Monsieur Machine

Die Lehre von den Schuldgefühlen

Der Engländer Thomas de Quincey hatte 1821 seine Confessions of an English Opium-Eater geschrieben, Lamettries Diktum erscheint wie ein Vorgriff auf diese Bekenntnisse:
Daß meine Schmerzen verschwunden waren, wurde in meinen Augen zu einer Kleinigkeit; der negative Effekt wurde von der ungeheuren Größe jener positiven Auswirkungen verschlungen, die sich vor mir in der Unendlichkeit des göttlichen Vergnügens auftaten, das sich mir plötzlich offenbart hatte. Hier gab es ein Allheilmittel.... hier war das Geheimnis des Glücks auf einmal entdeckt, über das die Philosophen so viele Jahrhunderte diskutiert hatten; das Glück konnte jetzt für einen Penny gekauft und in der Westentasche mitgenommen werden; tragbare Ekstasen konnte man auf Halbliterflaschen abgezogen bekommen, und Seelenfrieden ließ sich mit der Post versenden.

Baudelaire wird 1860 die Gedanken des Bretonen wieder in seine Paradis artificiels aufnehmen. Heute, in den Zeiten der Herointoten, wird uns diese Opiumlehre sauer aufstoßen. Doch es muss erlaubt sein, dass sich ein Autor dieser Fragestellung widmet, inwieweit und wodurch es Drogen schaffen, Glücksgefühle zu produzieren - insbesondere dann, wenn dieser Autor Mediziner ist. Wer sich trotzdem über die Unverfrorenheit des Philosophen aufregt, der sei daran erinnert, dass sich sein Intimfeind Haller noch 1778 eines täglichen Opiumsgenusses rühmt (die diesbezügliche lateinische Schrift Hallers wurde erst 1962 ins Deutsche übersetzt), und dass ein gewisser Sigmund Freud 1884 einen enthusiastischen Bericht über das Kokain veröffentlicht ("Über Coca").

Weiter mit dem Anti-Seneca! im Gegensatz zu den sehr irdischen Glücksgütern lehnt der Bretone alles, was sich die Religionen über das ewige Leben der Seele ausgedacht haben, kurzerhand ab. Die Tugend dagegen, die der Stoa als Garant jeglichen Glücks gilt, spielt für Lamettrie nur die Rolle einer gesellschaftlichen Größe, die den Menschen eher behindert als fördert: "Man ist glücklich für sich selbst, und nicht für die anderen." Und: "Eine alte Vettel ist sie, die Tugend, der ihr [gemeint sind die Stoiker] nachlauft wegen der Juwelen, die an ihren Ohren baumeln."

Man sieht an diesen Beispielen, wie wenig "philosophisch" diese Glückslehre klingt und wie frivol diese Überlegungen auf die bürgerlichen, staats- und kirchentreuen Gelehrten wirken mussten. Doch gerade die Frage der gesellschaftlichen Institutionen in ihrer Wirkung auf die individuellen Glücksmöglichkeiten lässt Lamettrie nicht so schnell los: Ruhm und Ehre als die positiv, Schande und Schuld als die negativ bewerteten Güter dieser Institutionen sind für ihn nichts anderes als Phantome, deren sich die Gesellschaft bedient, um auf die Vorstellungskraft der Menschen einzuwirken und sie dadurch zu manipulieren. Diese Bestimmung der Tugend als zwar ein notwendiges gesellschaftliches Übel, um die Handlungen der Menschen untereinander zu koordinieren, wird aber im Rahmen seiner Glückslehre vor allem hinderlich wirken. Gut und böse sind also keine absoluten Kategorien, sondern es sind bloß die Interessen der Gesellschaft, die das eine vom anderen trennen. Eine Wahrheit, fügt Lamettrie hier hellsichtig an, die man aber nicht zu laut hinausposaunen sollte! Trotzdem posaunt er einiges heraus. Denn auch das Verbrechen, sofern es bloß als Gegenteil einer gesellschaftlich definierten Tugend bestimmt ist und selbst lustvoll wirken kann, lehnt er nicht rundherum ab: "Wenn allerdings die natürlichen Freuden Verbrechen sind, dann besteht die Glückseligkeit des Menschen gewiss darin, Verbrecher zu sein. Heu! miseri, quorum gaudia crimen habent!"
Da die wahre Quelle der Glückseligkeit in den Freuden der Seele liegt, ist doch offensichtlich, dass Gut und Bäse an sich in Hinblick auf die Glückseligkeit keine Rolle spielen; und dass derjenige, der durch eine böse Tat zu einer großen Befriediung kommt, glücklicher sein wird als jeder andere, dem eine gut Tat eine geringere bereitet. Dies erklärt, warum in dieser Welt so viele Schurken glücklich sind; es zeigt zudem, dass es durchaus eine eigentümliche Art Glückseligkeit gibt, die nicht in der Tugend und sogar im Verbrechen liegt.
Ungeheuerlich erscheint diese Lehre, in gewisser Weise stellt sie einen anarchistischen Entwurf avant la lettre dar und deckt sich in manchen Partien mit dem Einzigen und sein Eigentum Max Stirners, das ungefähr hundert Jahre später, kurz vor der "deutschen Revolution" 1844 erschienen ist.

