Monsieur Machine

Eumolp

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Ich finde Geschichte am spannendsten in den Lebensbeschreibungen einzelner Personen, weniger im Säbelgerassel oder Jüngerschen Stahlgewitter. Aber das ist wohl eine Geschmacksfrage.

So möchte ich daher den Arzt, Physiologen, Poeten und Philosophen Julien Offray de La Mettrie (oder einfach: Lamettrie) vorstellen und vor allem auf seine untergründigen Gedanken eingehen mit ihrer Wirkung auf das Denken der Moderne: ein Mann, der zeit seines Lebens schief angesehen wurde, ein enfant terrible, der sich immer geweigert hatte, seine Ideen der Zensur zu opfern und daher lieber geflüchtet ist statt seine Feder aus der Hand zu legen, der auch keine Verbeugungen machte - selbst nicht vor den anerkannten Dissidenten seiner Zeit wie Voltaire oder Diderot. Letzterer fühlte sich kurz vor seinem Tode sogar verpflichtet, einen "so verdorbenen Menschen aus der Gemeinde der Philosophen auszuschliessen." (Essay über Seneca) Und der Marquis d'Argens, wie Voltaire Höfling in Potsdam, nannte ihn "einen Wahnsinnigen", "einen Trunkenen der Seele", ja "die Stimme der Demenz". Trotzdem: im Gegensatz zu diesen Dissidenten hat er eine geistige Wühlarbeit in Gang gesetzt, die bis heute noch andauert. Er hat wesentliche Elemente der Moderne vorgedacht. Auch wenn sein Name kaum bekannt ist.

In neuester Zeit (2004, um genau zu sein) hat Lamettrie eine gewisse Popularität durch Martin Walsers Roman Der Augenblick der Liebe erhalten. Dessen Alter Ego Gottfried Zürn wird darin mit der Studentin Beate konfrontiert, die sich mit der Biographie des Franzosen auseinandersetzt, und Unversehens gerät der Roman in einen quasi-philosophischen Diskurs des verfemten Philosophen. Natürlich gab es bei Erscheinen der Geschichte einige Stimmen, darunter die von Günter Zehm, den die Auseinandersetzung "gerade" mit Lamettrie befremdete. Bernd Laska kommentiert eine dieser Stimmen: "Günter Zehm, ein bis dahin 'unverbesserlicher Bewunderer' Walsers, verfiel angesichts dieses Werks in Ratlosigkeit und sah sich gezwungen, Zuflucht zu umständlichen psychologischen Analysen des Autors zu nehmen, um sich halbwegs zu erklären, 'wieso Zürn und Beate und mit ihnen Walser selbst sich ausgerechnet in La Mettrie, einen wahrhaft trostlosen Kurzdenker, vergaffen.'" Martin Walser hingegen schätzte den Franzosen als "natürlichster aller Denker" ein, "ein Genie der Lebendigkeit" und "grossen Befreier". Wie sehr sich Urteile doch unterscheiden können!

Beginnen möchte ich diese Biographie mit einem typischen Spruch des Protagonisten:
Was die andern betrifft, die freiwillig Sklaven der Vorurteile sind - ihnen wird es genausowenig gelingen, die Wahrheit zu erreichen, als den Fröschen zu fliegen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Der Arzt

Julien Offray de La Mettrie, 1709 in St. Malo (Bretagne) geboren als Sohn eines vermögenden Textilhändlers, bekommt erst seit kurzem einen Hinweis auf seine Existenz in seiner Geburtsstadt, und dieser Hinweis besteht in einer 20 Meter langen Sackgasse, der "Rue LaMettrie" - das ist alles; dagegen prankt die Statue Chateaubriands glanzvoll auf dem nach ihm benannten Platz.

In seiner Eloge auf den gestorbenen Philosophen beschreibt Friedrich II höchstpersönlich dessen Jugendjahre: In Konstanz habe er zuerst eine Schule besucht, danach habe er sich in Paris und Caen aufgehalten, wo er mehrere Preise für seine Redegewandtheit erhalten habe. All die teuren Schulaufenthalte waren möglich durch das Vermögen seines Vaters. Der wollte ihn – vor allem wegen seiner rednerischen Fähigkeiten - zuerst zu einem Kirchenmann machen, und so wurde Lamettrie zunächst einmal Jansenist, d.h. Anhänger einer damals vom Papst verbotenen reformkatholischen Kirche. (Jansenismus ? Wikipedia. In Frankreich wurde der Jansenismus erst 1764 verboten.)

Seine Ausbildung hierzu erfolgte in der College du Plessis, eine berühmte höhere Schule in unmittelbarer Nachbarschaft zur Sorbonne. Zurückgekehrt in seine Heimat konnte allerdings ein örtlicher Mediziner, Mr Hunault, den Vater überzeugen, dass ein Arzt ebenso oder noch nützlicher sei als ein Priester, so dass Julien nun zur Medizin überwechselte und endlich 1733 in Rennes seinen Doktor machte. An dieser Stelle steht bei Friedrich "1724 in Reims", aber weder Zeit noch Ort sind hier korrekt, denn mit 15 Jahren hat Lamettrie sicher nicht promoviert.

Im gleichen Jahr noch wechselt Lamettrie ins holländische Leiden, wo er als Schüler des damals bekannten Herman Boerhaave lernt und arbeitet, dessen Schriften er ins Französische übersetzt, darunter das Traktat über das Feuer und den Aphrodisiacus. Auch Albrecht von Haller, Schweizer Universalgelehrter, war dessen Schüler, und von da aus erklärt sich wohl die lebenslange Intimfeindschaft Lamettries gegen ihn, bei der es u.a. wohl auch um das Erbe des berühmten Lehrers geht.

Boerhaave ist der richtige Mann für einen beweglichen Geist wie den des Bretonen: ein Aufklärer, glühender Vertreter empirischer Forschung, insbesondere der von Descartes her stammenden Iatromechanik , d.h. der Lehre, dass Krankheiten durch physikalische Vorgänge verursacht sind. Für Boerhaave
bestand der Körper aus zahlreichen und verschiedenartigen Maschinen, die durch Säfte in Bewegung (motus) gesetzt werden. Für Gesundheit oder Krankheit ist ein motus humorum verantwortlich; er macht sich dahingehend bemerkbar, daß die Qualität der Säfte sich verändert, und zwar vor allem im Sinne mechanischer Gesamteigenschaften wie Festigkeit, Zähigkeit, Nachgiebigkeit, Elastizität, Kohäsion oder Teilbarkeit. An der Mechanik als optimaler Grundlage des Organismusverständnisses und zur Ableitung der besten therapeutischen Indikationen hat er nie gezweifelt.
(S. Schroeder, "Lachen ist gesund?" - eine volkstümliche und medizinische Binsenwahrheit im Spiegel der Philosophie, Berlin 2002)

In Leiden kommt Lamettrie also mit Physiologie in Berührung und mechanischen Modellen des menschlichen Körpers. Von dieser Warte aus verfasst er eigene physiologische Abhandlungen – etwa die Dissertation sur les maladies vénériennes. Schon in seiner medizinischen Schriftstellerei zeigt sich der politische Aufklärer, der den Standesdünkel der damaligen Ärzteschaft aushebeln möchte, und so ist es auch kein Zufall, dass eine Untersuchung der Geschlechtskrankheiten und sonstiger Epidemien das Thema seiner ersten Übersetzung von Boerhaave abgibt, denn zweifellos wurde er als praktizierender Arzt mit solchen Krankheiten konfrontiert. So grassierte 1738-40 die Cholera und die Ruhr in Frankreich, die Lamettrie in mehreren Hospitälern in der Betragne hautnah miterlebte.

