert frei von dezidierten Handlungsanweisungen oder Ablehnung sämtlicher moralischer Kategorien wahrgenommen.
Man kann solche da natürlich hinein interpretieren, wenn man im Hinblick auf die politische Realität der italienischen Renaissance vollkommen unbedraft ist, was man aber eigentlich, wenn man bei der Lektüre nicht vollkommen ignorant vorgeht, gar nicht sein kann.

Daher würde mich persönlich mal interessieren, woher diese Einschätzung kommt, respektive, warum sie sich dermaßen hartnäckig hält?
 
Daher würde mich persönlich mal interessieren, woher diese Einschätzung kommt, respektive, warum sie sich dermaßen hartnäckig hält?

Ich zitiere aus der Insel-Ausgabe des "Fürsten" einige der Stellen, die dem Buch, das von Stalin, Hitler und Mussolini hochgeschätzt wurde, vom Start weg seinen höchst umstrittenen Ruf eingebracht haben. Übersetzt wurde der Text für diese Ausgabe von Friedrich von Oppeln-Bronikowski.

XVII.
Von der Grausamkeit und der Milde und ob
es besser sei, geliebt als gefürchtet zu werden

Ich gehe zu den andern obengenannten Eigenschaften
über und sage, daß jeder Fürst danach trachten solle,
für barmherzig zu gelten und nicht für grausam.
Jedoch muß er darauf sehen, daß er diese Eigenschaft
nicht falsch gebraucht. Cesare Borgia galt für
grausam; trotzdem hat diese Grausamkeit Ordnung in
die Romagna gebracht, sie geeinigt und in Frieden und
Treue erhalten.


(Kommentar: CB hatte nach der Eroberung der Romagna dort einen brutalen Statthalter, Don Ramirro, installiert, der in seinem Auftrag alle politischen Gegner von CB gefangensetzen und hinrichten ließ. Dann ließ ihn CB öffentlich köpfen, um sich dem empörten Volk als guter Herrscher zu präsentieren, der keine unnötige Grausamkeit duldet...)

Überlegt man es sich recht, so wird man einsehen, daß dies viel
menschlicher war als das Benehmen von Florenz, das, um nicht
für grausam zu gelten, die Zerstörung von Pistoia zuließ.
Ein Fürst darf daher die Nachrede der Grausamkeit
nicht scheuen, um seine Untertanen in Treue und
Einigkeit zu erhalten
;
(...)
Hieraus entsteht eine Streitfrage, ob es besser sei, geliebt
oder gefürchtet zu werden? Die Antwort lautet,
man soll nach beidem trachten; da aber beides schwer
zu vereinen ist, so ist es weit sicherer, gefürchtet als
geliebt zu werden
, sobald nur eins von beiden möglich
ist. Denn man kann von den Menschen insgemein
sagen, daß sie undankbar, wankelmütig, falsch, feig in
Gefahren und gewinnsüchtig sind; solange du ihnen
wohltust, sind sie dir ergeben und bieten dir, wie oben
gesagt, Gut und Blut, ihr Leben und das ihrer Kinder
an, wenn die Gefahr fern ist; kommt sie aber näher, so
empören sie sich.

(...)

XVIII.
Inwiefern die Fürsten ihr Wort halten sollen

Wie löblich es ist, wenn ein Fürst sein Wort hält und
rechtschaffen und ohne List verfährt, weiß jeder.

Trotzdem zeigt die Erfahrung unserer Tage, daß die
Fürsten, die sich aus Treu und Glauben wenig
gemacht und die Gemüter der Menschen mit List zu
betören verstanden haben, Großes geleistet und
schließlich diejenigen, welche redlich handelten,

überragt haben.
Man muß wissen, daß es zwei Arten zu kämpfen gibt,
die eine nach Gesetzen, die andere durch Gewalt; die
erste ist die Sitte der Menschen, die andere die der
Tiere. Da jedoch die erste oft nicht ausreicht, so muß
man seine Zuflucht zur zweiten nehmen. Ein Fürst

muß daher sowohl den Menschen wie die Bestie zu
spielen wissen.

