Massenpsychologie im Lauf der Jahrhunderte

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Massenpsyc

Gast
Ich wollte eine Präsentation abhalten über Massenpsychologie im Laufe der Jahrhunderte.

Das erste Beispiel das mir dazu einfällt ist Aristoteles Summierungstheorie:
http://de.wikipedia.org/wiki/Summierungsthese_(Aristoteles)

Dann scheint erst mal lange Zeit nichts zu kommen und erst im 19. Jahrhundert entwickelt sich etwas wie Massenpsychologie. Doch als bemerkenswerte Ausnahme bleibt noch Condorcet, der sich im Rahmen der Untersuchung von Wahlverfahren sowohl mit den Vorteilen (Geschwornentheorem) als auch mit den Nachteilen (Condorcet-Paradoxon) von Massenentscheidungen beschäftigt.

Im 19. Jahrhundert scheint es eine ganze Menge abschätziger und negativer Beurteilungen der Massenpsychologie zu geben. Le Bon jedenfalls, der selbst sehr negativ urteilt, nennt in seinen Werk einige andere Untersuchungen:
Gustave Le Bon ? Wikipedia

Andererseits scheint anfang des 20. Jahrhunderts Sir Galton angefangen zu haben, auf andere Ergebnisse zu kommen:
Francis Galton ? Wikipedia

Kennt jemand noch andere Stationen der Entwicklung der Massenpsychologie?
Und welcher Zusammenhang besteht zu politischen Umbrüchen der jeweiligen Zeit?
 
Wichtig wäre alle Mal Sigmund Freuds einschlägiger Beitrag zur "Massenpsychologie und Ichanalyse"! --- Ansonsten interessante Frage, werde darüber nachdenken!
 
Kennt jemand noch andere Stationen der Entwicklung der Massenpsychologie?
vielleicht wäre für dich das Kapitel über Krieg in Wofgang Scheibelreiters "die barbarische Gesellschaft - Mentalitätsgeschichte der Merowinger" interessant: dort werden u.a. auch massenpsychologische Phänomene aus den Quellen der damaligen Zeit (Gregor von Tours) beschrieben und untersucht, z.B. die plötzliche und unmotiviert erscheinende panische Flucht eines Heeres während einer Schlacht - - - sehr merkwürdig hierzu, also zu solchen vermutlich massenpsychologischen Erscheinungen, ist die Vorstellung aus dem Umfeld der Wikinger: dass eine böse (?) Walküre nemens herfjötur (Heerfessel) dafür sorge, dass eine der Kampfparteien wie paralysiert nichts macht bzw. in panische Flucht gerät.
vielleicht nützt dir das ein wenig am Rande?
 
Hier ein kleiner Artikel von Hans-Joachim Busch: Die Massenpsychologie Freuds und ihre Fortführung bei Simmel und Adorno. URL: http://www.sfi-frankfurt.de/fileadm...npsychologie_Freuds_und_ihre_Fortfuehrung.pdf

Interessant dürfte auch Reichs "Massenpsychologie des Faschismus" von 1933 sein. Dazu ein Artikel von Bernd Senf: Die Massenpsychologie des Faschismus. Ein Hinweis auf das richtungweisende Werk von Wilhelm Reich, URL: http://www.berndsenf.de/pdf/Die Massenpsychologie des Faschismus.pdf
 
Zunächst fällt mir auf, nachdem ein paar Tage verstrichen sind, dass der Threadersteller scheinbar das Interesse an dem Thema verloren hat. Schade! :(

Es ist ein extrem spannendes und sehr komplexes Thema. Eine sehr gute und knappe Darstellung findet sich beispielsweise bei G. Mai, S. 30-40.

Europa 1918-1939: Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen - Gunther Mai - Google Books

In dieser Darstellung ordnet er das Thema ideengeschichtlich ein und stellt die enge Beziehung her, zwischen der Industrialisierung und dem Aufkommen einer urbanen Arbeiterschaft (Proletariat, Lumpenproletariat, Masse etc.) und der theoretischen Bewertung durch konservative, liberale und linke Theoretiker.