(Morgen geht's weiter!)
 
Danke für diesen Thread, Eumolp. Zwei Dinge:

LaMettrie ist keinesfalls ein "Unbekannter"! Seit es Informatik gibt, wird er den Studenten im einen oder anderen Zusammenhang genannt, allerdings selten mit den Details seiner Schriften. Diese gelten letztendlich als möglicherweise richtig, aber vollständig überholt (da eine mechanische Betrachtungsweise nur die Spitze des Eisbergs der notwendigen Komplexität sein kann).

Ich denke, dass er auch den Medizinern bekannt ist...

Zum zweiten ist die Aufklärung überhaupt die Zeit der Automaten! Wolfgang von Kempelen baute Ende des 17. Jh. seinen berühmten (getürkten) Schachtürken; aber Mitte des 18. Jh. - und genau zur Zeit LaMettries - war die Feinmechanik weit genug entwickelt: Jacques Vaucansan baute nicht nur seine bekannte Ente!

Ob Mary Shelley LaMettrie gelesen hat, scheint unbekannt zu sein...
 
Zuletzt bearbeitet:
Zu den Vaucansonschen Maschinen komme ich noch, wenn auch nur kurz, keine Angst ^^.

Aber man muss Lamettrie sehr genau lesen... es ist sehr fraglich, ob er den Menschen zu einem "Roboter" oder so etwas degradieren wollte. Seine Stoßrichtung war eine ganz andere, eher polemische. Vielleicht gab es sogar wenige, die den Menschen weniger als Maschine gesehen haben als er. Aber ich greife vor!

Ob er den Medizinern bekannt ist? K.A.! Den Informatikern vielleicht als Vater der Kybernetik. Ich glaube allerdings nicht, dass er mit einem solchen Ehrenplatz zufrieden gewesen wäre.
 
Da ist nichts Abwertendes bei: Die "Kybernetiker" wollen ja - überspitzt gesagt - nicht den Menschen zu einem Roboter machen, sondern Roboter zum "Bild des Menschen"....
 
Beinahe überflüssig zu erwähnen, dass seine provokante These, die "Lustseuche" der Neuzeit sei von Valenzia ausgegangen und nicht etwa von Afrika oder Lateinamerika, schon ein Jahr später von einem Mitglied der medizinischen Fakultät der Sorbonne abgekanzelt wurde, woraufhin sich Lamettrie zu einer Gegendarstellung hinreißen ließ - er, der unbekannte Nobody gegen den renommierten Jean Astruc: David gegen Goliath, eine Rolle, in der sich (der ohnehin kleinwüchsige) Lamettrie gerne präsentierte. Bevor dieses Wort existierte, war er Sozialmediziner mit Leib und Seele. Sein Resumée zur großen Choleraepidemie lässt dieses Engagement erahnen:
Das Übel [gemeint sind Cholera und Ruhr] hat in der Bretagne mehr als 30000 Menschenleben gekostet und die Sterblichkeit war unglaublich hoch; vor allem auf dem Land und in den kleinen Dörfern, die bisweilen gänzlich zu Grunde gerichtet wurden, ohne daß ein einziger Einwohner überlebt hätte; und dies ist geschehen, trotz der Medikamente, die allerorten vom Hof ausgeteilt worden sind.

Ab 1734 übt er den Beruf des praktischen Landarztes in St. Malo aus, diese Tätigkeit wird ab 1740 abgelöst durch die erwähnte Stellung in zwei Hospitälern, seit 1742 wechselt er nach Paris und arbeitet dort als Arzt. Doch beschränkt er sich nicht auf Fachliteratur, sondern greift seine etablierten Ärzte-Kollegen an, ein früher Hackethal gewissermaßen; seine fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen werden immer mehr durch medizinisch-satirische Schriften abgelöst, ene Literaturgattung, deren beinahe einziger Vertreter Lamettrie geblieben ist. In dieser Kategorie erscheinen:
- Saint Cosme vengé (1744)
- Politique du Médecin de Machiavel (1746)
- Faculté Vengée (1747)
- Chirurgien Converti (1748)
- Ouvrage de Pénélope ou Machiavel en Médecine (1748-50) in 3 Bänden

Der Tenor dieser Schriften lautet: der Arzt ist nicht der heilende Menschenfreund, sondern der Beutelschneider, der aus dem Elend der Kranken Kapital schlagen will. Nicht die Heilung, sondern das Geld interessiert ihn: mit gekreuzten Armen stehe er da, erteile Ferndiagnosen, erkläre dem Kranken in unverständlichen Fachbegriffen seine Krankheit, lasse ihn darauf sterben und verlange dann einen Louis d'Or.

In Paris besucht Lamettrie das Café Le Procope, damals berühmter Literatentreffpunkt, das heute noch existiert, wo er Maupertuis, Voltaire, Diderot, Fontanelle und anderen Berühmtheiten begegnet; ob ein persönlicher Kontakt bestand, ist eher unwahrscheinlich, am ehesten wohl mit seinem späteren Mentor Maupertuis. Dort begegnet er auch dem Phänomen "Geist" (esprit), wodurch er - schon vor seinem Fieberanfall im Krieg - auf dessen Wechselwirkung mit dem Körper aufmerksam wird. Wenn er in einem späteren Werk (im L'homme machine) schreibt, ein paar Schlucke Wein verwirrten die Seele, während „der Kaffee, das bekannte Gegengift des Weines, in hohem Grade unsere Phantasie erregt, dadurch unseren Kummer zerstreut“, dann spürt man ein wenig von dieser Faszination und der Abneigung Lamettries, den Geist als freischwebende Entität zu verstehen, wie es in diesen Zeiten in metaphysischen und theologischen Kreisen üblicherweise geschieht. In diesem Zitat wird auch deutlich, dass er dabei immer von empirischen Tatsachen ausgeht und metaphysische (oder gar religiöse) Spekulationen bei solchen Fragen verwirft.

Warum Lamettrie 1742 St. Malo verlässt und nach Paris aufbricht, ist nicht bekannt, vielleicht hat es mit diesen Entdeckungen, die im Procope getroffen wurden, zu tun; ein Brief von Maupertuis erhellt, dass sich seine Verwandtschaft über den Weggang sehr erregte. Doch war er ohne Zweifel seiner Familie sehr verbunden, was ihn ihn allerdings vom Aufbruch nicht abhielt. Vielleicht hängt die Abreise des Arztes auch mit dem Tod seines maloensischen Mentors Hunault zusammen, der ihm einst den Beruf des Mediziners nahegelegt hatte. Von Paris aus zog er als Militärarzt in den Krieg (Österreicher Erbfolgekrieg 1740-48), wo er eine seiner wichtigsten Schriften, die Histoire naturelle de l'Ame verfasst. Durch einen delirösen Fieberanfall bei Freiburg erlebte er aufs innigste die Einheit von Körper und Seele, vor allem die Wirkung des ersteren auf die letztere - eine Einsicht, die sein weiteres Leben bestimmen wird. Friedrich II beschreibt die Wendung vom Mediziner zum Psychologen wie folgt:
Eine Krankheit ist für einen Philosophen eine Lektion in Naturlehre; er glaubte zu erkennen, daß die Denkfähigkeit nichts anderes sei als eine Folge der körperlichen Organisation und daß eine Störung der Triebfedern beträchtliche Auswirkungen auf jenen Bereich von uns selbst habe, welche die Metaphysiker Seele nennen. Während seiner Rekonvaleszenz von diesen Gedanken erfüllt, trug er kühn die Flamme der Erfahrung in die Dunkelheiten der Metaphysik. Mit Hilfe der Anatomie versuchte er, die zarte Textur des menschlichen Verstandes zu erkunden, und er fand nur Mechanik, wo andere eine über die Materie erhabene Essenz supponiert hatten. (Fr. II, Eloge)
Die daraus entstandene Schrift Histoire naturelle de l'Ame wurde allerdings von der Zensur als "ketzerisches Werk" gewertet und vom Henker auf den Treppenstufen des Pariser Parlaments öffentlich verbrannt - gemeinsam mit der gleichzeitig anonym veröffentlichten Schrift über die Wolllust, De la volupté.