Auch Lamettrie ist sich der Sprengkraft seiner Ideen bewusst, daher schiebt er zu ihrer Unterstützung eine Lehre des Schuldgefühls (remords = Gewissensbisse) ein, womit er Freud's Instanz des Über-Ich schon recht genau vorwegnimmt. "Warum erscheint überhaupt das Schuldgefühl?" beginnen seine Überlegungen in dieser Frage, um mit einer Rückblende auf die Kindheit zu antworten: "Schuldgefühle sind nichts anderes als unangenehme Reminiszenzen", eingeschliffene Ermahnungen, die man den Kindern einimpft und durch Bestrafungen absichert und sie damit ihr Leben lang prägt. Lamettrie begreift den Gewissensbiss somit als "inneren Feind": "Er sitzt hinten und reitet mit". Somit sind Schuldgefühle kulturell bestimmt, was im 18. Jahrhundert vor allem "religiös bestimmt" heißt. Dagegen sieht man bei Vorherrschen anderer religiöser Sitten auch andere Arten von Schuldgefühlen; sie sind also keineswegs feste Größen, also auch nicht angeboren, sondern abhängig von der jeweiligen Formation der Gesellschaft. Am Beispiel der Neonatiziden und der freizügigen Sexualität, ja sogar der Hochachtung des Diebstahls im antiken Sparta will er nachweisen, wie sehr gesellschaftliche Sitten auch die Schuldgefühle beeinflussen. Und so fasst er all diese Überlegungen in einem kühnen Wurf zusammen:
Wer hätte sich dabei auch je nach der Stimme seines Gewissens gerichtet? Wer hätte sich je allein wegen künftiger Schuldgefühle davon abhalten lassen, das zu tun, was er gern tun wollte oder was für sein Ansehen bzw. für seinen Besitzstand von Vorteil sein würde? Schuldgefühle sind also ohne Nutzen: sie bzw. ihre mahnende Stimme zunächst vor dem Verbrechen; und während des Verbrechens ist man in einem solch erregten Zustand, daß man an nichts weniger denkt als an das Gefühl, von dem man später zermartert wird. Kaum aber ist das Verbrechen geschehen, da erhebt sich das Schuldgefühl als wollte es im Namen der Gesellschaft Rache nehmen. Nützen könnte es allenfalls bei den Menschen, bei denen es ohnehin nicht vonnöten ist; bei den anderen, bei denen die Böswilligkeit angeboren und organisch ist, verhindert die Pein, die es verursacht, nur in den seltensten Fällen, wenn überhaupt je, den Rückfall. Das Schuldgefühl an sich ist also, nüchtern betrachtet, in jedem Falle ohne Nutzen: vor, während und nach dem Verbrechen. (Discours... S.58f)

Die Nachwirkung der Theorie der Schuldgefühle beschreibt Lamettries Biographin Jauch sehr anschaulich, auch in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit:
Mehr noch als wegen des - mißverstandenen - Homme Machine ist La Mettrie wegen der »Immoralität« seiner Moral, wegen seiner Thesen über die Sinnlosigkeit der Gewissensbisse angegriffen worden. Freilich gilt auch hier: Wo nicht genau gelesen wird, ist es ein leichtes, eine These als »moralischen Nihilismus« abzutun und La Mettrie damit ideengeschichtlich als Wegbereiter Sades, als Vorläufer Nietzsches, als Ahnvater einer »nihilistischen Moral« zuzubereiten. Viel ist über La Mettries »unmoralische Moral« schon geschrieben worden. Und dennoch bleibt als Widerspruch, daß La Mettrie von den einen als »Humanist«, als Pädagoge einer »imperativlosen Seinsethik«, als »gute Seele«, überhaupt als Menschen-, Tier- und Naturfreund wahrgenommen, von den anderen aber als jener negative Denker perhorresziert wird, der jede ethische Theorie, die normative Vorgaben über Gut und Böse vertritt, nicht nur bestritten, sondern aufs Heftigste sogar abgelehnt habe.

Also müssen die Freuden und die Tugend zusammenkommen und zusammenstimmen; eine klar erkannte Tugend darf sich nicht an der sauren Versagung abarbeiten, sondern muss Bestandteil des Glücks selbst werden; ein Schritt hierauf wäre eine richtige Erziehung. Letzten Endes wird die Natur immer wieder siegen: "Den Gesetzen der Natur kann man sich nicht entziehen". Doch diese Natur, so der Autor, lehre uns immer aufs neue, "das Leben zu lieben, das Leben, den uns die fanatisch betriebene Philosophie des Stoizismus entfremdet."

Wenn er nun die Tugend als dasjenige bestimmt, was dem Staat nützlich ist, dann nimmt dieses Urteil nichts anderes als das Jeremy Benthams voraus, der im größten Glück der größten Zahl das Staatsziel "Tugend" definierte. Selbst hier zeigt sich das denkerische Potential dieses Vielschreibers, der so vieles, was gewissermaßen "in der Luft" lag, aufnahm, in Worte umsetzte - und schnell wieder zum nächsten Gedanken aufbrach!
Konträr zur Lebensperspektive des Christentums, konträr zu Erbsünde, Jammertal und Erlösung erst im jenseits postuliert La Mettrie eine Weltsicht, die in kindlicher Unbekümmertheit auf beglückende Diesseitigkeit, auf das Zusammengehen von körperlichem und geistigem Wohlergehen, auf sinnliches Glück ohne die Zinslast religiöser Schuldgefühle hinausläuft. [...] Die vielleicht größte Provokation aber lag in der biologistischen Perspektive, die La Mettrie zu eröffnen schien: Der Schlüssel zum Glück liegt nicht in religiöser Transzendenz und Seinsenthobenheit, sondern in der biologischen Natur des Menschen selbst. Die Kenntnis der Beschaffenheit und der Bedürfnisse des Körpers ist ein verläßlicherer Wegweiser zum Glück als Ablaß, Beichte und Bibelstudium. (Jauch S.512f)
 
Ein Hedonist?