Vor allem aus dem konservativen Spektrum wird, in Anlehnung an Hobbes und Locke, die Gefahr der Masse für ein rationales Gemeinwesen in den Vordergrund gestellt. In dieser Tradition steht auch Le Bon, auch teilweise Canetti. Die Masse wird in der Regel als instinktgetrieben thematisiert, die im wesentlichen durch eine führende "Lichtgestalt" zu sinnvollem Handeln angeleitet wird.

In diesem Sinne sind vor allem die rechten Theoretiker die Wegbereiter in den zwanziger und dreißiger Jahren für eine faschistische Ideologie und den Führerkult. Dieses auch unterstützt durch entsprechende elitetheoretische Konzepte durch Pareto oder Michels (ehernes Gesetz der Oligarchie etc.)

Für die linken Theoretiker gilt entsprechendes in Bezug auf die Behandlung von Massen. Auch in diesem Fall wird der Masse, aufgrund eines noch nicht entwickelten "richtigen Bewußseins" die Einsicht in die Dimension politischen Handelns abgesprochen.

Bereits Marx bindet die "richtige Erkenntnis" an einzelne Personen mit dem richtigen Bewußtsein. Eine Vorstellung, die durch Lenin aufgegriffen wird und die Partei zur politischen Avantgarde des Proletariats befördert. Ein Gedankengang, den Stalin dynamisiert und radikalisiert und zur sozialistischen "Führerpersönlichkeit" degeneriert.

Somit systematisieren die massenpsychologischen Theorien auf der einen Seite die Entwicklungslinien der Modernisierung im 19ten und 20ten Jahrhundert, allerdings sind sie in ihrer Zustandsbeschreibung statisch. Und vor allem die Befunde konservativer Theoretiker stellen nicht die Frage, welche Anstrenungen unternommen werden müssen, um die "Masse" zu einer Gruppe sinnvoll und rational agierender Individien weiter zu entwicklen. Dieses gilt umso mehr, da es sich in diesem Fall im einen Zirkelschluss handel. Es wird der Masse der Zugang zur politischen Teilhabe verwehrt, um dann hinterher zu argumentieren, dass sie es nicht kann. Wie im Fall der unterentwickelten Politikfähigkeit beispielsweise der SPD (und ihren Varianten) nach 1918.

Aktuelle Aspekte, die teilweise im Bereich der "Schwarmintelligenz" angesprochen werden, spiegeln die Veränderung der politischen Kultur wider. Einen zugespitzen politischen Zugang zu diesem Thema sucht die Theorie des kommunikativen Handelns, die bei Habermas ausformuliert ist, in enger Anlehnung an die Moraltheorie von Piaget oder Kohlberg. Durch verstärkte Bildung und Aufklärung, so die Hoffnung, entwicklet sich das politische Individuum zu einem verantwortungsvollen sozialem Wesen.

Vor diesem Hintergrund emanzipieren sich die "Massen" und werden, auch unterstützt durch eine kritische Presse- und Informationslandschaft in die Lage versetzt, rational zu handeln und durch den Diskurs politische Entscheidungen zu finden.

Wichtig ist, den engen historischen Kontext der Theorien zur Massenpsychologie mit zu denken. Das gilt natürlich auch in besonderem Maße für die Arbeit von Reich.
 
Zuletzt bearbeitet:
[...]
Vor diesem Hintergrund emanzipieren sich die "Massen" und werden, auch unterstützt durch eine kritische Presse- und Informationslandschaft in die Lage versetzt, rational zu handeln und durch den Diskurs politische Entscheidungen zu finden.

Da könnte doch auch als Beispiel die Problematik in der englischen Bevölkerung genannt werden. Die Angst vor der Invasion der Insel trieb die Bevölkung vor allem zum Ende des 19. Jahrhundert zu immer wieder kehrenden Massenhysterien, den sogenannten Naval Scare (z.B. 1884 und 1909), die sich auch im starken Maße innen- wie außenpolitisch in England und Europa auswirkten.
 
