Mekka 1979

I

inter-esse

Gast
Hallo, liebe Geschichtsfreunde,

ich habe neulich eine Dokumentation von Arte über die Angriffe auf die Große Moschee in Mekka 1979 gesehen. Nun fand ich sie sehr eindrucksvoll, aber in Bezug auf die Hintergründe doch etwas spärlich. Deshalb meine Frage: In der Dokumentation wird immerzu davon gesprochen, dass es sich um eine Staatskrise gehandelt habe, die ganze Angelegenheit auch gut hätte anders verlaufen (etwa mit dem Sturz der Sauds) können - worauf beruht diese Einschätzung? Wie wurde denn diese Bewegung und die Besetzung der Großen Moschee beispielsweise in der Bevölkerung aufgenommen?

Ich hoffe, es finden sich einige Kenner der Materie hier, die mir ein bisschen mehr Hintergrundinformationen geben können.

Danke und viele Grüße!
 
Man hat einen Mahdī (die islamische Version des Messias, wobei das Wort Messias im Arabischen mašīḥ lautet) präsentiert. Zudem gab es einen wichtigen Kritikpunkt an der sa'udischen Regierung: Deren (vermeintliche) Annäherung an den Westen, welche radikalen Wahhābiten - wobei die Wahhābiten ja an sich schon eine radikale Strömung des sunnitischen Islam darstellen - ein Dorn im Auge war. Der Wahhābismus ist dabei die sa'udische Staatsdoktrin. Davor, währenddessen und bis heute.
 
Das ist etwas verkürzt dargestellt. Zum einen gab es Kritik am Haus Sa'ud, dessen Mitglieder als dekadent wahrgenommen wurden, da diese zu Hause Wasser predigten, aber bei Auslandsaufenthalten allen möglichen Lastern nachgingen. Dies war nicht nur strenggläubigen Wahhabiten ein Dorn im Auge, sondern in weiten Kreisen der saudischen Bevölkerung sowie auch der Bevölkerung weiterer arabischer bzw muslimischer Staaten. Natürlich war fundamentalistischen Kreisen auch die Modernisierung des Landes unwillkommen; diese wurde aber sozus als Beifang der Lasterhaftigkeit des Königshauses insgesamt gesehen.

Dazu kommt, daß der Ort des Angriffs sehr geschickt ausgewählt war: im Heilligen Bezirk in Mekka ist laut Muhammad jegliche Gewalt und Waffeneinsatz untersagt. Daher hatte der sa'udische König so richtig die Kronjuwelen in der Schraubzwinge: er hätte ja gerne, durfte aber nicht wagen, dort so einfach das Militär hineinzuschicken, sondern mußte mit den muslimischen Würdenträgern eine Fatwa aushandeln. Bei den Verhandlungen war das Königshaus Sa'ud in einer denkbar unvorteilhaften Position und außerdem eilte es ja auch noch, weil täglich - bzw stündlich der Funke zünden und ein allgemeiner Aufstand im Land losbrechen konnte.

Das Haus Sa'ud sitzt insgesamt weniger bequem im Sessel als man vermuten könnte. Zunächst muß zur Sicherung der Macht die unterstützende Klientel bedient werden, mit Pöstchen, Geld und sonstigen Leckerchen. Damit wird die Machtposition gesichert. Es ist also gut vorstellbar, daß das System fix ins Rutschen kommt, wenn diese Klientel abspringt, weil von anderer Seite fettere Pfründe versprochen wird.

Bei der WP gibt es einen interessanten Artikel zum Anführer des Aufstands:
Dschuhaimān al-ʿUtaibī – Wikipedia
Unten im Artikel sind weiterführende Links angegeben, von denen ich den zum Spiegel-Artikel warm empfehle - ich habe ihn zwar eben nur auf die Schnelle überflogen, habe jedoch den Eindruck erhalten, daß der Artikel mit einigem Hintergrundwissen verfaßt wurde. Insbesondere die dort ngesprochenen Konsequenzen und Auswirkungen bzw des fundamentalistischen islamischen Terrors werden in Europa nicht so wahrgenommen und die Rolle bzw der Aktionsspielraum des Königshauses wohl auch nicht zutreffend eingeschätzt.
 