(wird fortgesetzt!)
 
Einschub: Zensur in Frankreich

An dieser Stelle möchte ich die Biographie des bretonischen Freigeistes unterbrechen und kurz auf die Mechanismen der Zensur im vorrevolutionären Frankreich eingehen. Hierzu schreibt Ursula Jauch:
Es existierte einerseits eine Vorzensur, die nominell direkt dem König unterstand und im Prinzip lückenlos die gesamte Buchproduktion kontrollierte, und zwar mit Hilfe eines vom garde des sceaux (Siegelbewahrer) zu verantwortenden und im Laufe des Jahrhunderts immer komplexer und unübersichtlicher werdenden Apparates. Jedes zu druckende Buch mußte einem Zensor vorgelegt werden, der diesem die begehrte approbation erteilte, die wiederum Grundlage war für die Erteilung des königlichen Druckprivilegs, welches wiederum für unterschiedliche Dauer und mit wechselndem Ausmaß Schutz vor unbefugtem Nachdruck - konkret: Raubdruck - bieten sollte. Zusätzlich hatte die Polizei die Aufgabe, die in enger Zusammenarbeit mit der Buchdruckerzunft funktionierende Buchaufsichtsbehörde ihrerseits zu überwachen und bei der Nachzensur - das Stichwort lautet hier: Razzien in Druckereien und Buchhandlungen - zu unterstützen. Eine - eher informelle - Nachzensur übten zudem das Parlament, die Sorbonne und die römische Kirche aus. Das Parlament, das heißt der Oberste Gerichtshof, konnte - wie im übrigen auch der König direkt - Erlasse veröffentlichen, die bestimmte Bücher verurteilen, welche dem Apparat der Vorzensur entgangen waren. (Jauch, S.121)

Auch Buchimporte unterlagen selbstverständlich der Zensur, jedoch nicht so umfassend wie inländische Druckerzeugnisse:
Wenn aus »Amsterdam«, aus London schon schändlich freidenkerisches Gut nach Frankreich importiert werden konnte, so mußte zur Kontrolle der schriftlich geäußerten öffentlichen Meinung nicht nur die Beaufsichtigung der einheimischen Drucker und Verleger, sondern auch die Überwachung des gesamten Buchimports und -exports gehören. Bei der Einfuhr nach Frankreich mußten Bücherpakete als solche gekennzeichnet und offiziell plombiert werden; Buchsendungen durften ausschließlich über dafür vorgeschriebene Wege transportiert und nur nach Inspektion durch die Beauftragten der Buchhandelszunft an die Adressaten ausgehändigt werden. Jede Unregelmäßigkeit in einem Buchpaket - seien es Raubdrucke oder Bücher ohne königliches Privileg - führte zur Konfiszierung der gesamten Sendung. Normalerweise trug jedes autorisierte Buch die Insignien der königlichen Druckerlaubnis in Form des mit abgedruckten Privilegtextes - was bei allen oben besprochenen medizinischen Frühschriften La Mettries der Fall ist. (S.122f)

Um Vor- und Nachzensur zu umgehen, bürgerte sich eine Praxis ein, den Druckort ins Ausland zu verlegen, obwohl das Buch tatsächlich in Frankreich gedruckt wurde („permission tacite“ = stillschweigende Druckerlaubnis).

Für Lamettrie gilt ab 1742 - also ab dem Zeitpunkt, wo er seine medizinische Fachschriftstellerei aufgibt und auf das Schöngeistige (also satirische bzw philosophische) Feld ausweicht -, dass er entweder seine Schriften im Ausland oder "stillschweigend" in Frankreich drucken lässt; die späteren Werke erscheinen ohnehin in Preußen.

(Fortsetzung folgt)
 
Der Philosoph

Ich erhöhe mal die Taktrate dieses Threads.


Frankreich wurde dem Philosophen nach dieser Verurteilung zu heiß. Direkt vom Feldlazarett flüchtete er mit Hilfe des Herzogs von Duras und Baron von Chayla nach Leiden, schrieb dort eine Satire über die Ärzteschaft Ouvrage de Pénélope ou Machiavel en Médecine (1748 unter dem Pseudonym Aletheius Demetrius), verbunden mit einer leidenschaftlichen Anklage gegen Louis XV, unter dessen Herrschaft er das Land verlassen musste.

In Leiden schreibt er sein berühmtestes Werk L'Homme Machine, erschienen 1747, datiert allerdings auf 1748. Wegen dieses Buches wurde er später gern als Monsieur Machine bezeichnet. Worum geht es?

Zwei biologische Entdeckungen des frühen 18. Jahrhunderts sind es, die Lamettries L'Homme Machine beeinflussten: die Untersuchungen an Gehörlosen durch Johann Konrad Ammann (Dissertatio de loquela = Abhandlung über das Sprachvermögen), die ihn darüber nachdenken lässt, ob nicht ein ähnliches Training wie das der Gehörlosen durch den Schweizer Arzt auch Affen zum Sprechen bringen könne? Gelänge dieses, so würde jedermann einsehen, dass der Abstand zwischen Tier und Mensch weitaus geringer ist als die gelehrte Welt annimmt - mehr als 100 Jahre vor Charles Darwin denkt Lamettrie über eine Verwandtschaft zwischen Affe und Mensch nach:
Der Übergang von den Tieren zum Menschen ist kein gewaltsamer; die wahren Philosophen werden darin übereinstimmen. Was war der Mensch vor der Erfindung der Wörter und der Kenntnis der Sprachen? Ein Tier seiner Art, das mit sehr viel weniger natürlichem Instinkt als die anderen - für deren König er sich damals noch nicht hielt - sich nicht mehr vom Affen und den anderen Tieren unterschied als der Affe selbst von diesen; ich meine durch eine Physiognomie, die ein größeres Unterscheidungsvermögen verrät. Beschränkt auf die 'intuitive Erkenntnis' der Leibnizianer allein, sah er nur Gestalten und Farben, ohne etwas zwischen ihnen unterscheiden zu können; ob alt oder jung - ein Kind in jedem Alter, drückte er seine Empfindungen und Bedürfnisse so unverständlich aus wie ein ausgehungerter Hund zu fressen oder ein von Ruhe gelangweilter Hund herumzulaufen verlangt. (Homme Machine S.53)

Eine zweite Entdeckung stützt diese für seine Zeit tollkühne These: die 1744 von Abraham Trembley publizierten Beobachtungen über das Verhalten des Polypen, der noch 1703 als Pflanze eingeordnet, später jedoch als Tier klassifiziert wurde. Mitte des 18. Jahrhunderts war der "Trembley'sche Polyp" Salongespräch der gebildeten europäischen Welt, da dort zum ersten Mal die Regenerationsfähigkeit beim Zerteilen eines Tieres in exakter Weise beschrieben wurde, was die Vorstellungskraft des Publikums beflügelte. Lamettrie reizte daran vor allem jene Zwischenstellung zwischen Pflanze und Tier, die er in analoger Weise beim Affen zwischen Tier und Mensch herausstellte, aber auch die Selbstorganisation lebender Materie (die Zelle war als kleinste biologische Einheit noch nicht bekannt). Der Trembleysche Polyp bildete denn auch den Hintergrund für die kurz nach dem Homme Machine erschienene Schrift L'homme plante (Mensch-Pflanze).