Zur Drucklegung dieser Schrift hat sich Lamettrie einige Tricks einfallen lassen, diese sind noch in einem Schreiben seines Verlegers Ch.Fr. Voss an den zuständigen Zensor Uhde nachzulesen:
Wohlgebohrner, Insonders HochzuEhrender Herr Geheim-Rath!
Ew. Wohlgebl. haben mir befohlen, mir wegen des Verlags des Discours preliminaire vor der Französischen Übersetzung des Tractats des Seneca de la vie heureuse zu rechtfertigen, welches ich hiemit nach Wahrheit u. Gewissen meiner Schuldigkeit gemäß zu thun die Ehre habe.
Als mir der Herr de La Mettrie als Verfasser besagten Discours seine manuscripta zum Verlag antruge, antwortete ich ihm, daß ich es zwar verlegen wolte, aber daß es nicht ohne vorher gehender Censur geschehen könte. Weil mir kurtz vorher ein Befehl insinuiret worden war, nach welchem ich nichts ohne Censur drucken lassen solte. Er nahm daher das Manuscript wieder mit sich zurück. Einige Tage darauf kam er wieder mit demselben zu mir, und sagte daß es Ihro Mayt. der König gesehn und auf Höchst deroselben Befehl gedruckt werden solte, auch der Befehl wegen einer Censur bereits wiederum aufgehoben worden wäre. Welches letztre mir kurtz darauf ebenfalls bekant gemacht wurde. Ich wagte es daher nicht in die Versicherung eines Mannes, welcher, als ein Gelehrter in Königlicher Pension stehet, und als ein Mittglied der Königl. Academie der Wissenschafften, sich wohl nicht unterfangen würde, dergleichen ohne Grund vorzugeben, einiges Mißtrauen zu setzen; noch weniger unterstand ich mich bey Sr. Mayt. Anfrage zu thun, ob das was er gesagt sich so verhalte. Was mich noch mehr wegen seiner Versicherung außer Zweifel setzte, war daß ich einige Exemplar sauber einbinden lassen und an Sr. Mayt. den König liefern mußte.
Offensichtlich musste Lamettrie in Gestalt des Königs nachhelfen, um seine Seneca-Übersetzung an den Mann zu bringen, denn in der Forschung gilt es als ausgemacht, dass es nicht Friedrich selbst war, der die angebliche nachträglichen Erlaubnis gegeben hat.

Diese Lehre über die Schuldgefühle ging Friedrich zu weit: als die Schrift publiziert war, soll er vor Wut einige Bände ins Feuer geworden haben, wie der junge Lessing in einem Brief an seinen Vater erwähnt, dieser ebenfalls leidenschaftlicher Gegner des Arzt-Philosophen, den er "abscheulich" nennt. Ohnehin waren nur eine Auflage von 12 erschienen, 10 davon soll Friedrich nach einem Ausspruch von Lessing vernichtet haben. Später wurde das Werk allerdings nachgedruckt, zusammen mit einer überarbeiteten Version der Volupté, die jetzt "Die Kunst, Wollust zu empfinden" hieß.

War LaMettrie ein Hedonist? Wenn man diesen Begriff im Sinne des Aristipp gebraucht, der als einziger der griechischen Philosophen die Lust als höchstes Gut deklarierte, sicher in einem gewissen Umfang, zumindest wenn man ihn oberflächlich liest. So schreibt er in seinem Discours sur le bonheur:
Alles so zu haben wie man es möchte: eine ausgezeichnete Organisation, Schönheit, Wissen, Geist, Talent, Charme, Ehren, Wohlstand, Gesundheit, Vergnügungen, Ansehen - das ist das wirkliche und vollkommene Glück.

Dagegen bezeichnet er sich selbst als Anhänger des Epikur, der doch vielmehr die Freiheit von Schmerz als das höchste Gut pries - und nicht eben die Lust im positiven Sinn. Dieser negative Ansatz liegt Lamettrie jedoch fern, viel eher kann man ihn in diesem Sinne einen Epikuräer nennen, der eine als "hedonistische Arithmetik" anstrebt: ein "leidenschaftlicher Freund der Wolllust und ein ebensolcher Feind der Ausschweifung" sei er (System d'Epicure §78). Doch gerät unsersehens ein Wermutstropfen in die oberflächlich erscheinende Philosophie der Lust, beinahe gegen den Willen des Verfassers, wenn er vom Noch-Nicht- und Nicht-Mehr-Leben in der Postulierung eines Carpe Diem schreibt:
Genießen wir das Heute! Nur das zählt für unser Leben. Tot sind wir all die Jahre, die wir in der Zukunft leben, einer Zeit, die noch nicht ist; denn sie ist uns ebensowenig verfügbar wie die Vergangenheit, eine Zeit, die nicht mehr ist. Wenn wir die Freuden, die sich uns heute anbieten, ignorieren oder gar fliehen, dann wird es eines Tages so sein, daß sie uns fliehen und wir sie vergeblich suchen werden. (System d'Epicure §81)

Diese Einsicht in die Endlichkeit aller Lust tut sich folgerichtig kund: "Es ist ein kühler Wind, der uns zeitlebens entgegenweht" (§82) - und Lamettrie weiß, wovon er spricht, hat er doch diesen kühlen Wind zeitlebens aufgesucht und im Notfall sogar selbst erzeugt. Wenn man diese "auswärtigen Übel", deren Existenz eine Philosophie wie die Stoa gerade verleugnet, betrachtet, so gerät der zunächst plump erscheinende Hedonismus immer mehr in die Defensive, und endlich ist es die Ausgeglichenheit (humeur douce et liante), die er vor allem erhalten möchte - neben einer wöchentlichen Feier der Venus:
Ich möchte mir meine Ausgeglichenheit erhalten, eine Eigenschaft, die die Gesellschaft zwar weniger hoch bewertet als die Klugheit, die sie aber dennoch viel nötiger hat als diese; denn Menschen, die jene Göttin häufig treffen, zeichnen sich durch Verträglichkeit und gute Umgänglichkeit aus.