Als Ergänzung:
Der Anführer der Rebellen, Juhayman al-Utaybi, war ca. 1940 in einem Ort geboren worden, der eng historisch mit dem "Ikhwan" verbunden war.

Vor diesem Hintergrund, so Commins, wurde die Besetzung - auch - als Wiederkehr des "Ikhwan" interpretiert. Commins weist jedoch explizit darauf hin, dass diese Vermutung nicht zugetroffen habe, da die Besetzer: "They were millenarians, they rejected the monarchy and they condemned the Wahhabi ulama." (Commins, S. 163) Und unterschieden sich somit in einer Reihe von Punkten. Aber vermutlich nicht in der militanten Motivation, etwas ändern zu wollen.

Wichtig ist zudem der Kontext: Im Jahr 1979 gab es eine "religiöse Revolution" im Nahen Osten, mit dem Abgang des Schahs in Persien. Ausgehend von Ägypten bzw. den "Muslimischen Bruderschaften" ergaben sich Tendenzen zur Radikalisierung im gesamten Nahen Osten.

Und es gab eine relativ enge Zusammenarbeit der Saudis mit den USA die den Hintergrund für die religiöse Kritik an "Al Saud" verstärkte.

"In the specific cas of Saudi Arabia, he [Juhayman al-Utaybi] argued that its illegitimite regime began when Abd al Aziz ibn Saud refused to launch a jihad against the Ottoman and undermined the position of Sharif Husayn of Mecca." (ebd)

Die Besetzung von Mekka ist somit nur vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse zu verstehen, in denen religiöse und dynastische Aspekte eng verbunden sind und der konkreten post-kolonialen Vergangenheitsbewältigung und massiven westlichen Wirtschaftsinteressen an den Ölvorkommen in der Region.

zum Anführer der Radikalen:
https://en.wikipedia.org/wiki/Juhayman_al-Otaybi

zum historischen Kontext, in den die Besetzer gestellt wurden
https://de.wikipedia.org/wiki/Ichwān

zur Einschätzung der Wurzeln des islamischen Millenarismus:
https://books.google.de/books?id=nDs7DwAAQBAJ&pg=PT23&lpg=PT23&dq=islamischer+millenarismus&source=bl&ots=2STa3KNISt&sig=ACfU3U395vRu550Z7h6V-Rxd--SLTiExvQ&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwikq56EsMPgAhVByKQKHQgjD78Q6AEwB3oECAEQAQ#v=onepage&q=islamischer millenarismus&f=false

Bellaigue, Christopher de (2018): Die islamische Aufklärung. Der Konflikt zwischen Glaube und Vernunft : 1798 bis heute. Darmstadt: WBG.
Commins, David Dean (2016): Wahhabi mission and saudi arabia.: I B Tauris.
 
Nun sind sich allerdings Ši'iten und Wahhābiten spinnefeind, von daher sehe ich den nahen Zeitpunkt der beiden Rebellionen als Zufall und unzusammenhänged.
 
Es war der postkoloniale Bezugspunkt, der eine Gemeinsamkeit generiert ohne Zusammenarbeit zu bedeuten:

In diesem Sinne verweisen die Aktivitäten der islamischen Fundamentalisten auf nicht geklärte Probleme in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens und in ihrem Verhältnis zum "Imperium der Moderne", also den europäischen Staaten und den USA.

Die Entwicklungen im Nahen bzw. Mittleren Osten sind dabei historisch in komplexe ethnische, politische und konfessionelle Konfliktlinien eingebunden. Und sind auch nur vor diesem Hintergrund zu verstehen.