Die Idee, dass Organismen als eine Art Maschine betrachtet werden können, stammt im Grunde gar nicht von dem Lamettrie. Für die Tiere hatte sie bereits Descartes entworfen (im Discours de la méthode), und Lamettries Lehrer Boerhaave wandte sie auf interne körperliche Vorgänge an. Neu - und unerhört - an Lamettries Überlegungen war die Anwendung auf den gesamten Menschen - den Menschen mit Leib und Seele. In dieser Lehre versuchte er, den Cartesischen Dualismus von Geist und Materie in einen Monismus zu verwandeln - doch zumindest auf theologischer Ebene hatte dies bereits Spinoza vor ihm getan, der solche Ideen allerdings auf die göttliche Substanz bezogen hatte. Denoch: den Geist (bzw. die Seele, Lamettrie differenziert hier noch nicht so scharf) so nahe an den Körper heranzuführen, bis er schließlich als Produkt desselben erscheint, ging über den ohnehin verpönten Spinozismus noch ein Stückweit hinaus und hätte das Zeug gehabt, unter die berühmten Kränkungen Freuds aufgenommen, wenn nicht der Meister lieber sich selbst darin aufgelistet sehen wollte. Immerhin: bis zur Rehabilitierung Lamettries durch den Philosophiehistoriker Friedrich Albert Lange i.J. 1866 gab es (neben Friedrich dem Großen) lediglich einen Schriftsteller, der sich vorbehaltlos hinter Lamettrie stellte, aber dieser Schriftsteller heißt Donatien Sade und vermochte es kaum, dem bretonischen Philosophen einen besseren Leumund zu verschaffen - im Gegenteil hat er ihm eher dadurch Schaden zugefügt, dass man ihn in Sadescher Manier gelesen hat (Sades diesbezügliche Schrift nennt sich La verité).

(forts.folgt)
 
Tolles Thema!:yes:

Ich werde erstmal eine Weile brauchen, bis ich alles durchgesehen habe und mich dann einschalten kann. Ich kenne zu Offray de La Mettrie allerdings eher die Zoten, die man sich in Berlin über ihn erzählte.

(Da spüre ich mal am eigenen Leib wie es ist, lange Beiträge und viele Beiträge zu einem Thema hier im Unterforum von wem zu lesen.;))
 
Tolles Thema!:yes:

Ich werde erstmal eine Weile brauchen, bis ich alles durchgesehen habe und mich dann einschalten kann. Ich kenne zu Offray de La Mettrie allerdings eher die Zoten, die man sich in Berlin über ihn erzählte.

(Da spüre ich mal am eigenen Leib wie es ist, lange Beiträge und viele Beiträge zu einem Thema hier im Unterforum von wem zu lesen.;))
Danke! Ich habe leider die Neigung zur Lang-Schreiberei, wahrscheinlich weil ich zu Hause nichts zu sagen habe ;) Ein paar Berliner Zoten kommen schon noch, aber Ergänzungen sind natürlich immer recht!

Da schreib ich doch mal den nächsten langen Beitrag...
 
Mensch-Maschine

Dies also war die Ausgangsposition des Homme Machine:
Der Mensch ist eine Maschine, derartig zusammengesetzt, dass es unmöglich ist, sich anfangs von ihr eine klare Vorstellung zu machen und folglich sie genau zu beetimmen. Deswegen sind alle Untersuchungen, die die größten Philosophen a priori gemacht haben, indem sie sich sozusagen gewissermaßen der Schwingen des Geistes bedienen wollten, vergeblich gewesen. So ist es nur a posteriori möglich, oder indem man gleichsam im Durchgang durch die Organe die Seele zu entwirren sucht, ich sage nicht, mit letzter Eindeutigkeit die Natur selbst des Mensehen zu entdecken, aber den größten Wahrscheinlichkeitsgrad dies betreffend zu erreichen. (Homme Machine S.27)

Die Methode, diesen Durchgang zu leisten, ist die Empirie - hier spricht der Arzt ganz klar gegen den Philosophen. [Anm. von mir: Dass eine metaphysische Betrachtung des Geistes etwas ganz anderes leisten muss als eine physiologische, war dem Bretonen nicht bewusst.] Der Geist ist abhängig vom Körper, genauer gesagt, vom Gehirn, und die Sonderstellung des Menschen, die Lamettrie durchaus zugesteht, besteht allein in der größeren Differenziertheit des Gehirns; daneben existieren zwischen Tieren und Menschen nur graduelle, keine qualitativen Unterschiede. Die Seele wird ihres metaphyischen bzw. religiösen Status enthoben und auf die Vorstellungskraft zurückgeführt:
Ich gebrauche immer das Wort 'sich vorstellen', weil ich glaube, daß man sich alles vorstellt und daß mit Recht alle Teile der Seele auf die Vorstellungskraft zurückgeführt werden können, welche sie alle hervorbringt; und daß deshalb die Urteilskraft, das Verstandesvermögen, das Gedächtnis nur Teile der Seele sind, keineswegs losgelöste, sondern eigentlich nur Modifikationen jener Art von Markgewebe, auf das die im Auge abgebildeten Gegenstände wie von einer Laterna magica projiziert werden. (Homme Machine, S.59)

Auch das Rudiment einer Entwicklungsgeschichte der Seele versucht Lamettrie, indem er physiologische Kenntnisse der Selbstorganisation der lebenden Materie (Muskeln, Organe) heranzieht: diese "organisierte Materie" sei mit einem internen Bewegungsprinzip versehen: der Mensch sei daher eine Maschine, deren Triebfedern er selbst aufzieht.

Im Homme Plante wird die graduelle (d.h. evolutionäre!) Stufung der Lebewesen in klaren Worten ausgedrückt:
Man muß die Teile der Pflanzen mit denjenigen des Menschen vergleichen, & was ich über den Menschen gesagt habe, muß man auch auf die Tiere anwenden. [...] [Vom einfachsten bis zum komplexesten Wesen läßt sich] eine kaum merklich unterteilte Leiter vorstellen, wo man die Natur präzise alle Abstufungen durchmessen sieht, ohne jemals einen Sprung zu machen und eine Stufe ihrer verschiedenen Ausformungen auszulassen.

