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Guten Tag,
mich würde quasi die "Rezeptionsgeschichte" von der Geschichtswissenschaft und ihrem Selbstverständnis interessieren. Wie sah (und sieht ) es mit der Rolle von philosophischen Systemen aus? Was für Literatur gibt es dazu?
 
Da bist du auf eine schwierige Frage gestoßen. Mir ist leider bei Recherchen nach Fachliteratur noch keine umfassende Darstellung zur Fragestellung unter gekommen. Ich kann dir aus dem Stehgreif nur einen Philosophen empfehlen, der sich wenigstens mit zwei Stadardwerken am Thema beteiligt: Herbert Schnädelbach ? Wikipedia
Ich bin frech und kopiere von dort einfach die zwei Titel:
- Geschichtsphilosophie nach Hegel, Die Probleme des Historismus (1974)
- Philosophie in Deutschland 1831-1933 (1983)
Wichtige Stichworte des 19. Jhs. sind Historismus und die Hegelsche Geschichtsphilosophie.
Und es gibt noch einen Popperianer, der sich in jüngerer Zeit zu dem Thema geäußert hat: Hubert Kiesewetter
Insgesamt ist bei dem Thema einfach die aus heutiger Sicht gewünschte oder behauptete Trennung zwischen empirischer Geschichtsforschung von der (impliziten) Geschichtsphilosophie schwer aufrecht zu erhalten, aber selten expliziert!
 
Guten Tag,
mich würde quasi die "Rezeptionsgeschichte" von der Geschichtswissenschaft und ihrem Selbstverständnis interessieren. Wie sah (und sieht ) es mit der Rolle von philosophischen Systemen aus? Was für Literatur gibt es dazu?

Als Einstieg könntest du dich z.B., falls es philosophisch oder filisofisch sein sollte, mit einer/dieser Seite über Geschichtstheorie/n befassen, vielleicht speziell mit dem Thema "historishe Sozialwissenschaft" beginnend.
Daraus ergeben sich dann möglicherweise weitere/konkretere Fragen, die hier besprochen werden könnten.
 
Beim Durchklichen deines Links fällt mir zur eigentlichen Thema dieses Threads Rezeption der Geschichtswissenschaft nur noch der Philosoph ein, dessentwegen ich mir die zwei Bücher von Schnädelbach in Kopie besorgte: Heinrich Rickert, der an Droysen eigentlich keine Kritik hatte; als ausgesprochener Positivist - wie ich sagen möchte -erarbeitete er ein, wenn auch nicht widerspruchsfreies, so doch erkenntnistheoretisch fundiertes System der Wissenschaften, in dem die Geschichtswissenschaften ähnlich wie die Psychologie ihren Platz sowohl in den Geistes-, als auch in den Naturwissenschaften hat. Er prägte den leider nicht sehr populären, aber (meiner Ansicht nach) grundlegenden Begriff der individualisierenden Begriffsbildung. Leider hat er diese nicht einmal in seiner einzigen philosophiehistorischen Arbeit angewendet, zumindest so habe ich ihn im Vorwort seines Kantbuches verstanden...
 
Ich kann folgendes Büchlein wärmstens empfehlen: Der Sinn der Geschichte. Baberowski betrachtet auf gekonnte Weise verschiedene geschichtsphilosophische Sichtweisen und deren Wirkung auf die historische Wissenschaft. Es ist unterhaltsam geschrieben und ein guter Einstieg in die Geschichtstheorie.
 
Na ja, etwas zwiespältig:
So hinterlässt die Lektüre des Bandes einen zwiespältigen Eindruck, der auch von manchen gelungenen Passagen nicht geglättet wird. Vieles in dieser Darstellung verschiedener Geschichtstheorien ist unbedingt diskussionswürdig, bleibt aber „halb verdaut“. Bringt der neue Stil der Theoriedebatte mit sich, dass die sich beteiligenden Historiker letztlich nur noch mit ihrer ganz persönlichen „Best of“-Liste aufwarten? Dann wäre „Anschlusskommunikation“ kaum mehr möglich. Oder sind die Kriterien für eine weiterführende, vergleichende Auseinandersetzung über Theorie in der Geschichtswissenschaft tatsächlich verloren gegangen? Dann könnte sich Baberowskis eigentümliches Fazit über Weber als allgemeine Prognose erweisen: „Wo sich Historiker zwischen den Begriffen und der Wirklichkeit aufhalten, können sie am Ende über ihre Erkenntnisse nicht mehr sinnvoll nachdenken.“
Rez. TM: J. Baberowski: Der Sinn der Geschichte - H-Soz-u-Kult / Rezensionen / Bücher
 