(...)
Ein kluger Herrscher kann und soll daher sein Wort
nicht halten, wenn ihm dies zum Schaden gereicht
und die Gründe, aus denen
er es gab, hinfällig geworden sind.
Wären alle Menschen gut, so wäre dieser Rat nichts wert; da sie
aber nicht viel taugen und ihr Wort gegen dich
brechen, so brauchst du es ihnen auch nicht zu halten.
Auch wird es einem Fürsten nie an guten Gründen
fehlen, um seinen Wortbruch zu beschönigen.
(...)

Man muß nur sein Gemüt so gebildet haben,
daß man, wenn es nötig ist, auch das Gegenteil
vermag. Und dies ist so zu verstehen, daß ein Fürst,
insbesondere ein neuer Fürst, nicht all das beachten

kann, was bei anderen Menschen für gut gilt; denn oft
muß er, um seine Stellung zu behaupten, gegen Treu
und Glauben, gegen Barmherzigkeit, Menschlichkeit
und Religion verstoßen. Daher muß er ein Gemüt

besitzen, das sich nach den Winden und nach dem
wechselnden Glück zu drehen vermag, und, wie gesagt,
zwar nicht vom Guten lassen, wo dies möglich ist, aber
auch das Böse tun, wenn es sein muß.
 
Zuletzt bearbeitet:
Zerlegen wir dies also:

Teil 1:

XVII.
Von der Grausamkeit und der Milde und ob
es besser sei, geliebt als gefürchtet zu werden

Ich gehe zu den andern obengenannten Eigenschaften
über und sage, daß jeder Fürst danach trachten solle,
für barmherzig zu gelten und nicht für grausam.
Jedoch muß er darauf sehen, daß er diese Eigenschaft
nicht falsch gebraucht. Cesare Borgia galt für
grausam; trotzdem hat diese Grausamkeit Ordnung in
die Romagna gebracht, sie geeinigt und in Frieden und
Treue erhalten.


(Kommentar: CB hatte nach der Eroberung der Romagna dort einen brutalen Statthalter, Don Ramirro, installiert, der in seinem Auftrag alle politischen Gegner von CB gefangensetzen und hinrichten ließ. Dann ließ ihn CB öffentlich köpfen, um sich dem empörten Volk als guter Herrscher zu präsentieren, der keine unnötige Grausamkeit duldet...)

Überlegt man es sich recht, so wird man einsehen, daß dies viel
menschlicher war als das Benehmen von Florenz, das, um nicht
für grausam zu gelten, die Zerstörung von Pistoia zuließ.
Ein Fürst darf daher die Nachrede der Grausamkeit
nicht scheuen, um seine Untertanen in Treue und
Einigkeit zu erhalten
;
(...)
Hieraus entsteht eine Streitfrage, ob es besser sei, geliebt
oder gefürchtet zu werden? Die Antwort lautet,
man soll nach beidem trachten; da aber beides schwer
zu vereinen ist, so ist es weit sicherer, gefürchtet als
geliebt zu werden
, sobald nur eins von beiden möglich
ist. Denn man kann von den Menschen insgemein
sagen, daß sie undankbar, wankelmütig, falsch, feig in
Gefahren und gewinnsüchtig sind; solange du ihnen
wohltust, sind sie dir ergeben und bieten dir, wie oben
gesagt, Gut und Blut, ihr Leben und das ihrer Kinder
an, wenn die Gefahr fern ist; kommt sie aber näher, so
empören sie sich.
Die Stelle ist aber nur dann vernünftig zu verstehen, wenn man begreift, dass in der Lebenswirklichkeit Machiavellis das Prinzip der legalen Herrschaft und des organisierten Staates, mit samt modernem Apparat und Gewaltmonopol nicht existierte und im Rahmen dessen, wie es bereits im 19. und dann spätestens im frühen 20. Jahrhundert ins Wirken trat, vollkommen unbekannt war.
Insofern spiegelt das die Lebenswirklichkeit Mussolinis und erst recht Hitlers überhaupt nicht wieder. Bei Stalin könnte man darüber streiten, inweifern dass noch seiner Lebenswirklichkeit in der kaukasischen Provinz und während des russischen Bürgerkrieges entspricht. Spätestens mit Beginn der 1920er Jahre tritt aber auch in der werdenden Sowjetunion der bürokratische Apparat ins Leben, der das persönliche Regiment im Sinne eines Rennaissance-Fürsten oder absoluten Herrschers ablöst.