Dieser fromme Wunsch rückt allerdings nun doch wieder in eine "bedenkliche" Nähe zur Stoa, die er verdammt, und wenn nicht der Stoa, so steht sie dem Epikur näher als dem Aristipp. Michel Onfray, Verfasser einer Philosophie der Ekstase beschreibt das eigentliche Ziel von Lamettrie als "wolllüstige Seelenruhe". Womit der positive und negative Aspekt sehr schön ausgesprochen sind.

Man darf in dieser Frage auch nicht vergessen, dass der Philosoph einst ein engagierter Arzt war, der antrat, das medizinische System zu revolutionieren, damit aber kläglich scheiterte und kein Gehör fand. Sein Wandel zur hedonistischen Philosophie kommt mir vor wie jene Ego-Trip-Phase der 68er generation, nachdem ihr "Marsch durch die Institutionen" im Sande steckengeblieben ist - Lamettrie hatte sich als Mediziner abgearbeitet, er litt am Burning-Out-Syndrom und versuchte forthin, als Lebemann und Bonvivant zu brillieren.

"Je n'ai crainte ni ésperances" (Weder Angst noch Hoffnung) schreibt er im Systeme d'Epicure. Und noch deutlicher kommt der Schmerz des Verfemten in seiner "Pénélope" ans Tageslicht: "Wer hat nicht schon erfahren müssen, wie dünn die Membran ist, die die Natur zwischen Fröhlichkeit und Trauer geschoben hat?"
 
Der Höfling

Nun also sitzt Lamettrie in Potsdam, am Hofe Friedrich II. Er ist - so Voltaire - unglücklich und voller Heimweh. Er schreibt wie ein Wahnsinniger.

Einen guten Eindruck vom Hofleben in Potsdam gibt ein Auszug eines Briefs von Samuel König an Haller (Nov. 1750), der zwar Gegner Lamettries ist, was die durchscheinende Häme erklärt, da aber der Bretone ähnliche Überlegungen zu seiner "Graphomanie" angestellt hat, kommt dieser Beschreibung eine gewisse Plausibilität zu:
Wenn er sich in Potsdam langweilt, rennt er wie ein Besessener oder ein von allen Musen gleichzeitig inspirierter Poet auf seinem Zimmer herum und diktiert seine neue Doktrin einem Gardesoldaten, der in Windeseile schreiben und lesen können muß, denn die Hitze der Gedanken ist so groß, daß die machine pensante [La Mettrie] verbrennen würde, könnte sie sich nicht so schnell wie möglich entleeren. Diese Arbeiten haben uns den ersten Band des neuen Korans beschert, mit Titel OEuvres Philosophiques, unter dem Motto Deus nos haec otia fecit, in Groß-Quart und auf schönem Papier: ein Buch, das durch seine Kühnheit oder, besser: seinen Furor alles verblassen läBt, was die vereinigten Atheisten jemals zu diesem Punkt publiziert haben. (zit. nach Jauch S.432)

Doch scheint das Verhältnis zwischen Friedrich und Julien besser gewesen zu sein als die nachträglich gefälschten Briefe von Voltaire an "Madame Denis" vermuten lassen. 1986 veröffentlichte Tagebuchnotizen von Henri de Catt, Friedrichs Privatsekretär, belegen, dass der preußische König Lamettrie nicht nur als électeur (Vorleser), sondern sogar als élu (Auserwählter) betrachtete. Manche wenden zu diesem Punkt ein, das "Edikt über die wiedereingeführte Zensur" sei ausdrücklich wegen Lamettrie erlassen worden, doch werden darin die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften explizit ausgenommen, so dass dieser Einwand nicht trägt.