Na ja, etwas zwiespältig

..stimmt! Die Rezension liest sich wirklich vernichtend. Aber:

"Es ist aus einer Vorlesung über „Theorien der Geschichte“ an der Humboldt-Universität zu Berlin hervorgegangen, die sich offenbar das oben erwähnte Ziel gesetzt hatte, den Studierenden einen breiten Überblick über verschiedene theoretische Zugänge zur Geschichte zu bieten. Für das Buch ist dieser enzyklopädische Zugang erhalten geblieben, und das erweist sich als ein gravierender Nachteil. Denn es fehlt ein Reflexionsschritt, den eine Einführungsvorlesung nicht unbedingt vollziehen muss, der aber einem zusammenhängenden Text erst die nötige Kohärenz vermittelt hätte: Das Buch begründet die Auswahl der behandelten Ansätze nicht (und vor allem nicht die Auslassungsentscheidungen); es verfolgt keine wirklich klare Fragestellung, und es bezieht dadurch die Diskussion der herangezogenen Theoretiker nicht eng genug aufeinander."

Zum Einstieg in die Geschichtstheorie ist es gerade aufgrund seines enzyklopädischen Zugangs empfehlenswert. Natürlich kann man über Auslassungen und subjektive Urteile streiten, dennoch zeigt es die wesentlichen und prägenden Geschichtstheorien seit Hegel auf. Wer diesbezüglich gleich zu Literatur greift, die ihren Inhalt möglichst kohärent und entwicklungsgeschichtlich darbietet, läuft immer Gefahr solch eine festgefügte Perspektive zu übernehmen.
 
Zunächst enthielt ich mich meiner persönliche Frage, ob Heinrich Rickert in diesem von Robert Craven empfohlenen Buch vorkommen würde, wahrscheinlich höchstens in einer Anmerkung im Weberkapitel? Bezüglich des Untertitels "von Hegel bis Foucault" fragte ich mich ferner, ob die Kritische Theorie denn auch gewürdigt würde? Ist allerdings schwer vorstellbar, wenn man in der von Mercy verlinkten Rezension liest:

So bleibt als wenig überraschendes Fazit der Verweis auf eine eingeschränkte Auffassung Marx’ vom menschlichen Leben, mit der zum Beispiel eine Geschichte der Emotionen nicht zu schreiben sei. Die Lebensphilosophie war aber meines Wissens nie die erklärte Stärke der Marx’schen Theorie. Können dafür die Kapitalismuskritik und die Geschichtsdialektik unter den Tisch fallen?

Hat sich Thomas Welskopp nicht zufällig auch zum Thema geäußert? Seine Ironie gefällt mir, zudem auch einer seiner Hinweise auf die Auslassungen bestimmter Ansätze wie etwa - sehr sympathisch - der auf die Forschungen des feministischen Poststrukturalismus; darüber würde ich gerne mehr erfahren!

Aber vor allem stößt mir das prägnant herausgesuchte Baberowski-Zitat auf: Da scheint jemand das aus dem Neukantianismus hervorgegangene Nachdenken über das Verhältnis von Begriff und Wirklichkeit komplett mißverstanden zu haben.
 
Zunächst enthielt ich mich meiner persönliche Frage, ob Heinrich Rickert in diesem von Robert Craven empfohlenen Buch vorkommen würde, wahrscheinlich höchstens in einer Anmerkung im Weberkapitel?

ja, auf Seite 129, 130 und 132. ...im Weber-Kapitel :scheinheilig:

Hat sich Thomas Welskopp nicht zufällig auch zum Thema geäußert?

nochmal ja! Hier der Gegenentwurf :D
Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft

...und eine schöne Rezension dazu -nicht weniger ironisch
 
Insgesamt ist bei dem Thema einfach die aus heutiger Sicht gewünschte oder behauptete Trennung zwischen empirischer Geschichtsforschung von der (impliziten) Geschichtsphilosophie schwer aufrecht zu erhalten, aber selten expliziert!

Jemand wollte mir letztens verklickern, der Historismus sei "die" heutige Geschichtswissenschaft.

Finde es ja einleuchtend, dass man die Wichtigkeit der Fragestellung betont. Aber wie teilweise Daten relativiert werden, damit alles ins Schema passt ist etwas befremdend.
Ich hab auch mal gelesen, dass bei den Griechen Philosphie und Geschichtsschreibung nicht getrennt waren. Kann das vielleicht jemand bestätigen? Ich weiß jedenfalls,dass teils bei den Griechen oder Römern das Moralisieren ein wichtiges Element war, wenn man gerade mal die Geschichte festhielt.
 
