Militärdiktatur im ersten Weltkrieg?

narziss

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Manchmal wird das Deutschland der Jahre 1914/18 als Militärdiktatur bezeichnet. Ludendorff und Hindenburg vereinten als ranghöchste Militärs entsprechende Machtfülle in sich. Von ihnen wurde Deutschland gelenkt.

Konnten sie aber nur so rücksichtslos agieren, weil Kaiser und Parlament freiwillig stillhielten oder weil sie zu eingeschüchtert waren?

Inwiefern war es eine Diktatur? Wurden politische Gegner verfolgt?
 
narziss schrieb:
Konnten sie aber nur so rücksichtslos agieren, weil Kaiser und Parlament freiwillig stillhielten oder weil sie zu eingeschüchtert waren?

Über die Bedeutung und das Ansehen des Militärs im Kaiserreich wurde ja mehrfach diskutiert. Es ist wohl so, daß 1914 einfach fest in der Mentalität verwurzelt war, daß zu einem Zeitpunkt in dem das Militär gefordert war, auch die militärische Führung die Leitung des Einsatzes haben sollte. Man sprach ihnen ganz einfach die beste Kompetenz dafür zu. Dies verstärkte sich im Laufe des Krieges immer mehr, so daß selbst der Kaiser klagte zu einer Marionette geworden zu sein.

Inwiefern war es eine Diktatur? Wurden politische Gegner verfolgt?
Was unterscheidet die Diktatur von einer Demokratie? Überlege dir, wer die Entscheidungen unter wessen Mitwirkung trifft. An einer Verfolgung politischer Gegner würde ich das nicht aufhängen.
 
Am 31.07.1914 erklärte Kaiser Wilhelm II. für das Reichsgebiet, ausschließlich Bayern, den Kriegszustand. Diese Erklärung hatte nach Artikel 68 der Reichsverfassung vom 16.04.1871 die Wirkung, dass das Preußische Gesetz über den Belagerungszustand vom 4.6.1851 (BZG) Anwendung fand. Nach dessen § 1 konnte im Kriegsfall jeder Militärbefehlshaber (= kommandierender General eines Armeekorpsbezirks bzw. Stellvertreter) den Belgerungszustand erklären, was auch in allen Bezirken geschah.
§ 4 BZG
Mit der Bekanntgabe der Erklärung des Belagerungszustandes geht die vollziehende Gewalt an die Militärbefehlshaber über. Die Zivilverwaltungs- und Gemeindebehörden haben den Anordungen und Aufträgen der Militärbefehlshaber Folge zu leisten.
Für ihre Anordungen sind die betreffenden Militärbefehlshaber persönlich verantwortlich.

Die Folge dieser Rechtslage war, dass die komplette Zivilverwaltung nebst Gemeindeverwaltung den regionalen Militärbefehlshabern unterstellt waren und diese bei Ausübung ihrer Anordungsrechte nur dem Kaiser, wobei diesem der administrative Unterbau fehlte, um die Militärbefehlshaber zu steuern und zu kontrollieren.

Mit dem Belagerungszustand wurden auch Freiheitsrechte ausser Kraft gesetzt, bestimmte Strafgesetze verschärft, die Garantie des gesetzlichen Richters ausgehebelt, die außerordentliche Kriegsgerichtsbarkeit eingeführt, etc; durch die Verhängung des "verschärften Belagerungszustandes" (§ 5 BZG) konnte diese Situation nochmals verschärft werden.

Alles in allem verfügten die Militärbefehslhaber über diktatorische Vollmachten: sowohl gegenüber der Zivilverwaltung, als auch gegenüber der Bevölkerung.

Die Militärbefehlshaber griffen in die verschiedensten Lebensbereiche ein: zum Beispiel in die Wirtschaft zur Sicherstellung des Heeresbedarfs und der Lebensmittelversorgung, aber auch in den politischen Bereich (Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Zensur, Aufenthaltsverbote, Schutzhaft, Verbannung, etc.).

Die Massnahmen machten auch vor unliebigen Reichstagsabgeordneten keinen Halt. Karl Liebknecht zum Beispiele wurde bei einer Demonstration verhaftet, erhielt einen Einberufungsbefehl und wurde dann wegen Verweigerung des Befehls, an politischen Versammlungen nicht mehr teilzunehmen, zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Viele Personen aus seiner Umgebung (z.B. Franz Mehring) befanden sich in Schutzhaft. In Elsaß-Lothringen wurden die diktatorischen Vollmachten zu einer Repressionspolitik gegenüber der eigenen Bevölkerung angewendet, die man generell für frankreichfreundlich hielt. Auch elsässische Reichstagabgeordente erhielten Einberufungsbefehle oder sie wurden verpflichtet, sich auserhalb des Elsass aufzuhalten (z.B. in Königsberg).

Doch nicht nur Kriegsgegner gerieten in Konflikt mit den Vollmachten der Militärs. Auch Landeszentralbehörden und Landesregierungen mussten sich den Anordungen des Militärs beugen. Weder Reichstag noch Bundesrat waren befugt, Anordungen der Militärbefehlshaber ausser Kraft zu setzen. Dementsprechend nahm im Parlament die Kritik an der Handhabung des Kriegszustandrechts auch zu. Es kam zu Reformbemühungen, die jedoch erst im Oktober/November 1918 über vereinzelte Korrekturen hinauskamen.

Auch der Kanzler war durch das Belagerungsrecht geschwächt. Gegen die Militärbefehlshaber konnte er nichts unternehmen. Er musste sich in jedem Konfliktfall an den Kaiser wenden und diesen um Abhilfe bitten. Und selbst Kaiser und Kanzler zusammen hatten ihre Not Forderungen der Militärs abzuwehren, wie z.B. die nach einem unbeschränkten U-Boot-Krieg. Nachdem Kaiser und Kanzler zunächst 1915 dessen Einstellung durchsetzten, gerieten diese zunehmend unter den Druck der OHL und der veröffentlichen Meinung, die die Wiederaufnahme des U-Boot-Krieges forderteten. Ganz offensichtlich haben die Militärbefehlshaber gegenüber der Presse von ihren Zensurmöglichkeiten keinen Gebrauch gemacht, um Kaiser und Kanzler vor diesem Druck zu schützen. Und als Bethmann Hollweg im Juli 1917 abtreten musste, gewann die OHL mangels Gegenpart endgültig eine diktaturähnliche Rolle.
 
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Gandolf schrieb:
Am (......) Rolle.

:respekt: Das ist ein Beitrag mit Hand und Fuß, der nicht nur die rechtlichen Grundlagen bringt, sondern auch einen Blick auf die Durchführung zeigt. Dafür bekommst du jetzt den ersten Grünen von mir ;)
 
Arne schrieb:
:respekt: Das ist ein Beitrag mit Hand und Fuß, der nicht nur die rechtlichen Grundlagen bringt, sondern auch einen Blick auf die Durchführung zeigt. Dafür bekommst du jetzt den ersten Grünen von mir ;)
Ich bin auch zufrieden.
 
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