A propos: Tatsächlich war die Zensur unter Friedrich II seit seinem Regierungsantritt zum großen Teil aufgehoben, was vor allem Lamettrie zugute kommt. In seinem Discours préliminaire, den er 1750 seinen Oeuvres philosophiques voranstellt, greift Lamettrie die französische Zensur mit leidenschaftlichen Worten an:
Errötet, ihr Tyrannen einer sublimen Vernunft: vergleichbar mit jenen Polypen, die in eine Unzahl von Teilen zerschnitten sind, werden auch die Schriften, die ihr verbrennen läßt, aus ihrer Asche erstehen und sich immer weiter verbreiten. All diese Männer, die ihr ins Exil schickt, die ihr zwingt, ihre Heimat zu verlassen.... die ihr in grausamen Kerkern einschließt: hört euch einmal an, was die klügsten & aufgeklärtesten Denker davon halten! Oder noch mehr: Schaut doch einmal, wie das Wimmern dieser Eingekerkerten sich in Ruhm und Triumph verwandelt und ihre Namen bis in die Himmel hinaufträgt!
Dennoch kann er sich nicht verkneifen, auch warnende Worte an seinen Gönner Friedrich II zu richten:
Ihr neuen Augustusse; wiederholt nicht noch einmal alles; erspart euch die Schande der literarischen Zensur; ein einziger Fall kann euch eure Lorbeeren kosten; bestraft nicht die Künste und die Wissenschaften wegen der Unvorsichtigkeit jener, die ihnen nur dienen wollten: denn sonst werden die modernen Ovide mit ihren Seufzern auch eure Greueltaten den kommenden Generationen überliefern ...
Dass diese warnenden Worte nicht ins Blaue geredet waren, zeigen die Umstände, als der Autor seinen Anti-Seneca in Preußen veröffentlichen wollte. Die Biographin U. Jauch hat in dieser Angelegenheit 1993 ein dienstliches Schreiben des Generalfiskals Uhde an Friedrich gefunden, das belegt, dass die königliche Freizügigkeit bei seinen Beamten nicht ungetrübt ankam.
»Allerdurchlauchtigster Großmächtigster König, Allergnädigster König und Herr!
Ew. Königliche Majestät haben mir nur noch letztlich unterm i5.n. April c. [1748] bey Gelegenheit einiger von dem Buchführern Rüdiger vrelegten Scandaleusen Schriften befohlen, so wohl ihm als den Übrigen Buchführern Dero ernstlichen Befehl und Meynung gehörig bekannt zu machen, daß sie sich, dergleichen Schriften zu verlegen, nicht ferner unterstehen sollen. Diesem zu Folge erfordert meine Pflicht höchst deroselben eine Schrift zur allergnädigsten Wissenschaft zu bringen, welche der Buchführer Voß, unter dem Titul Tr.c de la vie heureuse par Séneque, avec un discours du traducteur sur le meme sujet, zu Potsdam gantz kürtzlich verleget hat in den Vorhängen, wie sich der Autor selbst dieses Ausdrucks bedienet, dahinter der Seneca verborgen, aber vielmehr folget, die Religion völlig zu Grabe trägt und dem Menschen zum lauter organischen Trieb-Werck macht, und dessen größte Glückseligkeit in den sinnlichen Vergnügen setzt, jedoch einen ungeübten Leser mehr in einen dunklen Irrgarten Philosophischer Freydenkerkreise, so nicht zusammenhänget, herumführet als eine nur etwas geübten von der geraden und hellen Bahn der Wahrheit abzuleiten vermögend seyn wird. Ich habe den Buchführer Voß deshalb zur Verantwortung gezogen, der sich aber damit entschuldiget, daß der Autor de La Mettrie sey, und ihm theur versichert, wie er das Buch mit höherer Approbation herausgegeben, worüber jedoch nichts Schriftliches producieret werden können.
Solte ehrenwerte königliche Majestät allergnädigster Wille seyn, daß ich dieserhalb ein mehreres vernehmen müsse, erwarte höchsten Befehl und ersterbe.
Ehrw. königlichen Maj. alleruntertänigster und gehorsamter Diener Uhde
Berlin, den 21. Decbr. 1748
Einen Monat später wird Verleger Spener wegen einer Schrift Lamettries verhört, worüber ebenfalls ein Protokoll existiert:
»Actum Berlin d 24.Jan. 1749
Da der Buchführer Spener eine Scandaleuse piece sub Tit. Epitre a mon esprit des la Mettrie Verleget und debitiret hat, so ist Er dato dessfals zur Verantwortung gezogen und befraget wie Er dazu komme daß Er der Könl. [= Königlichen] Ordre vom 14. April a pr. [= 1748] zuwieder die ihm doch publiciret und Er selbst die publication unterschrieben, diese piece Verleget. Derselbe antwortet, daß ihm de La Mettrie solche mit dem Vorgeben gebracht, es wäre ein Brief an den FeldMarschall Grafen von Sachsen, den Er zum Druck besorgen möchte, und weil Er solchen pressiret, so habe Ers drucken lassen, und nicht gewußt daß die Schriftt ärgerlich sey.
Int: Warum Er sie nicht censiren lassen, oder wenigstens Vorher jemand, oder auch mir Vorgezeigt.
Resp.: Er würde freylich als dann der Verantwortung überhoben gewesen seyn, und werde es Künftig nicht mehr thun.
Int: Warum Er wenigstens den Debit nicht unterlassen, da Er nach gedruckter Schrifft deren anstößigen Innhalt gesehen und von andern gehöret.
Resp.: Seit dem daß der Hr. Professor Euler ihm gesagt, daß die Schrift nicht gedruckt werden solle, und Hr. Past. Prediger Sack darinne beleidiget worden, habe Er nichts mehr Verkauffen lassen.
Int: Wie viel Stück gedruckt worden?
Resp.: 400 Stück, und es könnten wohl 100 verkaufft seyn; Er wisse es so genau nicht und wolle nachsehn. Metterie habe selbst 12 Stück bekommen; sonst habe Er ihm nichts davor gegeben, und sey das Stück vor 1 gl. verkaufet. Mehr hätt Er nicht beyzubringen, und bittet ihm dieses mahl den Fehler zu vergeben, künftig wolle Er sich besser in acht nehmen, wobey ihm Verbothen Seine exemplaria mehr zu debitiren.
Uhde
 
Äh, falls es einer Motivation bedarf: Schreib doch bitte weiter! Ich bin sicher, verschiedenen Leute (z.b. ich !) warten gespannt auf die Fortsezung Deiner gut gestalteten und gut lesbaren Biographie des M. Machine!
 