Die Angst vor der Invasion der Insel trieb die Bevölkung vor allem zum Ende des 19. Jahrhundert zu immer wieder kehrenden Massenhysterien,

Das ist ein gutes Beispiel für die Art, wie durch die Emotionalisierung von Themen die rationale Behandlung von Themen ausgeschlossen wird.

Es zeigt aber auch, dass Zivilcourage und die Bereitschaft auch der Mehrheit zu widersprechen, sofern man gute Argumente hat, die Basis für ein rationales Gemeinwesen bildet.

Und die Qualität einer politischen Kultur bemißt sich vermutlich auch daran, wie stark sie in der Lage ist, massenpsychologische Prozesse auszubremsen und in einen rationalen und nicht-emotionalen politischen oder sozialen Diskurs zu pressen.

Und da kommt, unter anderem, einer unabhängigen und kritischen Presse eine überragende Bedeutung zu.
 
sehr merkwürdig hierzu, also zu solchen vermutlich massenpsychologischen Erscheinungen, ist die Vorstellung aus dem Umfeld der Wikinger: dass eine böse (?) Walküre nemens herfjötur (Heerfessel) dafür sorge, dass eine der Kampfparteien wie paralysiert nichts macht bzw. in panische Flucht gerät.
vielleicht nützt dir das ein wenig am Rande?

Wieso merkwürdig? Es mag aus unserer westlich-"aufgeklärten" Perspektive lächerlich erscheinen, aber es transportiert doch das Wissen diese Gesellschaft über das betreffende Phänomen in ihrer Zeit. Viele Vorstellungen, durchaus auch von Typen wie Newton oder Kepler, würden wir heute auch als "merkwürdig" empfinden, wenn man die Hintergründe nicht kennt, vor denen solche Behauptungen aufgestellt oder diskutiert wurden. ;-)
(Ich hoffe, dem entnimmt man (zumindest), wie tolerant ich gegenüber den Vorstellungen anderer Epochen bin.)

Es überrascht mich allerdings nicht, dass Massenpsychologische Vorstellungen in der Zeit vor der Aufklärung anscheinend so gut wie gar nicht vorhanden waren. Ich habe so gut wie nichts gefunden und das hätte meinen Vorurteil entsprochen. Eigentlich interessant. Wieso hat man sich vorher nie damit befasst, wie sich Menschen-"Massen" verhalten? Zumindest (proto-)Demokratien mit Älttestenräten etc. gab es ja schon vorher.
 
Es ist ein extrem spannendes und sehr komplexes Thema.

Da hast du völlig recht!

Bei der Untersuchung von Massenpsychologie kann man wohl Momente wie Gerüchte oder Falschmeldungen - bzw. ihre Wirkung nicht ausklammern: Beispiel Beginn der franz. Revolution:

"Auf dem Lande verbreitete sich wie ein Flächenbrand die "Grande Peur", die große Angst vor einer Aristokraten- und Auslandsverschwörung, eine Massenpsychose, die zugleich durch Falschmeldungen über heranziehende Räuber- und Bettlerbanden ausgelöst wurde. Im Kampf gegen die eingebildeten Gefahren rotteten sich die Bauern zusammen und stürmten die Schlösser und Gutshöfe der Grundherren. Im Oktober 1789 erzwang der von den Marktweibern und Frauen angeführte Zug der Pariser nach Versailles die Verlegung des Hofes nach Paris ..." [1]

Wenn dann noch die Urinstinkte des Menschen betroffen sind ...

Grüße
excideuil

[1] Fehrenbach, Elisabeth: Vom Ancien régime zum Wiener Kongress – Europa 1789-1815, R. Oldenbourg, München, 2001, Seiten 21-22
 
Es überrascht mich allerdings nicht, dass Massenpsychologische Vorstellungen in der Zeit vor der Aufklärung anscheinend so gut wie gar nicht vorhanden waren. Ich habe so gut wie nichts gefunden und das hätte meinen Vorurteil entsprochen. Eigentlich interessant. Wieso hat man sich vorher nie damit befasst, wie sich Menschen-"Massen" verhalten? Zumindest (proto-)Demokratien mit Älttestenräten etc. gab es ja schon vorher.