Ich bin zwar kein besonderer Freund der Geschichtsphilosophie, ich habe es mehr mit den Quellen und der Quellenkritik, aber als wichtige Geschichtsphilosophen wage ich zu empfehlen, die anderen wurden hier schon benannt:

Wilhelm Dilthey (Arbeiten siehe Link)
Wilhelm Dilthey ? Wikipedia

Karl Marx (insbesondere Kritik der Politischen Ökonomie, Feuerbachthesen)
Karl Marx ? Wikipedia

Max Weber (insbesondere "Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus")
Max Weber ? Wikipedia

 
Jemand wollte mir letztens verklickern, der Historismus sei "die" heutige Geschichtswissenschaft.

Na das ist eine starke These und es wären konkrete Argumente interessant. Vielleicht lese ich einmal bei Schnädelbach nach...

Finde es ja einleuchtend, dass man die Wichtigkeit der Fragestellung betont. Aber wie teilweise Daten relativiert werden, damit alles ins Schema passt ist etwas befremdend.

Den Gedankengang verstehe ich jetzt nicht so ganz, daher habe ich gegoogelt:

"Troeltsch sah den Historismus dadurch in der Krisis, dass dieser jeglichen geschichtlichen Werten und Normen das gleiche Recht zusprach und so in einem Relativismus münde, der die moderne westliche Kultur untergrabe: Wenn alles nur geschichtlich gewachsen ist, so gibt es keine absolut gültigen Werte. Dies führt für Troeltsch vor allem in der Religion zum Zweifel, den er jedoch in Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte zu überwinden sucht."

"Da nach Ranke jede Epoche „unmittelbar zu Gott“ sei und ihre eigene Berechtigung habe, die man nicht mit aktuellen Wertmaßstäben (ab)urteilen dürfe, führe der Historismus, so Kritiker, letztlich zu einem völligen Werterelativismus. Dieser liegt auch in der Betonung des genuin Individuellen der Geschichte begründet."

Beide Zitate aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Historismus_(Geschichtswissenschaft)

Vielleicht hast du etwas mißverstanden: Der Historismus wendete sich zumindest dem Anspruch nach gegen die Vorstellung einer "Große Erzählung" - wie man heute sagen könnte, auf deren Kosten man um der Köhärenz willen, wie du es formulierst, "Daten relativieren" muß - so ist es aber nicht mehr möglich, zu zeigen, wie es eigentlich war (um v. Ranke zu paraphrasieren); die Datenrelativierung wäre also der Vorwurf, den der Historismus gegen die Geschichtsphilosophie erhebt. Dem Historismus wurde aber Wertrelativismus vorgeworfen. Der Vorwurf, der dem Historismus gemacht werden kann, ist aber vielmehr die Infragestellung eines Wertabsolutismus, der selbst einer Rechtfertigung und damit der historischen Aufklärung bedarf.

Ich hab auch mal gelesen, dass bei den Griechen Philosphie und Geschichtsschreibung nicht getrennt waren. Kann das vielleicht jemand bestätigen?

Das sehe ich so nicht. Ich würde sagen, daß die Philosophie unabhängig von der Geschichtsschreibung entstand; bin mir freilich nicht sicher, da ich mich mit Herodot bsiher nicht beschäftigt habe, aber kann mich auch nicht erinnern, seinen Namen in einer Geschichte der Philosophie unter den Philosophen gelesen zu haben. Es heißt eher, daß Mythos und Geschichtsschreibung änfänglich nicht getrennt waren.
 
Jemand wollte mir letztens verklickern, der Historismus sei "die" heutige Geschichtswissenschaft.

Na das ist eine starke These und es wären konkrete Argumente interessant. Vielleicht lese ich einmal bei Schnädelbach nach...

Schnädebach unterscheidet verschiedene Begriffe von "Historismus":
1. in wissenschaftspraktischer Hinsicht ist Historismus der "Positivismus der Geschichtswissenschaften: die wertfreie Stoff- und Faktenhuberei ohne Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem, die aber gleichwohl mit dem Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität auftritt" (1983, 51); dieser "praktisch geisteswissenschaftliche Positivismus" läßt sich auch als eine Haltung charakterisieren, "die sich ausschließlich an das positiv Gegebene hält und allem mißtraut, was interpretierend darüber hinausginge." (1974, S.20)
2. in philosophischer Hinsicht eine "Position, die die Gültigkeit von Begriffen und Normen selbst nur als etwas historisch Gegebenes aufzufassen bereit ist: sie vertritt einen durchgängigen historischen Relativismus im Bereich der Erkenntnis und der Moral." (S.20f) Als "theoretische" (1983, S.51) oder "philosophische Rechtfertigung" des Historismus 1 möchte ihn Schnädelbach (1974) auch als "geisteswissenschtlichen Positivismus im Sinne einer philosophischen Position bezeichnen" (S.22)
3. eine Position, die "die Geschichte zum Prinzip macht" (1983, S.52), die Schnädelbach als die Auffassung charakterisiert, "daß alle kulturellen Phänomene als historische zu sehen, zu verstehen und zu erklären seien. Er ist eine wesentlich kulturalistische Position, die sich dem Naturalismus entgegenstellt." (S.52)

