Ich beschäftige mich nun schon etwas länger mit Marx und freue mich zu sehen, dass es noch Menschen gibt, die ihn ernst nehmen. Ich versuche hier erstmal zwei (implizite) Fragen aufzunehmen:
1. Was ist Ausbeutung?
Um zu verstehen, was Marx unter Ausbeutung verstand und warum das kein moralischer Begriff ist, muss man sich erstmal die marxsche Wertlehre vornehmen. Marx ging wie seine Vorgänger Smith und Ricardo davon aus, dass menschliche Arbeit ökonomischen Wert (d.h. Tauschwert) schafft und zwar nur menschliche Arbeit. Auch Naturstoffe besitzen nur den Wert der Arbeit, die notwendig ist, um sie zu gewinnen. Die Höhe des Wertes wird durch Arbeitszeit gemessen. Im Gegensatz zu Ricardo nahm Marx jedoch an, dass nicht die konkrete Arbeit (Holzfällen, Taxifahren, etc.) sondern menschliche Arbeit schlechthin (d.h. "abstakte Arbeit") diesen Wert bildet und auch nur die "gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeit".
Nun kommt die Klassentheorie ins Spiel: Es gibt zwei gesellschaftliche Klassen, das Proletariat und die Bourgiousie. Proletarier sind in doppeltem Sinne frei: Einmal rechtlich, sie gehören keinem Lehnsherren oder Sklavenhalter und können ihre Arbeitskraft verkaufen, gleichzeitig sind sie auch frei von allen Lebensmitteln, und müssen daher auch ihre Arbeitskraft verkaufen. Die Bourgiousie besitzt die Produktionsmittel und setzt ihr Geld als Kapital ein: Die allgemeine Kapitalformel lautet G-W-G'. Mit ihrem Geld (G) kaufen die Kapitalisten eine bestimmte Ware (W), nämlich die Arbeitskraft. Wer gut aufgepasst hat, weiss was jetzt kommt: Da die Arbeit den Wert schafft, wird die ursprünglich vorgeschossene Geldmenge (G) verwertet und somit vermehrt zu G'.
Schauen wir uns den Arbeitsprozess an: Der Arbeiter verausgabt seine Arbeitskraft und schafft dadurch Wert - meistens acht, zu Marx Zeiten zwölf Stunden am Tag. Ein Teil des Arbeitstages, sagen wir vier Stunden, erarbeitet der Arbeiter den Wert, der sein eigener Lohn sein wird, welchen er zur Reproduktion seiner Arbeitskraft braucht (Essen, Unterkunft, etc.). Wichtig: Im Lohn wird nicht der Wert der Arbeit bezahlt (der wäre acht Stunden), sondern der Wert seiner Arbeitskraft (vier Stunden). Das alles nennt Marx die notwendige Arbeitszeit. Die restlichen vier Stunden arbeitet der Proletarier für den Kapitalisten, die sogenannte Mehrarbeitszeit. Der Proletarier schafft vier Stunden lang Mehrwert, den sich der Kapitalist dann unbezahlt aneignet. Dies tut er nicht, weil er so ein böser Bursche ist, sondern weil der universelle Konkurrenzdruck aller Kapitalisten ihn dazu zwingt, seine Produktivkraft zu steigern. Wenn er nämlich besonders gut ausbeutet, kann er den Anteil der notwendigen Arbeit am Produkt senken und somit auch die Preise, wobei der Mehrwert gleich bleibt. Wichtig ist: Weder Proletarier noch Kapitalist wissen eigentlich wirklich, was da passiert. An der Oberfläche sieht es so aus, als würden sich Kapitalist und Arbeiter den Profit teilen. Weil aber im Arbeitsprozess unbezahlte Arbeit enthalten ist, liegt Ausbeutung vor.
Puh! Das waren jetzt zweihundert Seiten "Kapital" im Schnelldurchgang. Ich denke, da bleiben notwendigerweise einige Unklarheiten, also fragt besser nochmal nach.
2. Kann man die marxsche Klassentheorie heute noch benutzen?
Diese Frage kann man nur mit einem klaren "JA!" beantworten. Mal abgesehen davon, dass der Klassenbegriff weder von Marx erfunden, noch ausschließlich von ihm benutzt wurde (neben Max Weber fällt mir noch Pierre Bourdieu ein), ist dieser Begriff eigentlich nur in Deutschland so verpöhnt. Auch die erzkonservative Margret Thatcher hatte kein Problem damit, von der "working class" zu sprechen.
Wichtiger ist allerdings, was die marxsche Klassentheorie von bürgerlichen Vorstellungen unterscheidet. Es geht keinesfalls um äußerliche Dinge, wie Einkommen, Lebenstandart, Konsumverhalten, etc. Sondern um die Stellung im Produktionsprozess: Es muss immer Leute geben, die gezwungen sind ihre Arbeitskraft zu verkaufen und es muss Leute geben, die ihr Geld als Kapital einsetzen, also Arbeitskraft kaufen und verwerten.
Die Klasse ist keinesfalls ein Propagandabegriff um "die Gesellschaft aufeinander zu hetzen", sondern sowohl ein reales Verhältnis, als auch eine Kategorie zur Erklärung des Kapitalismus.
(Das geht jetzt schon über die Fragestellung hinaus, aber ich würde mich auch dagegen wehren, dass die marxsche Theorie auf eine Agitation verkürzt wird. Marx wollte keine Programmschrift für irgendwelche Parteien schreiben [so ist er oft in der Arbeiterbewegung misverstanden worden], sondern die realen Widersprüche im Kapitalismus auf ihre Sprengkraft untersuchen.)
Das erstmal zum Einstieg. Die kontroverseste Frage, nämlich danach warum die Umwälzung nicht stattgefunden hat, habe ich erstmal ausgespart. Würde ich aber gerne mit euch diskutieren.