Bei Machiavelli selbst, als Kronzeuge seinen hier seine Einlassungen betreffs des Söldnerwesens angesprochen, zeigt sich ja duchaus stets die Bestrebung Herrschaft so weit als möglich zu zentralisieruen und zu legalisieren, aus den Verhältnissen der Rennaissance also mehr oder minder auszubrechen. Das mag ja auch dazu beigetragen haben, dass er sicha auf die Seite der Republik und gegen den Machtanspruch der Medici stellte.
Das er eine auf gewalt gegründete, "charismatische" (wenn diese Anleihe an Max Weber gestattet ist) Herrschaft, wie sie den drei genannten Herren weitgehend vorschwebte durchaus nicht in jeder Weise befürwortete, bzw. situationsbedingt durchaus ablehnend gegenüber stand, kann man seinen, leicht krytischen Seitenhieben in Richtung Girolamo Savonarolas durchaus entnehmen.

Von dem her halte ich es auch auf Basis des Principe für äußerst unwahrscheinlich, dass Machiavelli das Modell eines persönlichen Regiments der realen Möglichkeit einer legalen Herrschaft und der damit verbundenen stabilen Verhältnisse vorgezogen hätte.
Damit bewegt er sich im krassen Gegensatz zu Hitler und Mussolini, die aus eben dieser modernen Welt zurück zu den arachaischen Formen pesonalisierter vormoderner Herrschaft zurück wollten. Bei Stalin ist das wie gesagt sicher auf Grund von dessen erster Lebenshälfte und der Staatsferne der russischen Provinz und der generellen Asymethrie Russlands als Herrschaftsgebiet (als Freund von Baberowskis Werken dürftest du diese Argumentationsweise kennen) eine komplexere Diskussion.
 
Teil 2:


(...)

XVIII.
Inwiefern die Fürsten ihr Wort halten sollen

Wie löblich es ist, wenn ein Fürst sein Wort hält und
rechtschaffen und ohne List verfährt, weiß jeder.

Trotzdem zeigt die Erfahrung unserer Tage, daß die
Fürsten, die sich aus Treu und Glauben wenig
gemacht und die Gemüter der Menschen mit List zu
betören verstanden haben, Großes geleistet und
schließlich diejenigen, welche redlich handelten,

überragt haben.
Man muß wissen, daß es zwei Arten zu kämpfen gibt,
die eine nach Gesetzen, die andere durch Gewalt; die
erste ist die Sitte der Menschen, die andere die der
Tiere. Da jedoch die erste oft nicht ausreicht, so muß
man seine Zuflucht zur zweiten nehmen. Ein Fürst

muß daher sowohl den Menschen wie die Bestie zu
spielen wissen.

(...)
Ein kluger Herrscher kann und soll daher sein Wort
nicht halten, wenn ihm dies zum Schaden gereicht
und die Gründe, aus denen
er es gab, hinfällig geworden sind.
Wären alle Menschen gut, so wäre dieser Rat nichts wert; da sie
aber nicht viel taugen und ihr Wort gegen dich
brechen, so brauchst du es ihnen auch nicht zu halten.
Auch wird es einem Fürsten nie an guten Gründen
fehlen, um seinen Wortbruch zu beschönigen.
(...)