Besonders gravieren ist, dass die "Ungleichzeitigkeit" der Entwicklung in der globalisierten Welt bestimmten Regionen, historisch bedingt, nicht die gleichen Möglichkeiten zur politischen Entwicklung eingeräumt hat, wie im Bereich des Nahen Ostens.

Die sozialdarwinistiche Sichtweise der Kolonialmächte verhinderte in den entscheidenden Phase der Herausbildung der Moderne, also einer nationalistischen republikanischen Tradition, eine entsprechende Entwicklung auch in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens.

Vor diesem Hintergrund kann man ein Teil der politischen Probleme, die m.E. fälschlicherweise zum "Kampf der Kulturen" stilisiert worden sind, in diesen Kontext einer nachholenden islamischen eigenständigen Modernisierung einordnen. 1)

Dass der Islam - im instrumentellen Sinne - als Ideologie zur Mobilisierung und Disziplinierung der Massen benutzt wird, entspringt der Notwendigkeit einer massenhaften Mobilisierung, die auf eine revolutionäre Bewegung hinausläuft.

In diesem Sinne ist die "islamische Apokalypse" - möglicherweise - eine wichtige Zwischenstation auf dem Weg zur Formung neuer und nachhaltiger nationalstaatlicher Strukturen in dieser politisch nicht saturierten Region.

1. Halliday, Fred (2005.): The Middle East in international relations. Power, politics and ideology. Cambridge, UK, New York: Cambridge
 
Okay, der Zeitzeuge ist der Feind des Historikers.... ;)
Die Ereignisse im Iran hatten jedoch neben den Animositäten zwischen Schiiten und Sunniten allgemein (wenn auch im besonderen zwischen Shiiten und Wahhabiten) durchaus Parallelen: auch im Iran wurde ein Regime bzw Herrscher beseitigt, der vom Westen gestützt wurde und - zumindest von der propagierten Ideologie her - sein Land an der westlichen Entwicklung orientieren wollte. Hierbei zogen einerseits die armen Massen nicht unbedingt mit sowie andererseits die etablierten sozialen Schichten wie zb die Großgrundbesitzer. Auch in der saudischen Gesellschaft gab es soziale Unterschiede, die für religiöse/ religiös verbrämte Opposition Ansatzpunkte lieferten.

Eine weitere Parallele bestand darin, daß auch der Shah und weite Kreise der sozialen Oberschicht nicht unbedingt nach islamischen Grundsätzen lebten. Dies förderte natürlich die Empfänglichkeit für entsprechende religiös bestimmte Propaganda.
Als Beispiel: so etablierte sich während der Aufstände das Tragen des Tshador als 'revolutionär' - und zwar, weil Frauen unter dem Tshador Flugblätter oder auch Waffen unbemerkt befördern konnten.

Andererseits gab es im Iran auchpolitische Gruppen/Parteien, die das Shah-Regime abschaffen wollten und es war ebenso Fakt, daß sich der Shah nur mit einem ordentlichen Maß an Repression und Gewalt gegen die Bevölkerung im Sattel bzw auf dem Thron halten konnte. Dies trotz allen Terrors im Land sehr lange mit westlicher Unterstützung, da der Shah den Zugang zum iranischen Öl ermöglichte (man erinnere sich: Mossadegh hatte da mal was verstaatlichen wollen...).
Wie wir uns erinnern, fand dieser Terror - der iranische Geheimdienst Savak - gegen die Bevölkerung nicht nur im Iran statt, sondern zb auch beim Shah-Besuch in Berlin, als die sogen "Prügelperser" mit Latten auf protestierende Studenten eindroschen, ohne daß die Polizei einschritt. Der Savak verfolgte oppositionelle Iraner auch im Ausland, so daß politische Aktivität für Iraner (sowie für ihre Angehörigen im Iran) auch hier nicht ungefährlich war.

