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Die Lehre von den Schuldgefühlen
Der Engländer Thomas de Quincey hatte 1821 seine Confessions of an English Opium-Eater geschrieben, Lamettries Diktum erscheint wie ein Vorgriff auf diese Bekenntnisse:
Baudelaire wird 1860 die Gedanken des Bretonen wieder in seine Paradis artificiels aufnehmen. Heute, in den Zeiten der Herointoten, wird uns diese Opiumlehre sauer aufstoßen. Doch es muss erlaubt sein, dass sich ein Autor dieser Fragestellung widmet, inwieweit und wodurch es Drogen schaffen, Glücksgefühle zu produzieren - insbesondere dann, wenn dieser Autor Mediziner ist. Wer sich trotzdem über die Unverfrorenheit des Philosophen aufregt, der sei daran erinnert, dass sich sein Intimfeind Haller noch 1778 eines täglichen Opiumsgenusses rühmt (die diesbezügliche lateinische Schrift Hallers wurde erst 1962 ins Deutsche übersetzt), und dass ein gewisser Sigmund Freud 1884 einen enthusiastischen Bericht über das Kokain veröffentlicht ("Über Coca").
Weiter mit dem Anti-Seneca! im Gegensatz zu den sehr irdischen Glücksgütern lehnt der Bretone alles, was sich die Religionen über das ewige Leben der Seele ausgedacht haben, kurzerhand ab. Die Tugend dagegen, die der Stoa als Garant jeglichen Glücks gilt, spielt für Lamettrie nur die Rolle einer gesellschaftlichen Größe, die den Menschen eher behindert als fördert: "Man ist glücklich für sich selbst, und nicht für die anderen." Und: "Eine alte Vettel ist sie, die Tugend, der ihr [gemeint sind die Stoiker] nachlauft wegen der Juwelen, die an ihren Ohren baumeln."
Man sieht an diesen Beispielen, wie wenig "philosophisch" diese Glückslehre klingt und wie frivol diese Überlegungen auf die bürgerlichen, staats- und kirchentreuen Gelehrten wirken mussten. Doch gerade die Frage der gesellschaftlichen Institutionen in ihrer Wirkung auf die individuellen Glücksmöglichkeiten lässt Lamettrie nicht so schnell los: Ruhm und Ehre als die positiv, Schande und Schuld als die negativ bewerteten Güter dieser Institutionen sind für ihn nichts anderes als Phantome, deren sich die Gesellschaft bedient, um auf die Vorstellungskraft der Menschen einzuwirken und sie dadurch zu manipulieren. Diese Bestimmung der Tugend als zwar ein notwendiges gesellschaftliches Übel, um die Handlungen der Menschen untereinander zu koordinieren, wird aber im Rahmen seiner Glückslehre vor allem hinderlich wirken. Gut und böse sind also keine absoluten Kategorien, sondern es sind bloß die Interessen der Gesellschaft, die das eine vom anderen trennen. Eine Wahrheit, fügt Lamettrie hier hellsichtig an, die man aber nicht zu laut hinausposaunen sollte! Trotzdem posaunt er einiges heraus. Denn auch das Verbrechen, sofern es bloß als Gegenteil einer gesellschaftlich definierten Tugend bestimmt ist und selbst lustvoll wirken kann, lehnt er nicht rundherum ab: "Wenn allerdings die natürlichen Freuden Verbrechen sind, dann besteht die Glückseligkeit des Menschen gewiss darin, Verbrecher zu sein. Heu! miseri, quorum gaudia crimen habent!"
Auch Lamettrie ist sich der Sprengkraft seiner Ideen bewusst, daher schiebt er zu ihrer Unterstützung eine Lehre des Schuldgefühls (remords = Gewissensbisse) ein, womit er Freud's Instanz des Über-Ich schon recht genau vorwegnimmt. "Warum erscheint überhaupt das Schuldgefühl?" beginnen seine Überlegungen in dieser Frage, um mit einer Rückblende auf die Kindheit zu antworten: "Schuldgefühle sind nichts anderes als unangenehme Reminiszenzen", eingeschliffene Ermahnungen, die man den Kindern einimpft und durch Bestrafungen absichert und sie damit ihr Leben lang prägt. Lamettrie begreift den Gewissensbiss somit als "inneren Feind": "Er sitzt hinten und reitet mit". Somit sind Schuldgefühle kulturell bestimmt, was im 18. Jahrhundert vor allem "religiös bestimmt" heißt. Dagegen sieht man bei Vorherrschen anderer religiöser Sitten auch andere Arten von Schuldgefühlen; sie sind also keineswegs feste Größen, also auch nicht angeboren, sondern abhängig von der jeweiligen Formation der Gesellschaft. Am Beispiel der Neonatiziden und der freizügigen Sexualität, ja sogar der Hochachtung des Diebstahls im antiken Sparta will er nachweisen, wie sehr gesellschaftliche Sitten auch die Schuldgefühle beeinflussen. Und so fasst er all diese Überlegungen in einem kühnen Wurf zusammen:
Die Nachwirkung der Theorie der Schuldgefühle beschreibt Lamettries Biographin Jauch sehr anschaulich, auch in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit:
Also müssen die Freuden und die Tugend zusammenkommen und zusammenstimmen; eine klar erkannte Tugend darf sich nicht an der sauren Versagung abarbeiten, sondern muss Bestandteil des Glücks selbst werden; ein Schritt hierauf wäre eine richtige Erziehung. Letzten Endes wird die Natur immer wieder siegen: "Den Gesetzen der Natur kann man sich nicht entziehen". Doch diese Natur, so der Autor, lehre uns immer aufs neue, "das Leben zu lieben, das Leben, den uns die fanatisch betriebene Philosophie des Stoizismus entfremdet."