Man muß nur sein Gemüt so gebildet haben,
daß man, wenn es nötig ist, auch das Gegenteil
vermag. Und dies ist so zu verstehen, daß ein Fürst,
insbesondere ein neuer Fürst, nicht all das beachten

kann, was bei anderen Menschen für gut gilt; denn oft
muß er, um seine Stellung zu behaupten, gegen Treu
und Glauben, gegen Barmherzigkeit, Menschlichkeit
und Religion verstoßen. Daher muß er ein Gemüt

besitzen, das sich nach den Winden und nach dem
wechselnden Glück zu drehen vermag, und, wie gesagt,
zwar nicht vom Guten lassen, wo dies möglich ist, aber
auch das Böse tun, wenn es sein muß.

Auch das rezepiert aber wieder die vormodernen Verhältnisse, der Rennaissance und der vorrangegangenen Epochen, mit ihere materiellen Unsicherheit und völligen politischen Instabilität, wie den zu seiner Zeit notwendigen Standpunkt der vormodernen, persönlichen Herrschaft. Angelegenheiten mit denen sich das moderne Europa nicht mehr ernstlich zu befassen brauchte.



Ich sehe da ehrlich gesagt nirgendwo eine persönliche Note Machiavellis, in der er postuliert, dass das persönliche Regiment des Fürsten die ideale Gesellschaftsordnung darstelle und das Ziel ihrer Herstellung und Bewahrung den Einsatz jedes mittels rechtfertigt wenn alternativ auch eine ausgebildete Form legaler Herrschaft möglich wäre. Die Aussicht darauf war aber mit der Niederlage der florentinischen Republik gegen die Medici, so wie dem Niedergang des Modells der Signoria an und für sich (Venedig vielleicht ausgenommen) mindestens in Italien fürs Erste in weite Ferne gerückt und so aggierte Machiavelli eben mit dem, was vorzufinden war. Man könnte von dem her, wenn man das ein kleines bisschen überspitzen wollte (da der Bezug zur Sowjetunion schon einmal gegeben ist) behaupten, Machiavelli habe wenn auch unbewusst im Rahmen des späteren aufkommenden historischen Materialismus im Bezug auf seine Situation gut marxistisch argumentiert.

Was Machiavelli da zu Protokoll gegeben hat, richtet sich ja nicht gegen moderne Vorstellungen unvierseller Werte und legaler Herrschaft im modernen Sinne, die es vorher nicht gab, sondern bewegt sich, was den Principe angehet wohl eher im Rahmen frühabsolutistischer Tendenzen in Abgrenzung zum mittelalterelichen/frühneuzeitlichen Ständewesen in seiner spezifisch italienischen Ausprägung. Die von ihm postullierte Fürstenherrscahft richtet sich ja im Besonderen gegen den persönlichen Machtanspruch der konkurrierenden Feudalherren und städtischen Potentaten.


Das ist, meine persönliche kontextuale Wahrnehmung der benannten Stellen ohne die Einlassungen der "Discorsi" demgegenüber näher zu kennen und ich halte das mindestens für eine legitime Interpretationsmöglichkeit, die eben dieser Rezeption des Principe widerspricht.

Im Hinblick auf Hitler und Mussolini sind die Bestrebungen zur Ausbildung des Staatswesens, auf basis der vollkommen verschiedenen Ausgangspunkte wohl als gegensätzlich zu bezeichnen. Würde hier als Anhänger auf Friedrich II. (der ja ironischer weise seinen "Antimachiavell" erst verfasste, später revidierte) verweisen, könnte ich das gerade eben noch nachvollziehen, im Hinblick auf alles, was nach der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, eigentlich nach dem späten 18. Jahrhundert passiert, ist eine Anlage Machiavellis als Ausgangskriterium nichts anderes als ein aus dem Kontext reißen von dessen Gedankengängen und damit nichts anderes als eine verfehlte Rezeption, da es sich dabei nur noch um eine Rezeption auf Grund der nicht beachteten, materiellen Ausgangslage, mit der Realität zusammenahngloser Idealvorstellungen handelt. Mit anderen Worten, das einzige, was Mussoini und Hitler mit ihrer verfehlten Rezeption Machiavellis bewiesen ist, dass sie als Historiker, auf der Bandbreite der Ökonomie und der Philosophie grandiose Versager waren.