Die Trüffelpastete

@deSilva: Tja, viel gibt es nicht mehr zu schreiben, und das ist auch tatsächlich der letzte Teil.

Nach den Oeuvres erschienen noch einige kleinere Schriften, darunter die satirische Schrift Le petit homme à longue queue, die ich oben schon vorgestellt habe. Doch die Karriere Lamettries nimmt ein jähes Ende. Die offizielle Version seines Todes am 11.11.1751 trägt Friedrich Lange in seiner Geschichte des Materialismus vor:
Am meisten hat Lamettrie seiner Sache durch seinen Tod geschadet. [...] Kaum war Lamettrie seines neuen Glückes am Hofe Friedrichs des Großen einige Jahre froh geworden, als der französische Gesandte Tirconnel, den jener von einer schweren Krankheit glücklich geheilt hatte, ein Genesungsfest veranstaltete, welches den leichtsinnigen Arzt ins Grab stürzte. Er soll in prahlerischer Schaustellung seiner Genußfähigkeit und wohl auch im Trotz auf seine Gesundheit eine ganze Trüffelpastete verzehrt haben, worauf er sofort unwohl wurde und im Hause des Gesandten an einem hitzigen Fieber unter heftigem Delirium starb. (Lange S.375)
Das ist also der berüchtigte "Trüffelpastetentod" Lamettries. Wobei allerdings eine Menge Ungereimheiten existieren:
Übrigens ist die ganze Geschichte, welche so viel Aufsehen gemacht hat, was die Hauptsache betrifft, nämlich die eigentliche Todesursache, noch nicht einmal über den Zweifel erhaben. Friedrich der Große sagt in der Gedächtnisrede über seinen Tod nur: »Herr Lamettrie starb im Hause des Mylord Tirconnel, des französischen Bevollmächtigten, dem er das Leben wieder gegeben hatte. Es scheint, daß die Krankheit, wohl wissend, mit wem sie es zu tun hatte, die Geschicklichkeit besaß, ihn zuerst beim Gehirn anzupacken, um ihn desto sicherer umzubringen. Er zog sich ein hitziges Fieber mit heftigem Delirium zu. Der Kranke war gezwungen, zu der Wissenschaft seiner Kollegen seine Zuflucht zu nehmen, und er fand darin nicht die Hilfe, welche er so oft, sowohl für sich als für das Publikum, in seinen eignen Kenntnissen gefunden hatte.« Ganz anders freilich äußert sich der König in einem vertraulichen Briefe an seine Schwester, die Markgräfin von Bayreuth. Hier wird erwähnt, daß sich Lamettrie durch Verzehren einer Fasanpastete eine Indigestion zugezogen habe. Als eigentliche Todesursache scheint jedoch der König einen Aderlaß zu betrachten, den Lamettrie sich selbst verordnete, um den deutschen Ärzten, mit denen er über diesen Punkt im Streite lag, die Zweckmäßigkeit des Aderlasses in diesem Falle zu beweisen. (Lange S.376)
Auch von Vergiftung sprechen einige, allerdings sind und bleiben das Spekulationen. Diesem Tod darf man getrost ein Bonmot des Gestorbenen anfügen: "Sterben wir also, weil wir sterben müssen, aber erst, nachdem wir gelebt haben." (aus: De la Volupté)

Mit zwei Nachrufen auf diesen Philosophen möchte ich schließen, zwei Nachrufe, welche die Spannweite der Reaktionen auf dessen Philosphie in etwa abdecken. Der erste stammt von Lessing:
So viel aber können wir als der kleinste Mund, dessen sich die unparteiische Nachwelt bedienet, sagen, dass nunmehr der Augenblick vorhanden sei, welcher sein Lob und seinen Tadel auf ihre gewissen Punkte festsetzet; dass man an ihm einen ursprünglichen Witz, eine ansehnliche Einsicht in diejenige Wissenschaft, durch die er sich gewiß bei dem Leben würde erhalten haben, wenn es nützlich wäre, dass die Ärzte unsterblich blieben, eine beneidenswürdige Fertigkeit, sich schön und neu auszudrücken, bedauern werde, indem man alle seine böse Eigenschaften verabscheuet, die wir verschweigen, weil er nunmehr tot ist. (Nachrichten...)
Und der zweite von dem berühmten Gelehrten und Lebemann in Schloss Dux, den dieser im 10. Band seiner Lebensgeschichte Lamettrie gewidmet hat:
La Mettrie speiste abends zu seinen Lebzeiten oft bei Madame Ruen, und ich bedauerte sehr, daß er so früh gestorben ist; denn ich hätte ihn gerne kennengelernt, da er gelehrt und außerordentlich fröhlich war. Er starb lachend, obgleich man behauptet, daß es keine schmerzhaftere Todesart gebe als die durch eine Verdauungsstörung. Voltaire sagte mir, er glaube nicht, daß es einen entschiedeneren Atheisten gegeben habe als La Mettrie und jedenfalls keinen mit gründlicheren Kenntnissen; ich war davon überzeugt, nachdem ich seine Werke gelesen hatte. Der König von Preußen hielt in eigener Person in der Akademie die Leichenrede auf diesen Arzt und sagte: Es sei nicht zu verwundern, daß La Mettrie nur die Materie habe gelten lassen; denn allen Geist, den es gebe, habe er selber besessen. Nur ein König kann sich in einer ernsten Leichenrede eine solche scherzhafte Ansicht erlauben. Der König von Preußen war jedoch niemals Atheist; darauf kommt es aber auch nicht an, da der Glaube an Gott niemals seine Lebensweise noch seine Handlungen beeinflußt hat. Man behauptet, ein Atheist, der sich mit Gott beschäftigt, sei besser als ein Theist, der nicht an ihn denkt. (Casanova, Geschichte meines Lebens, Band 10)

Einige Links:
Über sein Leben lässt sich einiges aus der wikipedia entnehmen: Julien Offray de La Mettrie ? Wikipedia
Darin sind auch weitere Links z.B. auf die Seite von B. Laska, der viel Hintergrundwissen zu Lamettrie bietet. Ebenfalls Literaturangaben zu U. Jauch, Fr. Lange usw., die hier verwendet werden.