Ich zitiere einfach mal Ebbinghaus (nach Wikipedia): "Die Psychologie „hat eine lange Vergangenheit, aber nur eine kurze Geschichte“ (Ebbinghaus, 1908)"Geschichte der Psychologie ? Wikipedia

Wenn es also um eine Präsentation zur "Massenpsychologie im Laufe der Jahrhunderte" gehen soll, muss dieser Fakt zuallererst in Rechnung gestellt werden: Dass es nämlich die Psychologie als (zunehmend anerkannte) Wissenschaft erst seit dem 19. Jhdt. gab. So erklären sich evtl. auch die zunächst kritischen Stimmen, die mit den ersten massenpsychologischen Ansätzen einhergingen.

Ist das geklärt, könnte man versuchen, nach massenpsychologischen Ansätzen in nicht dezidiert psychologischen Werken (wie z. B. der Politik Aristoteles´) zu suchen - so wie das hier ja bereits geschehen ist.

Dann könnte man klären, inwiefern man sich wirklich

vorher nie damit befasst [hat], wie sich Menschen-"Massen" verhalten?
 
@excideuil: Zustimmung, und es ist vermutlich ein gutes Beispiel für eine künstliche Inszenierung einer Hysterie, die sehr rationalen politischen Interessen gedient hat. Auch wenn diese Interessen nicht immer deckungsgleich gewesen sind.

Darüberhinaus: Interessant an dem Thema ist die völlig unterschiedliche Bewertung des gleichen Aspekts in der theoretischen Diskussion, wie bei Le Bon und auch bei y Gasset dieses reduzierte, zeitlich gebundene einseitige Erkenntnisinteresse deutlich zu Tage tritt.

So andererseits zu beobachten bei einem Feldherr, der durch sein Charisma die Motivation seiner Armee "beflügelt" und ihr "Kampfeswillen" gibt bis hin zur Bereitschaft ihm auf Leben und Tod in die Schlacht zu folgen, wird diese Form der massenpsychologischen Beeinflussung ausgesprochen positiv bewertet.

Ein Feldherr, der diese Kunst der Motivation nicht besessen hat, hat es deutlich schwerer gehabt und sein Scheitern war deutlich wahrscheinlicher.

OT: Die meisten Management-Theorien bauen letzlich auf dem Führer, Motivation und Masse bzw. Follower-Prinzip auf. Auch wenn einzelne Autoren den "Mythos" der Motivation als "hohles Konstukt" meinen erkannt zu haben.

Dieses Scheitern der emotionalen Ausrichtung bzw. Formierung von Gruppen zeigt sich dann besonders auffällig, sofern der Kampfeswille verfliegt und durch eine sich real oder vermeintlich abzeichnende Niederlage die Haltung der Soldaten in "Panik" umschlägt und aus der disziplinierten Gruppe eine Horde von Soldateska wird, die ihr Leben versuchen zu retten.

Diese Form der zielgerichteten massenpsychologischen Beeinflussung im Umfeld der Herrschaft oder Heerführung wird nicht selten (vgl. oben) der massenpsychologischen Reaktion oder Aktion amorpher Massen oder Mobs explizit oder meistens implizit kontrastiert.

Das Prinzip der hochgradigen Emotionalisierung ist in beiden Fällen jedoch das gleiche, wird aber unterschiedlich theoretisch aufbereitet und bewertet.

Es sind in der Regel jedoch Elemente vorhanden, die den massenpsychologischen Prozessen gemeinsam sind. Es geht ein Impuls durch ein Zentrum aus ("Führer"), die Resonanzgruppe, der "Mob" ist nicht selten hochgradig emotionalisiert, da in der Regel eine Form von Bedrohung wahrgenommen wird. Und nicht zuletzt ist es die stark eingeschränkte Informationsgrundlage, die weitgehend die rationale Reaktion verhindert.