Es ist schwer, in dieser kurzen Biographie die Oberfläche des Homme Machine abzukratzen und in die Tiefe des Werks einzusteigen. Tatsächlich ist Lamettrie alles andere als ein mechanischer Reduktionist, wie er gerne hingestellt wird (etwa auch von Günter Zehm), eher kann man ihn als Holisten bezeichnen, ein Frühromantiker, bevor dieser Begriff existierte. Seine Aufklärung hat mit der eines Friedrich Nicolai nichts zu tun, sein "Maschinenmensch" spiegelt auch nicht etwa die Sehnsucht wider, den Menschen als Roboter zu betrachten, eher umgekehrt: seine Freiheit vor gesellschaftlicher und religiöser Inanspruchnahme zu beschützen, seine Stellung als "Krone der Schöpfung" zu relativieren und ihn dabei wieder in diese Schöpfung als natürliches Glied einzubetten. Vor allem diese "evolutionäre" Sicht des Menschen als weiter entwickeltes Tier war zu seiner Zeit unerhört, dürfte aber spätestens seit dem Siegeszug der Evolutionslehre vieles von seinem ehemaligen Skandalgehalt verloren haben. Seine ganzheitliche Einstellung taucht auch in den medizinischen Schriften des öfteren auf, indem auf die seelischen Ursachen körperlicher Krankheiten ebenso hingewiesen wird wie auf die körperlichen Ursachen seelischer Probleme - davon einiges auch in der Pénélope, wo Musik- und Gesangstherapie, Vogelzwitschern, Gymnastik, Naturerlebnis usw als Heilungsmethoden diskutiert werden. Ein "Denker der Nahtstelle zwischen Medizin und Metaphysik" ist er genannt worden; diese Einschätzung trifft auch insbesondere für den Homme machine zu.

(ff.)
 
Danke! Ich habe leider die Neigung zur Lang-Schreiberei, wahrscheinlich weil ich zu Hause nichts zu sagen habe Ein paar Berliner Zoten kommen schon noch, aber Ergänzungen sind natürlich immer recht!

Da schreib ich doch mal den nächsten langen Beitrag...
Ich warte dann mal ab, bis Du fertig bist. Sage das dann aber bitte ausdrücklich, wenn Du meinst, dass wahrscheinlich nichts mehr hinzu kommt.

Stern
 
Zwar erscheint die Rede von der Maschine klar genug - und eindeutig. Doch mit einer oberflächlichen Lektüre tut man dem Bretonen unrecht. Vielmehr sind es Hypothesen, keine Dogmen, die er verkündet. In einigen nachfolgenden Büchern geht er daher ohne zu zögern daran, seine Ausgangsthese wieder zu verwerfen: nein, der Mensch sei keine Maschne, postuliert er in L'homme plus que Machine, und konstatiert, dass die Vaucansonschen Maschinen (Erfinder verschiedener Automaten wie etwa die mechanische Ente) nichts, aber auch gar nichts mit dem Menschen zu tun haben, weder mit dem Menschen noch mit dem Tier:
Weit weg sollte man all diese plumpen Hebelkörper werfen, welche mit trivialen und mechanischen Vergleichen die Seelen der Tiere entehren; diese plumpen Maschinen entsprechen nur den häßlichen Klempnern, die sie hergestellt haben.

Tatsächlich verwirft er sogar die "Tiermaschine" von Descartes (in: Animeaux plus que Machines, 1750) - durchaus konsequent, sieht er doch keine qualitativen Unterschiede zwischen Mensch und Tier, und mit Fug und Recht kann man ihn daher als einen der ersten Vertreter einer Emanzipation der Tiere ansehen. Das folgende Zitat aus dem letztgenannten Werk könnte auf dem Schreibtisch eines modernen Tierversuchsgegners entstanden sein; darin prangert er die Brutalität der Tierpräparation an:
Schneiden Sie die Brust des Vogels auf, nachdem Sie ihm die Haut abgezogen haben; drehen Sie dann die Beine aus & schneiden Sie sie bei der ersten Knochenfügung ab; dasselbe machen Sie mit den Flügeln; dann schälen Sie die Haut am Hals bis zum Kopf weg; dann schneiden Sie alle Muskeln von den Wirbeln, schließlich schneiden Sie den Schwanz ab ... Ziehen Sie alsdann die Haut so auseinander, daB sie auf genau zwei Seiten aufgeteilt wird: die eine davon sollte auf eine kleine Holzplatte gespannt 8c mit Nadeln festgesteckt werden.

Diese Beispiele machen deutlich, dass die "mechanistische" Sicht auf Lamettrie viel zu kurz greift. Lamettrie gilt ja als Vater (zumindest) des französischen Materialismus. Auch diese Sicht ist falsch. Tatsächlich hat er kein System des Materialismus begründet, wie das später d'Holbach getan hat; sein einziges "System" sind Aphorismen (!), die sich auf Epikur beziehen, das Système d'Epicure. Hypothesen sind es, mit denen Lamettrie arbeitet, und werbewirksame Schlagworte wie "Mensch als Maschine", keine Philosophie und noch weniger ein philosophisches System im strikten Sinne. Seine Methode ist empirisch, hier bleibt der ausgebildete Mediziner auch als Philosoph seinem Fach treu; sein philosophisches Denken ist skeptisch; sein Fühlen fußt dagegen eher auf Romantik denn auf knallhartem Rationalismus. Ursula Jauch fasst die widersprüchlichen argumentativen Tendenzen im Homme Machine zusammen:
Mit der Maschinenmetapher hatte sich La Mettrie als zynischer Meisterdenker der im Rationalismus stattfindenden Ent-Sinnlichung des Lebendigen vorgestellt. Er hatte mit krassen literarischen Mitteln darauf hingewiesen, wie einfach es ist, lebendige Körper zu depotenzieren; er hatte als einer der ersten darauf aufmerksam gemacht, wie sehr das im metaphysischen Halbschatten liegende »Glück« durch die rasselnde Aufklärungsmaschine aufgescheucht worden war und nun Gefahr lief, im Getriebe einer hektischen Wissensbetriebsamkeit unterzugehen. Der nun rastlos tätige Mensch setzt »Zeit« an die Stelle von »Glück«. Ruhe, Kontemplation, stiller Genuß, schläfrige Reflexion: sie alle haben einer enzyklopädischen Wissensbeschaffung zu weichen. Der aufgeklärte Körper wird unter ständigem Erkenntnisdruck gehalten. Dynamik hat die Kontemplation, das Datensammeln die Reflexion ersetzt. Das war die hintergründige Botschaft des Homme Machine. (S.421)

Ohne diese Widersprüchlichkeit (man könnte auch von "Dialektik" sprechen) versteht man die Intention dieses Philosophen völlig falsch! Im Homme plus que Machine wird diese Dialektik in einem Zwiegespräch zweier Disputanten, einem Idealisten und einem Materialisten, in extenso ausgebreitet. (Zwar gibt es über die Autorenschaft dieses Werkes einen Disput, worin Lamettries Verleger Elie Luzac als Verfasser auftaucht - schließlich steht sein Name auf der Titelseite. Wenn man allerdings echte Schriften dieses Mannes durchliest, wird schnell klar, dass er über die literarische Kraft eines solchen Textes einfach nicht verfügt.) Auch in der Pénélope (s.o.) gilt dieses gedoppelte Prinzip, denn das Werk ist gegliedert in einen ersten "machiavellistischen" und einen zweiten "anti-machiavellistischen" Teil, in welchem dem ersten widersprochen wird. Und im Epître à Mlle A.C.P. aus dem Jahre 1749 heißt es: "Reine Maschine, der Mensch als Pflanze, der Mensch als Maschine, der Mensch mehr als Maschine; das sind die Titel, die ihn [gemeint ist Lamettrie selbst] anrühren, die seinen Ehrgeiz anstacheln, und mit denen er sich Ruhm verschafft."

(ff,)
 
Zwischenbemerkung

Ich habe gestern meinen Text fertiggestellt und sehe, dass er 21 Seiten umfasst, der letzte Beitrag hat gerade die Seitennummer 8. Das ist eine Katastrophe! Ich weiß auch nicht, was da über mich gekommen ist, aber sicher ist, dass ich so etwas nicht mehr mache, dafür ist ein Forum nicht der richtige Ort. Ich muss da eh einiges überdenken.
Vielleicht ist dafür ein blog besser, ich weiß nicht. Jedenfalls werde ich die Biographie in diesem Thread abschließen, es wird halt eine Woche oder mehr dauern, wie ein Fortsetzungsroman eben.
 