Stalin hingegen bewies mit seiner Bezugnahme, dass er ein schlechter Marxist war. Hätte er den dem historischen Materialsismus zu Grunde liegenden Gedanken des Versuchs einer Analyse der jeweiligen Gesellschaftlichen Entwicklungsstadien und ihrer materiellen Grundlagen unternommen, würde er zu anderen Ergebnissen gekommen sein. Nämlich zu demjenigen, das Machiavellis Denken und Handeln der Staatenwelt im besonderen Mittelitaliens im frühen 16. Jahrhundert angepasst war, die Entwicklung der Produktivkräfte und der sozialen Ordnung und Zusammensetzung in der Sowjetunion anno 1925 aber nicht denen Mittelitaliens anno 1510 entsprachen und eine (fehlgeleitete und unvollständige) orthodoxe Rezeption Machiavellis keine Antwort auf die Reale Situation der Sowjetunion sein konnte.
 
Im Prinzip kann man sagen, dass Machiavelli für die "Regierungsform" argumentierte, die zu seiner Zeit die "realistische" war, wenn auch die "legale Form" bevorzugt hätte, oder?
 
Stalin aber war ein Tyrann par excellence, der den "Principe" von Machiavelli eifrig studiert hat, in dem er ein Staats- und Führermodell zu erkennen glaubte, dass seinem persönlichen Größenwahn und Sadismus entgegenkam.

Diese "Tatsachenbehauptung" ist inhaltlich ohne weiteres nicht nachvollziehbar und geht an der realen komplexen Form des Einflusses des Machiavellismus auf die Situation in Russland nach 1905 vorbei. Dabei lasse ich die Betrachtung von Gramsci zu Machiavelli mal außen vor. In diesem Sinne schreibt Rees:

„In Russia the Machiavellian trend re-emerged after 1900. Leninism was an adaptation of Marxism to Russian backwardness. In this it harkened back to the more explicit Jacobinical roots of Marxism. Leninism, was in many ways, the Machiavellization of Marx.“(Rees, S. 244)

Dabei betont Kuromiya („Stalin, FN 9, Pos 294) dass beispielsweise Souvarine (S. 583) darauf verweist: …that Stalin had obviously not read Machiavelli, but that on all points an intuitive Machivellism guides him. Ob diese Einschätzung korrekt ist, sei dahingestellt, es macht aber deutlich, dass die Behauptung von Chan wenigstens eines Belegs wert gewesen wäre.

Darüberhinaus sind es vor allem die oppositionellen Theoretiker in den dreißiger Jahren, u.a. Bukharin, Trotzki etc., so Rees, die die Entwicklung in der UdSSR unter Stalin in Begriffen des Machiavellismus fassen.

Obwohl insgesamt die Rezeption von Machivelli in der UdSSr nicht ausgeprägt gewesen sein soll in der Phase.

Kuromiya, Hiroaki (2005): Stalin. Harlow, England, New York: Pearson/Longman
Rees, Edward A. (2004): Political thought from Machiavelli to Stalin. Revolutionary Machiavellism. New York: Palgrave Macmillan.
Souvarine, Boris (2007): Stalin. A Critical Survey of Bolshevism. New York, N.Y.: Longmans, Green & Co.

Was also hat es mit dem "Principe" auf sich? Hat Machiavelli darin seine wirklichen Gedanken offenbart? Wohl kaum, denn die stehen in den "Discorsi" und haben mit den Ideen im "Principe" nichts zu tun. Es gibt mehrere Theorien über diesen Widerspruch. Die gängigste besagt, dass die "Discorsi" den Idealfall einer Republik behandeln und der "Principe" den Ausnahmefall eines hoffnungslos zerfallenen Gemeinwesens, das nur durch die erbarmungslose Strenge eines "Fürsten" zu neuer Stärke geführt werden kann.