Die Eloge auf Lamettrie von Friedrich II ist hier nachzulesen:
Eloge du sieur La Mettrie, médicin ... - Google Buchsuche

Der „Mensch als Maschine“ ist als Text verfügbar:
La Mettrie, Julien Offray de/Der Mensch eine Maschine/Der Mensch eine Maschine - Zeno.org

Die Ausfälle des Marquis d'Argens kann man hier in Französisch nachlesen: ?uvres de Frédéric le Grand, 19, 295

(ENDE!)
 
Eumolp, vielen Dank für diese ausgesprochen nette Darstellung! Wie schon gesagt, ist der Name LaMettrie den meisten Informatikstudenten bekannt, denen die Vorgeschichte der Datenverarbeitung ungefähr so erklärt wird:

* Descartes "Traité de l'homme" (nach seinem Tode veröffentlicht, 1662): Der Mensch ist - wie die Tiere auch - ein "Automat"; jedoch besitzt er eine - immaterielle - Seele, die ihm seine Sprachfähigkeit gibt. Diese Ansicht hat weitreichende literarische Konsequenzen: Kunstwesen der Literatur sind deshalb "sprachlos"!
* Leibnitz (Generales Inquisitiones von 1686) formuliert Logikkalkül, der die Basis aller formalisierten Überlegungen darstellt.
* Pascal (1642) baut erste einfache mechanische Rechenmaschine.
* LaMettrie ("L'Homme machine", 1748) erklärt den Menschen einschließlich aller geistigen Funktionen als "Automaten"
* Funktionsfähige kleine Automaten werden ab 1736 von Jacques de Vaucanson gebaut; ebenfalls von Vater und Sohn Jaquet-Droz; Spieldosen verbreiten sich.
* 1833 konzipiert Charles Babbage die "Analytical Engine", die alle Voraussetzungen für die Simulation intelligenten Verhaltens enthält. Diese Maschine ist allerdings aus technischen Gründen 100 Jahre lang nicht baubar, und wird erst mit den elektronischen Computern der 1940er Jahre realisiert.

Hier noch ein weiterer Link zu LaMettrie: La Mettrie - Der Mensch als Maschine (Einleitung)
 
OK, deine Zusammenstellung sieht so aus, als ob LM dahinein gehörte. Und doch krampft sich mir der Magen, wenn ich ihn in einer Aufstellung lese, in der Automaten erdacht und erbaut wurden, und er als Gewährsmann für eine Philosophie dasteht, die den Menschen eben zu einem solchen reduziert.

Genau das ist falsch! LM hat niemals den Menschen zum Roboter erklärt, etwa zu einer Abart der Vaucansonschen Ente. Er hat bloß die vom Körper unabhängige Existenz der Seele geleugnet. Er hat die Seele als Gehirn verstanden (Homme Mach. S.105), als ein natürliches Organ (als Zentrale der Vorstellungskraft), das daher natürlichen Bedingungen unterliegt und nicht den Phantasien religiöser Spekulation.

In diesem Sinne könnte man ihn als Empiristen verstehen. Eine Spekulation über die Welt als Materie oder Geist hat er nicht betrieben, er war Mediziner und - vor allem! - Pädagoge, und dies auch als Philosoph. In gewisser Weise sogar Existenzialist:
Wer weiß übrigens, ob der Sinn der Existenz des Menschen nicht in seiner Existenz selbst liegt? (L'Homme Machine S.85)
Der nachfolgende Satz klingt sogar so, als ob ihn Heidegger höchstselbst gelesen und verwendet hätte:
Vielleicht ist er aufs geradewohl auf einen Punkt der Erdoberfläche geworfen worden, ohne dass man wissen kann, wie und warum.
 
OK, deine Zusammenstellung sieht so aus, als ob LM dahinein gehörte. Und doch krampft sich mir der Magen, wenn ich ihn in einer Aufstellung lese, in der Automaten erdacht und erbaut wurden, und er als Gewährsmann für eine Philosophie dasteht, die den Menschen eben zu einem solchen reduziert.

Genau das ist falsch! LM hat niemals den Menschen zum Roboter erklärt, etwa zu einer Abart der Vaucansonschen Ente. Er hat bloß die vom Körper unabhängige Existenz der Seele geleugnet. Er hat die Seele als Gehirn verstanden (Homme Mach. S.105), als ein natürliches Organ (als Zentrale der Vorstellungskraft), das daher natürlichen Bedingungen unterliegt und nicht den Phantasien religiöser Spekulation.
Ich denke diese Darstellung reduziert ihn ähnlich wie ihn seine Zeitgenossen als den flippigen Sonderling darstellten, der zum Lebensende hin angeblich noch einmal fromm gewesen worden sei. Man warf ihm vor ein schlechter Arzt zu sein und kehrte seine Eigenheiten herraus, zumindest kenne ich dies aus der Berliner Zeit.
 