Ich habe gestern meinen Text fertiggestellt und sehe, dass er 21 Seiten umfasst, der letzte Beitrag hat gerade die Seitennummer 8. Das ist eine Katastrophe!
Ach, eine Katastrophe ist dann doch was anderes...;)
Ich lese den "Fortsetzungsroman" mit großem Interesse und freue mich, so ausführlich und kompetent über einen (mir) bis dahin unbekannten, aber keineswegs unbedeutenden Menschen informiert zu werden.
 
Die Kontroverse mit Haller

Danke, @Hulda.Trotzdem passen solche Fortsetzungsromane schwerlich in ein Forum.
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Das Buch wird ein Erfolg, bringt ihn aber seiner atheistischen Tendenzen wegen selbst im liberalen Holland in Gefahr. Der erst 24jährige Verleger Luzac wird 1747 vom Leidener Konsistorium der Wallonischen Kirche dazu verurteilt, alle Kopien des Homme Machine abzuliefern und den Namen des Autors herauszugeben; am Schluss wird ihm eine Summe von 2000 Florins aufgebrummt - ohne dass Luzac allerdings den Namen preisgibt! Ein weiterer Maloenser, der Philosoph, Mathematiker und Geograph Mapertuis, hat in dieser Zeit die Stellung als Präsident der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin inne, die unter der Schirmherrschaft von Friedrich II bedeutende Wissenschaftler an sich bindet, darunter auch Voltaire, der seinerseits Maupertuis nach Berlin gelockt hatte. Dieser wiederum bietet Lamettrie ebenfalls eine Stelle an, um ihn vor Verfolgungen zu beschützen.

Vor dieser erneuten Flucht allerdings ein weiterer Einschub des literarischen Lebens unseres Helden.

Für den Wissenschaftshistoriker von Interesse dürfte die Kontroverse von Haller / Lamettrie sein, die ich jetzt kurz umreißen will. Der Berner Albrecht von Haller war wie erwähnt Schüler des großen Boerhaave genau wie Lamettrie. Er verfiel allerdings 1745 auf die Idee, die Übersetzungen, die der Franzose von Boerhaaves Schriften angefertigt hatte, als Plagiate zu deklarieren, in Wirklichkeit stammten sie nämlich von ihm, Haller, selbst. Tatsächlich hatte Lamettrie die von Haller kommentierte lateinische Ausgabe der Institutiones rei medicae des Leidener Mediziners ins Französische übersetzt, allerdings mit Kennzeichnung der Autoren. Gleichgültig: die Fehde war eröffnet! Lamettrie rächte sich an dem etwas behäbigen Haller, der seit 1736 an der Universität von Göttingen als Professor für Anatomie lehrte, indem er ihm die voluminöse Vorrede seines L'Homme Machine widmet: "An Herrn Haller...":
Dies hier ist keineswegs eine Widmung; Sie sind weit erhaben über alle Lobreden, die ich auf Sie halten könnte; und ich kenne nichts, das so unnütz und fad wäre wie eine akademische Abhandlung. Es ist auch durchaus keine Darlegung der neuen Methode, der ich gefolgt bin, um ein so verbrauchtes und abgedroschenes Thema wieder aufleben zu lassen. Sie werden ihm wenigstens dieses Verdienst zukommen lassen; und im übrigen werden Sie beurteilen, ob Ihr Schüler und Freund seine Aufgabe gut erfüllt hat. (HM, S.7)

In dieser Vorrede bezeichnet er ihn als "Freund" und Lehrer, als "zweifachen Sohn Apolls" - nämlich als "gelehrten Arzt und noch größeren Dichter", nur um die ironisch gemeinten Attribute Schritt für Schritt zu relativieren, abzuwerten und der Lächerlichkeit preiszugeben:
Was soll ich über den Chemiker, den Geometer, den Physiker, den Mechaniker, den Anatomen etc. sagen? Letzterer hat fast so viel Vergnügen bei der Untersuchung eines toten Menschen wie man dabei gehabt hat, als man ihm das Leben schenkte. (HM, S.17)

Bis er ihn schließlich zum Ende dieses Vorworts beinahe unverblümt bloßstellt:
Der erste Nutzen der Wissenschaften besteht also darin, sie zu pflegen; schon das ist ein echtes und beständiges Gut. Glücklich, wer Neigung zum Studium hat! Noch glücklicher jener, dem es damit gelingt, seinen Geist von dessen Illusionen und sein Herz von seiner Eitelkeit zu befreien - ein erstrebenswertes Ziel, zu dem Sie in einem noch jungen Alter von der Hand der Weisheit geführt worden sind, während so viele Pedanten, die nach einem halben Jahrhundert nächtlicher Studien und Arbeiten mehr von der Last der Vorurteile als von der des Alters gebeugt sind, alles gelernt zu haben scheinen, außer zu denken. Das Denken ist zwar eine seltsame Wissenschaft, vor allem bei den Gelehrten, und doch sollte es wenigstens die Frucht aller anderen sein. Diese Wissenschaft allein ist es, der ich mich seit meiner Kindheit verschrieben habe. Beurteilen Sie selbst, mein Herr, ob ich erfolgreich war - und möge diese Widmung meiner Freundschaft ewig von der Ihrigen wertgeschätzt sein. (HM, S.19)

Zunächst hat Haller diesen Affront gar nicht verstanden, sondern ist von einer Lobrede auf seine Leistungen ausgegangen; erst Freunde müssen ihn über die hintergründigen Gemeinheiten dieses angeblichen Lobes aufklären.

Die Fehde geht hin und her, selbst Lessing mischt sich in diese Auseinandersetzung. Mitte 1751 bespricht er im Juniheft von Das Neueste aus dem Reiche des Witzes die gerade erschienene L'art de jouir von Lamettrie, worin er nachzuweisen versucht, dass dieser die Hallersche Ode an Doris entstellend plagiiert habe:
Was für eine Beleidigung gegen einen tugendhaften Dichter, seine unschuldigen Empfindungen unter priapeische Ausrufungen vermengt zu sehen! Es ist das zweite Unrecht, welches dem Herrn von Haller durch den Herrn de la Mettrie geschieht. Doch vielleicht ist dieses nur eine Folge von dem ersten. Da er in der Zueignungsschrift seines Werkes 'Der Mensch eine Maschine' sich die Gedichte dieses Mannes gelesen zu haben rühmte, so hat er vielleicht jetzo dadurch, da er sie ausgeschrieben, beweisen wollen, daß er sie würklich gelesen habe, woran man damals zweifeln konnte, weil die französische Übersetzung noch nicht heraus war.

Dies ist Hallers Original:

Komm Doris, komm zu jenen Buchen,
Laß uns den stillen Grund besuchen
Wo nichts sich regt als ich und du. (... )
Sprich, Doris! fühlst du nicht im Herzen
Die zarte Regung sanfter Schmerzen,
Die süßer sind als alle Lust?
Strahlt nicht dein holder Blick gelinder?
Rollt nicht dein Blut sich selbst geschwinder
Und schwellt die Unschulds-volle Brust?
Ich weiß, daB sich dein Herz befraget
Und ein Begriff zum andern saget:
Wie wird mir doch? was fühle ich?
Mein Kind! du wirst es nicht erkennen,
Ich aber werd es leichtlich nennen,
Ich fühle mehr als das für dich.