Wenn man den engen zeitlichen Zusammenhang der Entstehung beider Werke bedenkt, eine ausgesprochen „steile These“.

Vor dem Hintergrund dieser „steilen These“, der erstaunlicherweise bisher niemand widersprochen hat, eine Reihe von Fragen an Chan.

1. Wie läßt sich belegen, dass der „Fürst“ mit den Ideen der „Discorsi“ nichts zu tun haben. Wer behauptet das?
2. Welche „mehrere Theorien“ gibt es? Und wer sind die Vertreter dieser Theorien?
3. Welche Theorie ist denn die „gängigste“, wer vertritt sie und warum hat sie sich als „gängiste“ angeblich durchgesetzt.

Entsprechend meinem oberflächlichen Kenntnisstand – vgl. Literaturliste - kann ich in der „gängigen Literatur“ zu Machiavelli derartige „steile Thesen“ nicht erkennen. Skinner vertritt beispielsweise sogar explizit die gegenteilige These der Einheit beider, entsprechend unterschiedlicher Zielgruppen, also eher im Sinne einer „janusköpfigkeit“ der Sicht. Und bei Münkler oder König finden sich auch keine derartigen Passagen.

In diesem Sinne bin ich sehr gespannt auf die Antwort.

King, Ross (2013): Machiavelli. Philosoph der Macht. München: Pantheon.
König, René (1984): Niccolo Machiavelli. Zur Krisenanalyse einer Zeitenwende. Frankfurt a.M., Berlin, Wien: Ullstein
Münkler, Herfried (1990): Machiavellis Vita und Werk. In: Niccolò Machiavelli: Politische Schriften. Hg. v. Herfried Münkler. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag,S. 27–50.
Münkler, Herfried (2018): Nicolo Machiavelli, Der Fürst. In: Manfred Brocker (Hg.): Geschichte des politischen Denkens. Ein Handbuch. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1818), S. 108–121.
Reinhardt, Volker (2014): Machiavelli, oder, Die Kunst der Macht. Eine Biographie. München: C.H. Beck
Skinner, Quentin (1994): The foundation of modern political thoughts. Volume 1: The Renaissance. 2 Bände. Cambridge: University Press.
Skinner, Quentin (2000): Machiavelli: A very short introduction. Oxford: Oxford University Press.
 
Zuletzt bearbeitet:
Im Prinzip kann man sagen, dass Machiavelli für die "Regierungsform" argumentierte, die zu seiner Zeit die "realistische" war, wenn auch die "legale Form" bevorzugt hätte, oder?

So weit würde ich mich, auf Basis des "Principe" gar nicht aus dem Fenster lehnen wollen, auch wenn ich persönlich das annehme, was aber Spekulation von meiner Seite her ist.
Mir ging es schlicht darum, dass einige Kritik, am Principe und die Unterstellung Machiavelli predigte, dass der Zweck grundsätzlich die Mittel heiligte, meiner Ansicht nach nur darauf zurüc zu führen sein kann, dass die entsprechenden Zeitumstände zu wenig gewürdigt werden.

Dabei sollte man, denke ich nicht vergessen, dass der "Principe" zwar auf eine allgemeine Beschreibung von Herrschaftsmechaniken abziehlt, daneben aber auch eine spezifisch italienische Angelegenheit ist. Bedenkt man die politische Situation Europas ist Italien selbst im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert, also dem unmittelbaren Entstehungskontext immer wieder Ziel der Einwirkungen ausländischer Potentaten, namentlich der französischen Könige, der aragonesichen Könige und der Römisch-Deutschen Kaiser in Gestalt der Habsburger gewesen.
Hinzu kommen die üblichen Auseinandersetzungen der Feudalherren der frühen Neuzeit und der Stadtstaaten unter Einander, die kriselnde Machtstellung der katholischen Kirche in der unmittelbar vorreformatorischen Zeit. Die Politische Realität der Condottieri, die mit Waffengewalt nach eigenen Herrschaften streben (als prominentestes Beispiel ist wohl Francesco Sforza zu nennen), so wie die konkurrierenden Ansprüche verschiedener Bürger- und Adelsfraktionen in den Städten.
Mit anderen Worten die Lebenswirklichkeit Machiavellis, in der der Principe entstand war einz zimliches politisches Chaos, das jeder Zeit an sehr verschiedenen Bruchlinien zu massiven Gewalteruptionen führen konnte.