Etwas verwirrend finde ich, daß Schnädelbach seine Begriffsdefinition nicht historisch aufbaut, denn historisch entstand das, was er als Historismus 3 bezeichnet, eben schon "gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der Opposition gegen den angeblich ahistorischen Rationalismus der Aufklärungsphilosophie." (1983, S.52) Wenn man diese Orientierung dann in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts verfolgt, kommt ein politischer Einsatz hinzu, den Schnädelbach als "konservativen[n], ja traditionalistische[n] Zug des Historismus 3" (S.53) identifiziert, "der ihn dann lange nach seiner Entstehung unter Bedingungen einer nachrevolutionären Situation in Deutschland zur führenden Bewußtseinsform werden ließ." (ebd.) Paradoxerweise wäre in eine Schule der historischen Aufklärung etwa auch Hegel einzureihen und das macht es ein wenig kompliziert. Also schaue ich einmal in einem Artikel Über historische Aufklärung dazu nach; darin heißt es zur "Hegelschen Einheit der Geschichtlichkeit der Vernunft mit der Vernünftigkeit der Geschichte": "Hegels Position ist doppelsinnig. Daß die Vernunft geschichtlich sei, ist eine deskriptive These, zu deren Erhärtung der Historismus [...] unübersehbares Material bereitgestellt hat. Daß die Geschichte vernünftig sei, ist hingegen eine normative These" (S.39), die der Historimus hingegen nicht zu rechtfertigen vermochte, aber in einem gewissen Kurzschluß wurde anscheinend "die Geschichte selbst zum normativen Maßstab" (S.40) genommen; in seinem Artikel hebt Schnädelbach hier insbesondere auf eine Kritik des Marxismus ab, aber das ist - wenn auch nur mit Einschränkung - ein anderes Thema oder macht das Verständnis des Historismus auch nicht unbedingt einfacher, insbesondere wenn als Vertreter einer kulturalistischen Position im 20. Jh. von Schnädelbach an anderer Stelle auch Horkheimer & Adorno, die mit ihrerm Program einer kritischen Theorie bekanntermaßen auch am Systemgedanken im Sinne Hegels festgehalten haben, genannt werden; immerhin kann dann der Historismus 3 (=Kulturalismus) nicht als maßgeblich für die heutige Geschichtswissenschaft angesehen werden (wenn ich persönlich übrigens auch das Gegenteil für wünschenswert halte). Wie dem auch sei, nach dem Zusammenbruch des idealistischen Systems Hegels mußte "auch Synthesis von rationalistischer und historischer Aufklärung, d. h. von abstrakter Vernünftigkeit und historischer Wirklichkeit notwendig wieder zerfallen" (Schnädelbach, 1974, S.29) und mündete nach Schnädelbach in den beiden anderen Historismus-Typen; diese könnten gegebenenfalls auch heute bestimmend für die Geschichtswissenschaften sein. Bezüglich des Historismus 2 (=geisteswissenschaftlichen Positivismus') konstatiert Schnädelbach (1983) übrigens, daß er es ist, "dessen 'Überwindung' immer noch auf der Tagesordnung steht; er ist der Historismus in der Krise" (S.52), zumindest aus philosophiegeschichtlicher Sicht (nicht geschictsphilosophischer Sicht wohlgemerkt)!

Lit. Herbert Schnädelbach,
- Philosophie in Deutschland 1981-1933.Ffm: Suhrkamp, 1983
- Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus. Freiburg/München: Karl Alber, 1974
- Über historische Aufklärung. Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 1974, S.17-36 - wieder abgedruckt in: Schnädelbach, Vernunft und Geschichte. Ffm: Suhrlkamp, 1987, S.23-46
- Das kulturelle Erbe der Kritischen Theorie. Berliner Debatte INITIAL 9 (1998), S.13-24 - wieder abgedruckt in: Schädelbach, Philosophie in der modernen Kultur. Ffm: Suhrkamp, 2000, S.104-S.126
 
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