Teile dieser Ode des jungen Haller verwendete Lamettrie in seiner Schrift über die Wolllust, dazu musste er lediglich Doris durch eine gewisse Phillis ersetzen. Durch einen veränderten Kontext wurde die Tönung dieses Gedichts sehr verändert!

Eine späte Schrift Lamettries Le petit homme à longe queue, deren Titel man im Lessingschen Sinne durchaus als "porneutisch" deuten darf, schlägt in ähnlicher Weise unter die Gürtellinie. Am Ende der literarischen Schlacht lässt der genervte Schweizer Professor seine Beziehungen spielen, in dem er seinem Bekannten Maupertuis bittet, an Friedrichs Hof dafür zu sorgen, dass Lamettrie nicht mehr veröffentlichen darf. Diese Bitte erreicht den Präsidenten der Berliner Akademie der Wissenschaften allerdings zu spät: genau ein Tag später nach Abfassung dieses Briefes stirbt Lamettrie an einem Herzinfarkt (mehr dazu weiter unten).
 
...und die mit Voltaire

Wie man sieht, liebt Lamettrie die Kollegenschelte und hat sich damit viele Sympathien verscherzt. 1742 veröffentlicht er (zunächst anonym, später unter seinem Namen) einen knappen Essai über den "Geist und die Schöngeister", der sich zwar mit allen möglichen berühmten Geistesgrößen der Zeit befasst, vor allem jedoch Voltaire ins Visier nimmt. Zunächst beginnt seine Eloge mit wohlklingenden Worten, "ein wirklich gebildetes Genie, geleitet vom reinsten und delikatesten Geschmack" sei Voltaire, doch dann kommt es knüppeldick:
Sein Geist hat kaum genügend Reichweite, um den ganzen Reigen der großen Gegenstände, die er behandelt, wirklich zu fassen; er sieht sie weder in ihrer Folge noch in ihren Verbindungen; sein Geist glänzt nur mit kleinen Blitzen, dazwischen ist großer Nebel.

Kein Wunder, wenn der berühmte Schriftsteller einen tiefsitzenden Groll gegen den kaum bekannten Autor hegt, den er in einem Brief an seine Nichte zum Ausdruck bringt:
Es gibt hier [in Potsdam] ... einen zu fröhlichen Menschen; er heißt La Mettrie. Seine Ideen gleichen einem Feuerwerk, immer mit fliegenden Brandraketen durchsetzt. Dieses Getöse amüsiert eine Viertelstunde und ermüdet auf die Länge tödlich. Ohne daß es ihm bewußt worden wäre, hat er eben ein schlechtes Buch geschrieben, das in Potsdam gedruckt worden ist, darin verunglimpft er die Tugend und das Gewissen, lobt das Laster und lädt seinen Leser zu allerhand Unordnung ein, das ganze allerdings ohne schlechte Absicht. In seinem Werk hat es tausend Feuerspuren, aber keine halbe Seite Vernunft, es ist wie ein Blitzgewitter in der Nacht. Vernünftige Leute haben sich nun darangemacht, ihm die Absonderlichkeit seiner Moral aufzuzeigen. Er war sehr erstaunt, er weiß nicht, was er geschrieben hat, und wenn man will, wird er morgen auch das Gegenteil davon schreiben. Daß Gott mich davor bewahre, ihn zu meinem Leibarzt zu nehmen, mit größter Unschuld gäbe er mir ein teuflisches Ätzmittel anstatt Rhabarbersaft, und dann würde er laut loslachen. Dieser merkwürdige Arzt ist Vorleser des Königs, und das Gute daran ist, daß er ihm gegenwärtig die Kirchengeschichte vorlesen muß. Er überschlägt Hunderte von Seiten, um dann bei einer Stelle anzuhalten, wo der König und sein Vorleser vor Lachen beinahe ersticken.

Bis heute hat Lamettrie noch keinen guten Leumund. In einer Biographe über Voltaire von Jean Orieux heißt es über den Bretonen, der Voltaire am Hof des preußischen Königs kennengelernt hatte:
Julien Offray de La Mettrie war am 25. Dezember 1709 in Saint-Malo geboren, wie Maupertuis, der ihm geholfen und ihn Friedrich empfohlen hatte. Er war ein exaltierter und ein wenig verrückter Mann, dessen Ansichten ebensogut genial wie verschroben sein konnten. Immer brodelten tausend verschiedene Ideen in ihm, und der Wein hatte nicht wenig mit diesem Gärungsprozeß zu tun. Er trat in ein Kloster ein, nur um es wieder zu verlassen. Dann wurde er Arzt. Sezieren liebte er über alles, und er gab sich dieser Tätigkeit auf Gedeih und Verderb hin, indem er Militärarzt wurde; der Krieg stellte ihm das Material für seine Kunst. Es sieht nicht so aus, als hätten menschliche Gefühle ihn dabei gestört. Eines Tages erzählte er bei Tisch, ohne sich um die zuhörenden Diener zu kümmern, daß er sich gerne gewissen Experimenten an Bedienten und Soldaten widme, an denen er die von ihm erfundenen Heilmittel ausprobiere. Verrückt wie er war, mußte man vermuten, daß seine Pharmakopöe mehr Verwüstungen verursacht habe als die kleinen Phiolen der Borgia. Eines Tages, als er an das Bett eines kranken Stallknechtes kam, war er nicht wenig erstaunt, von den Kameraden des Unglücklichen mit Mistgabeln empfangen zu werden. Der Kranke glaubte beim Anblick La Mettries den Tod selbst zu erblicken. Natürlich schrieb auch er. Im Jahre 1746 machte er eine Zeitlang von sich reden durch sein Werk: 'La politique du médecin Machiavell ou Le chemin de la fortune ouvert aux médecins'. Das Buch wurde beschlagnahmt und auf gerichtlichen Beschluß hin verbrannt. Friedrich war der Ansicht, daß dies eine unvergleichliche Empfehlung für einen Autor sei, er ergötzte sich an der Lektüre des beschlagnahmten Buches und ließ La Mettrie kommen.
Kein Zweifel, dass diese perfiden Anekdoten in dieser Kurzbiographie reine Erfindungen Voltaires sind. Wie der Voltaire-Forscher herausfand, (André Magnan, Dossier Voltaire en Presse 1750-1753, Oxford 1986), hatte Voltaire einen großen Teil seiner Berliner Korrespondenz nachträglich umgearbeitet (vulgo: gefälscht), um sich nach seinem Bruch mit Friedrich II. an diesem zu rächen. In dieses Unternehmen zog er unter anderem auch den bereits verschiedenen Lamettrie hinein. So schreibt er z.B., dass jener sich zwar Friedrich gegenüber loyal gebe, in Wirklichkeit jedoch hinter seinem Rücken zusammen mit Voltaire aus Heimweh weine. Die Wirkung dieses falschen Zeugnisses ist ein Kupferstich, auf dem Voltaire und Lamettrie im vertrauten Gespräch gezeigt werden - kurz nachdem diese Briefe veröffentlicht worden waren. Zudem habe der König seinem Vorleser mitgeteilt, Voltaire habe er nur noch 1-2 Jahre nötig, dann sei diese Orange ausgepresst und die Schale müsse weggeworfen werden. All diese Berichte sind frei erfunden in der Absicht, den preußischen König als Tyrannen hinzustellen, richtig daran ist allerdings, dass Lamettrie in der Tat einen vertrauensvollen Umgang mit Friedrich hatte.
 