Signalwirkung hatten die Ereignisse im Iran durchaus. Und seinerzeit gab es - zwar vorwiegend -- unter iranischen StudentInnen hier in Deutschland eine Stimmung wie Jahre später beim Arabischen Frühling -- im Land selbst natürlich auch. Es war eine Aufbruchstimmung. Ich erinnere mich an etliche iranische Kommilitonen, die im Überschwang zurück in den Iran gingen, und ich bezweifele, daß dies in allen Fällen eine gute Entscheidung war (wie bei einem Nachbarn im Wohnheim, der im erneut repressiven Iran mit seinem Sturkopf, dem ausgeprägten Hang zur sehr eigenen Meinung sowie einem entsprechenden Mundwerk versehen wohl nicht wirklich am richtigen Ort war - ich habe seither gehofft, daß es ihm gut geht...).


Als Nebenbemerkung:
Es ist nicht der, sondern die Ikhwan. Ikhwan heißt übersetzt "Brüder". So wie in Muslimbrüder - al-ikhwan al-muslimi:n. (Die Singularform ist /a:kh/.)
 
Während der Besetzung des Heiligtums formulierten die Besetzer ihre Forderungen (zitiert nach Florian Peil, Die Besetzung der Großen Moschee von Mekka : sozialer Hintergrund und Ideologie der Ihwan, in: Orient : deutsche Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur des Orients, Jg. 47, Heft 3, S. 387-408, hier S. 405.):

  • Sturz der korrupten und unislamischen Monarchie der Al Sa'ud mit der anschließenden Schaffung eines islamischen Staates.
  • Beendigung der Verschwendung nationaler Ressourcen sowie der Korruption; Einstellung der Eröl-Exporte in die USA aufgrund deren Ablehnung des Islam und der Muslime.
  • Entlassung der Religionsgelehrten, die die Religion instrumentalisieren, um die unrechtmäßige Herrschaft der Al Sa'ud zu decken, vorallem der Gelehrten Harakan, Ibn Lahidan, Tantawi, Sawwaf und Sarawi;
  • Ablehnung jeder Art von Staatsdienst;
  • Abbruch der diplomatischen Beziehungen zum Westen und Ausweisung aller ausländischen Experten, Militärs und Diplomaten;
  • Verbot für Frauen, öffentliche Handlungen auszuüben;
  • Verbot von Radio, Fernsehen, Fotografie und Bildern jeder Art;
  • Verbot des Fußballspiels;
  • Verbot von Musik, Zigaretten und Alkohol;
  • Verbot, den taub länger als bis zum Knöchel reichend zu tragen [....];

Wie EQ schon anmerkte, gibt es keinen Zusammenhang zwischen Islamischer Revolution im Iran und der Besetzung Mekka durch die 'Ihwan', Letztere hatten Jahre vor Chomeinis Ausweisung aus dem Irak ihre Radikalisierung durchlaufen. Im Iran waren z.B. anti-kolonialistische Motive entlang der iranische Historie selbst in der Rhetorik von Chomeini deutlich vorhanden und ausgesprochen 'manipulativ' eingesetzt worden, Saudi-Arabien weit davon entfernt, je ein Region 'westlich'-kolonialistischer Beherrschung gewesen zu sein.
 
Wie EQ schon anmerkte, gibt es keinen Zusammenhang zwischen Islamischer Revolution im Iran und der Besetzung Mekka durch die 'Ihwan', Letztere hatten Jahre vor Chomeinis Ausweisung aus dem Irak ihre Radikalisierung durchlaufen. Im Iran waren z.B. anti-kolonialistische Motive entlang der iranische Historie selbst in der Rhetorik von Chomeini deutlich vorhanden und ausgesprochen 'manipulativ' eingesetzt worden, Saudi-Arabien weit davon entfernt, je ein Region 'westlich'-kolonialistischer Beherrschung gewesen zu sein.

Und diese Radikalisierung hat zwar Ähnlichkeiten mit der iranischen Entwicklung, ist in den Wurzeln (wird oben in den Forderungen auch deutlich) aber ein saudisches Phänomen, das - wenn außer-saudisch, dann - einen ägyptischen Kontext hat.
 
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