In diesem Sinne sind massenpsychologische Effekte, auch wenn man an Börsenchrash denkt und die Reaktion der "Börsen-Lemminge", sehr heterogene Prozesse, die zum einen für unserer Zusammenleben notwendig sind. Da sie auf unserer Fähigkeit aufbauen zu kooperieren und zielgerichtet zu handeln, andererseits wirken sie nicht selten aus vielen unterschiedlichen Gründen destruktiv. Aber dieses lediglich auf den "Pöbel" oder den "Mob" zu beziehen greift vermutlich deutlich zu kurz.
 
Zuletzt bearbeitet:
Für die linken Theoretiker gilt entsprechendes in Bezug auf die Behandlung von Massen. Auch in diesem Fall wird der Masse, aufgrund eines noch nicht entwickelten "richtigen Bewußseins" die Einsicht in die Dimension politischen Handelns abgesprochen.

Das kommt ganz auf die betrachteten "linken Theoretiker" an, glaub mir. Sowohl Anarchisten als auch Rosa Luxemburg sahen das durchaus anders. ;)

Bereits Marx bindet die "richtige Erkenntnis" jn einzelne Personen mit dem richtigen Bewußtsein. Eine Vorstellung, die durch Lenin aufgegriffen wird und die Partei zur politischen Avantgarde des Proletariats befördert. Ein Gedankengang, den Stalin dynamisiert und radikalisiert und zur sozialistischen "Führerpersönlichkeit" degeneriert.

Wenn Marx von Klassenbewusstsein als dem "richtigen Bewusstsein" spricht, meint er damit Interessen, die aus der materiellen Situation entstehen. Dies steht einer "Avantgarde", die nach erfolgter Revolution eine politische Kaste mit eigenen Interessen bildet, eigentlich diamtetral entgegen.

Aber dis ham einije nich jeblickt.

Zur Rezeption massenpsychologischer Phänomene der Antike: Die Rolle der Volksversammlung in der attischen Demokratie und ihre bekannte Anfälligkeit gegen "demagogische Verführung" ist ein breites Feld, auch schon bei Aristoteles.
 
1. Das kommt ganz auf die betrachteten "linken Theoretiker" an, glaub mir. Sowohl Anarchisten als auch Rosa Luxemburg sahen das durchaus anders. ;)

2. Wenn Marx von Klassenbewusstsein als dem "richtigen Bewusstsein" spricht, meint er damit Interessen, die aus der materiellen Situation entstehen. Dies steht einer "Avantgarde", die nach erfolgter Revolution eine politische Kaste mit eigenen Interessen bildet, eigentlich diamtetral entgegen.

ad 1: 1. Vielen Dank für den gutgemeinten, "väterlichen Hinweis", allerdings bin ich mir nicht so ganz sicher, ob ich alleine auf der Grundlage einer Aufforderung "Glauben" schenken möchte.:nono:

2. Es freut mich natürlich, dass wir offensichtlich Zuwachs im Lager der profunden Kenner der Theoriebildung des Anarchismus bzw. auch von R. Luxemburg gefunden haben.

Deswegen doch meine Nachfrage, in welchen Schriften die obigen Theoretiker die von Dir beschriebenen Position formuliert haben und wie grenzen sie sich denn explizit oder implizit beispielsweise von Marx oder Engels ab. Und natürlich in Bezug auf die zur Dikussion stehenden Thesen.

ad 2: Vielen Dank für diesen Hinweis, aber das ist durchaus nicht neu. Es stellt sich vielmehr das Paradoxon der Ausbildung des "richtigen Bewußtseins" unter "falschen Produktsbedingungen und genau das haben Marx und in der Folge Lenin mit einer "idealistischen" Denkfigur aufgelöst, dass das "Sein durchaus nicht immer das Bewußtsein" bestimmt.

Indem Marx beispielsweise im Kommunistischen Manifest Teilen der Bourgeoisie zugesteht, "und namentlich ein Teil dieser Bourgeoisieideologen, welche zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben", einen Teil der Ideologieinhalte bzw. Einsichten zu vermitteln, in welche Richtung sich die Revolution bewegen sollte.