Der Anti-Stoiker

Zurück nach Leiden, ins Jahr 1748! Nach Empfehlung von Maupertuis macht sich Lamettrie 1748 nach Berlin auf, wird Leibarzt Friedrich II, auch sein Vorleser und teilweise auch Hofnarr, aber auch Teilnehmer der königlichen Tafelrunde. Und er wird als Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften aufgenommen. In Potsdam kann er seine Schriften weiter publizieren, auch wenn Friedrich nicht mit allem einverstanden ist, was aus seiner Feder kommt.

Deswegen wohl wird ihm von Maupertuis geraten, sich mit Übersetzungen zu begnügen, um "seine gefährliche Einbildungskraft einzuschränken", wie er sich ausdrückt. Lamettrie aber möchte eigenes an den Mann bringen: daher übersetzt er zwar Senecas De beata vita, setzt aber dem Werk eine Vorrede voran, die sich gewaschen hat: denn nichts bleibt darin von Seneca übrig, tatsächlich entpuppt sich die Vorrede als geradezu das Gegenteil der antiken Schrift, so dass man sie später als Anti-Seneca bezeichnet hat. Anlässlich der Vorrrede zur Beata Vita des Seneca polemisiert Diderot gegen Monsieur "La M***", er sei ein "Autor ohne Urteil, der über Senecas Doktrin geredet hat, ohne sie zu kennen" und der in seinem Traktat keine einzige gute Zeile geschrieben habe. Dieser Verriss ist umso aufschlussreicher, als in der Originalfassung seines Rêve de d'Alembert die Rolle des Arztes mit Lamettrie besetzt hat; in der posthum gedruckten Fassung wird dieser allerdings durch Bourdeu ersetzt, einen Mitarbeiter der Encyclopedie.

Der Anti-Seneca unter dem Titel Discours sur le bonheur, propagiert eine sensualistische Glückslehre, wie man sie vom Autor der L'homme machine wohl erwartet. Die Schrift ist ein genauer Gegenentwurf zu Senecas De beata vita. Dies wird schon zu Anfang des Textes deutlich, wenn er einen kurzen Abriss der stoischen Glückslehre gibt und dann ausruft:
Da wollen wir doch lieber Anti-Stoiker sein! Jene Philosophen sind freudlos, strneg und hart; wir dagegen wollen heiter, milde und freundlich sein. Sie, ganz Seele, kümmern sich nicht um ihr körperliches Heil; wir, ganz Körper, wollen uns nicht um unser Seelenheil kümmern. Sie zeigen sich unempfindlich gegenüber Freud und Leid; wir wollen stolz darauf sein, beides zu empfinden. Sie stellen sich, indem sie verbissen nach dem Erhabenen streben, über die weltlichen Dinge und halten sich nur in dem Maße für wahre Menschen, in dem sie aufhören, Menschen zu sein.

Hierauf folgt nun eine Definition verschiedener Zustände der Seele: Freude wird bestimmt als kurzes positives Gefühl, dauert die Empfindung länger, heißt sie Lust, und "ist sie dauerhaft, dann ist es Glückseligkeit". Nur die Intensität und Dauer also unterscheidet die verschiedenen Empfindungen. Und also sieht das Glück aus:
Die Freiheit von jeder Furcht und jedem Wunsch, die Seneca postuliert, ist ein negatives Glück, weil so die Seele nur von allem befreit ist, was ihre Ruhe stören könnte. Descartes fordert dazu noch, daß man die Gründe kenne, warum man ohne Furcht und Wunsch sein soll. Diese Gründe, die unser Stoiker stillschweigend übergeht, mögen zwar geeignet sein; den Geist fest und unerschütterlich zu machen; aber gesetzt, man habe keine Furcht: welche Rolle spielt es dann, ob dies der Maschine oder der Philosophie zu verdanken ist? Alles so zu haben wie man es möchte: eine ausgezeichnete Organisation, Schönheit, Wissen, Geist, Talent, Charme, Ehren, Wohlstand, Gesundheit, Vergnügungen, Ansehen - das ist das wirkliche und vollkommene Glück.
Dem Seneca wiederum ist es "wahre Wollust, die Wollust zu verachten", es scheint ihm als ein Verrat am Geist, den Körper aufzuwerten. Nicht im Genuss, sondern in der Mäßigung liegt die wahre Freude. Doch Seneca war trotz seines Reichtums ein hinfälliger, kränkelnder Mensch, es ist zweifelhaft, ob er überhaupt wusste, was "Lust" bedeutet. Seneca wurde "Genießer mit lebensverneinenden Extratouren" (Ludwig Marcuse), zudem ein Karrierist, der seiner im Notfall auch seine Gesundheit opferte und diesen Zug als "Tugend" feierte.

Die anti-stoische Stoßrichtung wird dadurch verstärkt, dass Lamettrie explizit auf die Faktoren eingeht, welche ein solches Glück bewirken - in bewusstem Gegensatz zur Ansicht der Stoiker, die Bedeutung aller äußeren Ursachen zu negieren und sich ganz auf die innere Verfassung des Menschen zu konzentrieren. Lamettrie hingegen nimmt Erziehung, Sinneseindrücke, Wohlstand und soziale Anerkennung ausdrücklich in sein Glücksprogramm mit auf. Die inneren Ursachen wiederum nennt der Autor "organisches Glück", worunter wohl die Beschaffenheit des Gemüts verstanden wird, allerdings - wie von ihm gewohnt - ins Körperliche gewendet, daher "organisch". Falls diese inneren Anlagen nicht ausreichen, zählt u.a. auch das Opium als Beschaffer von Glückszuständen dazu, daneben die Träume, sogar Illusionen und Wahnsinn können ungeahnte Glücksmomente hervorrufen. "Das Glück scheint voll und ganz durch die Empfindung zu leben, erst der Tod beraubt uns dieser Empfindung" - das ist Sensualismus in Reinform!
 
Kleiner Einschub, bevor Eumolp weiter macht: Unser Verhalten wird nach heutigem Verständnis nicht unwesentlich durch die Auschüttung von "Endorphinen" gesteuert. Dies kann durch "bedingte Reflexe" erlernt werden, ist aber erst einmal genetisch (und evolutionär) verankert...
 
@de Silva

Sicher. Dass der Körper "Lust" - aus welchen Ursachen auch immer gespeist - verspürt und dass diese Lust motivierend wirkt, war natürlich schon den Alten seit Demokrit klar, wenn sie auch die Endorphine nicht kannten. Unerhört war allerdings die Ansicht, dass ausschließlich diese "organische" Lust das Glück bewirkt und die ethisch geprägten "Seelenglückstheorien" verworfen wurden.

Epikur wurde, wenn ich mich richtig entsinne, schon in einem Dialog von Erasmus als eigentlicher Christ präsentiert und damit rehabilitiert, wohl die einzige Form, wie man Epikur zu dieser Zeit einführen konnte. Dadurch wurde Epikurs negativer Hedonismus natürlich stark moralisiert. Aber schon ein gewisser Lorenzo Valla schrieb im 15. Jh. ein Buch Über die Lust, wo er Epikur als Anti-Moralist feiert, IMhO ein Vorreiter von Lamettries Discours. Wenn auch Vallas Dialog angeblich in einer christlich geprägten Sittenlehre mündet, diese allerdings als reine Satire zu lesen - auch hier ein Vorbild Lamettries, dessen Schriften mit Ironie getränkt sind.

(Anm: Im letzten quote-Absatz ist mir ein Malheur passiert, indem eigener Text in den Absatz reingezogen wurde. Aber ist ja nicht so wild.)
 
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