Diese spezifischen Umstände sind in den "Principe" sehr deutlich eingeflossen und zwar mit einem Charakter als zu bekämpfende Unwägarkeiten.
Das manifestiert sich am deutlichsten im Schlusswort, respektive XXVI. Kapitel, dem "Aufruf, Italien von den Barbaren zu befreien" (Übersetzung Friedrich von Oppeln-Bronikowski, Insel Verlag 2001).
Seine Einlassungen über das Söldnerwesen (Kapitel XII), dass er wegen der Unzuverlssigkeit/Unkontrollierbarkeit von Söldnern ablehnt und der in Kapitel XIII geäußerte Gedanke eines Volksheeres, dass er beführwortet, lassen, wie ich meine da in zwei Richtungen Interpretationen zu.

Zum einen dahin im "Principe" neben einem allgemeinen Maßnahmenkatalog zum Thema Herrschaft auch eine Behandlung der spezifischen Probleme des italienischen Gebietes als politischem Raum überhaupt zu sehen.
Zum anderen ist der Gedanke eines "Volksheeres" und die Ablehnung des Söldnerwesens ein Grundgedanke, der sich eigentlich schon nicht mehr mit dem "persönlichen Regiment" eines einzelnen Potentaten verträgt, immerhin setzt er vorraus einen gewissen Teil der politisch abgemeldeten Schichten mindestens saisonal unter Waffen zu halten und bedarf dann so etwas wie eines Heeresapparates.
Das tatsächlich aber technisch überhaupt tun zu können setzt die Etablierung bürokratischer Mechanismen vorraus die Bevölkerung überhaupt umfangreich zu erfassen, wie es zur Aushebung dann auch einer gewissen Verrechtlichung bedürfte und irgendeiner Institution, die mit der Ausführung betraut werden müsste, wenn man das konsequent zu Ende denkt.
Das verträgt sich kaum mit den Partikularinteressen der Feudalstände. Gleichzeitig musste die territoriale Zersprlitterung Italiens und die weitgehende Eigenständigkeit der Städte und ihrer Bevölkerungen das Aushebem, mittelalterlichen Traditionen entsprechenden Adelsaufgeboten sehr erschweren, so dass auch das keine wirklich denkbare Option gewesen wäre.

Von dem her verstehe ich das so, dass für Machiavelli die umfangreiche Ermutigung des "Fürsten" (der ja bei Machiavelli durchaus nicht dem gemeingebräuchlichen Fürstenbegriff entspricht, vielleicht sollte man ihn zeitgemäßter mit "Staatsmann" übersetzen), nötigenfalls auch zu grausamen Mitteln gegen Bevölkerung und Konkurrenten zu greifen, nicht als für sich genommenes Ideal ist, sondern als ein Mittel zum Zweck (und zwar mit sehr spezifischem Italien-Bezug) in eine Fürstentum/Herrschaftsbereich die Macht so zu organisieren, dass die widrigen äußeren Bedingungen dadurch überwunden werden können.

Der geäußerte Gedanke zur "Befreiung Italiens" für sich genommen, wie auch der des "Volksheeres" (wenn letzteres auch noch auf der Ebene der Stadtstaaten/Regionalherrschaften zu sehen ist), sind ja beides Gedanken, die über die Konzentration der Macht auf den "Fürsten" deutlich hinausgehen und konsequent zu Ende gedacht dessen freiem Willen Schranken setzen müssen.



@El Quijote

Richtig, ich meinte "kryptischen". Da scheint mir beim etwas zu hastigen Tippen ein fauxpas unterlaufen zu sein.:)
 
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