Dieser Teil der Bevölkerung hat, trotz "falscher Produktionverhältnisse" eine "richtige Einsicht" in den historischen Ablauf gewonnen und entwickelt aus dieser Einsicht gemeinsam mit dem Proletariat die politischen Zielsetzungen.

Und aus der Sicht von Marx/Engels hat das überhaupt nichts mit einer "Kaste" zu tun, da die "Avatgarde" als Teil des sich neu konstituierten historischen politischen Subjekts, einer direkten demokratischen Kontrolle unterliegt. Die sie an die Situation beispielsweise der Pariser Commune binden. Wie beispielsweise hier dargestellt:

http://books.google.de/books?id=y4o...a=X&ei=SIiOT4PhAeeG4gT3yszaDw&ved=0CDoQ6AEwAQ

Ansonsten ergibt sich mit dem Wegfall der kapitalistischen Produktionsweise, der Kollektivierung der Produktionsverhältnisse ein Ende antagonistischer Interessenpositionen und somit, quasi automatisch ein "Absterben des Staates" etc. etc. und wir können das gerne im einzelnen diskutieren, so verkürzt Marx/Engels.

Und genau auf diesen Teil, in dem das Proletariat, trotz "falscher materieller Voraussetzungen" dennoch zum "richtigen Bewußsein" übergeht, stellte meine ursprüngliche Argumentation in Bezug auf die Avantgarde und massenpsychologische Prozesse ab.
 
Zuletzt bearbeitet:
Es überrascht mich allerdings nicht, dass Massenpsychologische Vorstellungen in der Zeit vor der Aufklärung anscheinend so gut wie gar nicht vorhanden waren. Ich habe so gut wie nichts gefunden und das hätte meinen Vorurteil entsprochen. Eigentlich interessant. Wieso hat man sich vorher nie damit befasst, wie sich Menschen-"Massen" verhalten? Zumindest (proto-)Demokratien mit Älttestenräten etc. gab es ja schon vorher.