Mir ist natürlich seit Monaten klar, dass ich hier im falschen Forum bin, wo es vor allem Menschen gibt, die ich sonst nicht treffe :) Vielleicht ist es gerade deswegen so interessant? Und Missverständnisse kann man ja klären...

Missverständnis #1: Es geht nicht darum, den Menschen zu einem Automaten zu degradieren... Wo kommt die schlechte Meinung über Automaten her? Jeder SF-Leser weiß, dass Roboter die besseren Menschen sind..

Ohne die feste Überzeugung, dass menschliches verständiges (!) Verhalten algorithmisch nachvollziehbar ist, wäre ein Teil der heutigen Informatik auf Sand gebaut. Deshalb wird jeder Philosoph bemüht, der sich in diese Richtung geäußert hat, womit in der Tat eine Verengung seines "Gesamtwerks" verbunden ist. Damit muss allerdings jeder Philosoph leben, nämlich "etikettiert" zu werden...

Missverständnis #2: Reden wir mal über so etwas un-materialistisches wie den "Zeitgeist": Ist es nicht merkwürdig, dass genau in der Mitte des 18. Jh. das Automatenbauen einen ersten Höhepunkt erlebt? Die Menschen scheinen verrückt danach zu sein:. Nicht nur Spieluhren! Die industrielle Revolution beruhte zwar auf der rohen Kraft der Dampfmaschine; die wesentliche Wertschöpfung erfolgte aber durch Automaten wie die "Spinning Jenny", den Jacquard'sche Webstuhl, oder die Egreniermaschinen..
 
*g* Klar sind Roboter die besseren Menschen, weil sie das Böse nicht kennen, der Mensch aber schon... Daher sind sie ja auch keine Menschen ^^

Im Ernst. Du hast Mary Shelley vergessen. Und der Homunculus war schon im 16. Jh bekannt, dito der Golem der Prager Juden, ebenfalls 16. Jh.

Wenn man das nun rein philosophisch betreiben würde, ist in der Tat die Frage, inwieweit man den Menschen wirklich als Maschine begreifen könnte, heute in der Diskussion. Ist Bewusstsein per AI maschinell versteh- und damit herstellbar? Ist "Geist" nichts anderes als verschaltete Hirnfunktionen? Ist Chalmers "Hard Problem" (=>
Hard problem of consciousness - Wikipedia, the free encyclopedia) damit gelöst? *) Es gibt daneben ein gewichtiges Argument von
Popper, das mMn endgültig klärt, dass der Mensch keine Maschine sein kann, aber das wollte ich eines Tages in meinem Blog ausführen und nicht in einem Geschichtsthread. **)

Reden wir doch lieber über Metaphern wie das Uhrwerk - etwa bei Geulincx oder Leibniz! Das Universum als mechanischer Ablauf, weiterentwickelt bei Laplace mit seinem Dämon: Da kommen wir LM näher. Das ist die Welt, in der LM denkt (Laplace kam zwar später, denkt aber in diesen Bahnen). Mit modernen von Neumann-Architekturen kommen wir an die Denkweise LMs nicht ran.

* [Ganz privat gesagt: Nein, der objektive Geist konstituiert sich völlig unabhängig von "materiellen" Beziehungen, und tatsächlich ist die materielle Welt n.a.a. als die Sichtbarwerdung des objektien Geistes. Aber das, bitte, gehört nicht zum Thread LaMettrie!]
**) Bleiben die Blogs aber so langweilig wie momentan, dann nicht.
 
Nein, ich habe Mary Shelley nicht vergessen - siehe mein Posting #3 :) Im 19. Jh. nimmt die "frühe Robotik" ungeahnte Ausmaße an: Magier und Zauberer bauen sich Gerätschaften, mit denen sie Jungfrauen durchsägen und sich unsichtbar machen. Coppelia. Fritz Langs Metropolis,....
Golem und Homunculus waren "vorwissenschaftliche" Wesen, bei deren fiktiver (!) "Konstruktion" jedes Problembewusstsein fehlte. Der Golem wurde analog des unverstandenen göttlichen Schöpfungsaktes aus Lehm geformt.... *)

Wenn Du den Begriff "Maschine" entsprechend eng fasst, kannst Du (oder Popper) natürlich Argumente konstruieren, warum der Mensch keine sein kann...

Das Uhrwerk (als Metapher) ist kein gutes Beispiel für die Komplexität eines Automaten. Ich habe aus Deinen Anmerkungen auch heraus gelesen, dass LaMettrie sich langsam der großen Komplexität des menschlichen Organismus' bewusst wurde. Auch das Universum ist nicht besonders komplex, wenn man es etwa mit einem Säugetier vergleicht.

Es geht mir hier überhaupt nicht um eine Diskussion über "Determinismus" oder "Willensfreiheit". Solche Diskussionen können mEn kein anderes Ergebnis bringen, als dass man seine eigenen Vorurteile festigt :)

LaMettrie ist für mich eine interessante Gestalt, weil er den wesentlichen Schritt über Descartes hinaus getan hat, die Seele ans Gehirn zu binden. Er konnte sich offenbar vorstellen, dass so ein Organismus, den er ja nur "oberflächlich" kannte (Du hast ja schon verschiedenen Dinge angesprochen, die ein Mediziner/Biologe Mitte des 18 Jh. noch nicht wusste), in der Lage war, Sprache und Intelligenz zu erzeugen, OHNE eine transzendente Seele.

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*) Es wäre eine übertriebene Interpretation, hier auf dessen hohen Siliziumanteil hinzuweisen :)
 
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