"Ist hiernach, fuhr ich fort, anzunehmen – das ist nun die Frage, die ich vorhin folgen lassen wollte –, daß die Unersättlichkeit in diesem Gute (der Freiheit) auch diese Verfassung umwandelt und in die Lage versetzt, daß sie eines Tyrannen bedürftig wird?
Wie soll das kommen? fragte er.
Wenn eine nach Freiheit durstige Demokratie, denke ich, an ihre Spitze schlechte Mundschenke bekommt und über Gebühr mit dem stärksten Feuergeiste der Freiheit sich berauscht, so pflegt sie bekanntlich ihre Regierenden, wenn sie nicht ganz nachgiebig sind und im Übermaß die Freiheit verzapfen, als Verräter und Oligarchen zu beschuldigen und zu bestrafen.
Ja, sagte er, so machen sie's.
Und die den Obrigkeiten noch gehorsamen Bürger, fuhr ich [319] fort, diese tritt die Demokratie mit Füßen als Bedientenseelen und Nichtswürdige; dagegen die Beamten, die sich wie Untergebene gebärden, und Untergebene, die sich das Ansehen von Beamten geben, die lobt und erhebt die Demokratie im Privat- wie im Staatsleben: ist es da nicht eine absolute Notwendigkeit, daß in einem solchen Staate über alles der Freiheitsschwindel kommt?
Allerdings.
Ja, daß er, mein Freund, sprach ich weiter, sogar in das Familienleben eindringt und es endlich dahin kommt, daß auch dem Vieh jene Zügellosigkeit sich einpflanzt?
Wie meinen wir das z.B.? fragte er.
Wenn z.B., erwiderte ich, ein Vater sich gewöhnt, einen Buben vorzustellen, und sich vor seinen Söhnen fürchtet, wenn dagegen ein Sohn den Vater spielt und weder Scham noch Furcht vor seinen Eltern hat, damit er nämlich frei sei: wenn der bloße Beisasse sich dem Altbürger gleichstellt und der Altbürger sich zum Beisassen herabläßt, und ebenso der Ausländer.
Ja, so geht es, sagte er.
Und es bleibt nicht allein, fuhr ich fort, bei diesen Freiheitserscheinungen, sondern es ereignen sich auch noch andere Kleinigkeiten folgender Art: Der Lehrer fürchtet und hätschelt seine Schüler, die Schüler fahren den Lehrern über die Nase und so auch ihren Erziehern. Und überhaupt spielen die jungen Leute die Rolle der alten und wetteifern mit ihnen in Wort und Tat, während Männer mit grauen Köpfen sich in die Gesellschaft der jungen Burschen herbeilassen, darin von Possen und Späßen überfließen, ähnlich den Jungen, damit sie nur ja nicht als ernste Murrköpfe, nicht als strenge Gebieter erscheinen.
Ja, allerdings, sagte er.
Darauf sagte ich weiter; aber der höchste Grad von Volksfreiheit, die in einem solchen Staate zum Vorschein kommen kann, tritt ein, wenn bekanntlich die gekauften Sklaven und Sklavinnen ebenso frei sind wie die kaufenden Herren und Herrinnen. Im Verhalten aber der Weiber zu Männern und der Männer zu Weibern, wie groß da die Gleichheit und Freiheit ist, das hätte ich beinahe vergessen zu erwähnen!
Wollen wir nicht, fragte er, um mit Aischylos zu sprechen, vortragen, wie es uns eben in den Mund kam?
[320] Jawohl, antwortete ich, und ich wenigstens mache es so. Was nun das Benehmen der unter der Herrschaft der Menschen lebenden Tiere anlangt, so glaubt niemand, der es nicht erfahren hat, um wieviel freier diese hier sind als sonst. Denn nicht nur die Hunde sind nach dem Sprichworte ganz wie ihre Herrinnen, sondern auch Pferde und Esel sind da gewohnt, ganz wie freie Leute und gravitätisch einherzuschreiten, und fällen auf den Straßen jeden ihnen Begegnenden an, wenn er vor ihnen nicht auf die Seite geht, und so ist alles übrige voll von Freiheit.
Da sprichst du mir ganz aus der Seele, sagte er; denn solche Erfahrung mache ich oft, wenn ich auf das Land gehe.
Wenn du alle diese Erscheinungen zusammennimmst, fuhr ich fort, siehst du nun ein, was das Allerschlimmste hierbei ist? Daß sie die Seele der Bürger so empfindlich machen, daß sie, wenn ihnen jemand auch nur den mindesten Zwang antun will, sich alsbald verletzt fühlen und es nicht ertragen; ja endlich, wie du wohl weißt, verachten sie gar alle Gesetze, die geschriebenen wie die ungeschriebenen, um nur keinen Gebieter in irgend einer Beziehung über sich zu haben.
Ja, sagte er, das weiß ich sehr wohl.
Diese so schöne, sagte ich, und jugendlich kecke Wirtschaft, mein Lieber, ist also denn der Anfang, woraus die Staatsform der Tyrannis erwächst, wie ich glaube.
Ja, sagte er, freilich eine jugendlich kecke Wirtschaft; aber was folgt auf diesen Anfang?
Derselbe proletarische Krankheitsstoff, antwortete ich, der in der Geldoligarchie sich erzeugte und sie zugrunde richtete, dieser erzeugt sich in diesem Freistaate in einem noch höheren und stärkeren Grade aus der zügellosen Freiheit und bringt die Demokratie in die Knechtschaft; und in der Tat führt überhaupt das Allzuviel gern einen Umschlag in das Gegenteil mit sich, z.B. in den Jahreszeiten, im Wachsen der Pflanzen und Körper, und so auch nun ganz vorzüglich in den Verfassungen.
Natürlich , sagte er.
Denn die allzu große Freiheit schlägt offenbar in nichts anderes um als in allzu große Knechtschaft, sowohl beim Individuum wie beim Staate." (Platon, Politeia, XIII)


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