Wenn er nun die Tugend als dasjenige bestimmt, was dem Staat nützlich ist, dann nimmt dieses Urteil nichts anderes als das Jeremy Benthams voraus, der im größten Glück der größten Zahl das Staatsziel "Tugend" definierte. Selbst hier zeigt sich das denkerische Potential dieses Vielschreibers, der so vieles, was gewissermaßen "in der Luft" lag, aufnahm, in Worte umsetzte - und schnell wieder zum nächsten Gedanken aufbrach!
Der Engländer Thomas de Quincey hatte 1821 seine Confessions of an English Opium-Eater geschrieben, Lamettries Diktum erscheint wie ein Vorgriff auf diese Bekenntnisse:
Daß meine Schmerzen verschwunden waren, wurde in meinen Augen zu einer Kleinigkeit; der negative Effekt wurde von der ungeheuren Größe jener positiven Auswirkungen verschlungen, die sich vor mir in der Unendlichkeit des göttlichen Vergnügens auftaten, das sich mir plötzlich offenbart hatte. Hier gab es ein Allheilmittel.... hier war das Geheimnis des Glücks auf einmal entdeckt, über das die Philosophen so viele Jahrhunderte diskutiert hatten; das Glück konnte jetzt für einen Penny gekauft und in der Westentasche mitgenommen werden; tragbare Ekstasen konnte man auf Halbliterflaschen abgezogen bekommen, und Seelenfrieden ließ sich mit der Post versenden.
Baudelaire wird 1860 die Gedanken des Bretonen wieder in seine Paradis artificiels aufnehmen. Heute, in den Zeiten der Herointoten, wird uns diese Opiumlehre sauer aufstoßen. Doch es muss erlaubt sein, dass sich ein Autor dieser Fragestellung widmet, inwieweit und wodurch es Drogen schaffen, Glücksgefühle zu produzieren - insbesondere dann, wenn dieser Autor Mediziner ist. Wer sich trotzdem über die Unverfrorenheit des Philosophen aufregt, der sei daran erinnert, dass sich sein Intimfeind Haller noch 1778 eines täglichen Opiumsgenusses rühmt (die diesbezügliche lateinische Schrift Hallers wurde erst 1962 ins Deutsche übersetzt), und dass ein gewisser Sigmund Freud 1884 einen enthusiastischen Bericht über das Kokain veröffentlicht ("Über Coca").
Weiter mit dem Anti-Seneca! im Gegensatz zu den sehr irdischen Glücksgütern lehnt der Bretone alles, was sich die Religionen über das ewige Leben der Seele ausgedacht haben, kurzerhand ab. Die Tugend dagegen, die der Stoa als Garant jeglichen Glücks gilt, spielt für Lamettrie nur die Rolle einer gesellschaftlichen Größe, die den Menschen eher behindert als fördert: "Man ist glücklich für sich selbst, und nicht für die anderen." Und: "Eine alte Vettel ist sie, die Tugend, der ihr [gemeint sind die Stoiker] nachlauft wegen der Juwelen, die an ihren Ohren baumeln."
Man sieht an diesen Beispielen, wie wenig "philosophisch" diese Glückslehre klingt und wie frivol diese Überlegungen auf die bürgerlichen, staats- und kirchentreuen Gelehrten wirken mussten. Doch gerade die Frage der gesellschaftlichen Institutionen in ihrer Wirkung auf die individuellen Glücksmöglichkeiten lässt Lamettrie nicht so schnell los: Ruhm und Ehre als die positiv, Schande und Schuld als die negativ bewerteten Güter dieser Institutionen sind für ihn nichts anderes als Phantome, deren sich die Gesellschaft bedient, um auf die Vorstellungskraft der Menschen einzuwirken und sie dadurch zu manipulieren. Diese Bestimmung der Tugend als zwar ein notwendiges gesellschaftliches Übel, um die Handlungen der Menschen untereinander zu koordinieren, wird aber im Rahmen seiner Glückslehre vor allem hinderlich wirken. Gut und böse sind also keine absoluten Kategorien, sondern es sind bloß die Interessen der Gesellschaft, die das eine vom anderen trennen. Eine Wahrheit, fügt Lamettrie hier hellsichtig an, die man aber nicht zu laut hinausposaunen sollte! Trotzdem posaunt er einiges heraus. Denn auch das Verbrechen, sofern es bloß als Gegenteil einer gesellschaftlich definierten Tugend bestimmt ist und selbst lustvoll wirken kann, lehnt er nicht rundherum ab: "Wenn allerdings die natürlichen Freuden Verbrechen sind, dann besteht die Glückseligkeit des Menschen gewiss darin, Verbrecher zu sein. Heu! miseri, quorum gaudia crimen habent!"
Ungeheuerlich erscheint diese Lehre, in gewisser Weise stellt sie einen anarchistischen Entwurf avant la lettre dar und deckt sich in manchen Partien mit dem Einzigen und sein Eigentum Max Stirners, das ungefähr hundert Jahre später, kurz vor der "deutschen Revolution" 1844 erschienen ist.Da die wahre Quelle der Glückseligkeit in den Freuden der Seele liegt, ist doch offensichtlich, dass Gut und Bäse an sich in Hinblick auf die Glückseligkeit keine Rolle spielen; und dass derjenige, der durch eine böse Tat zu einer großen Befriediung kommt, glücklicher sein wird als jeder andere, dem eine gut Tat eine geringere bereitet. Dies erklärt, warum in dieser Welt so viele Schurken glücklich sind; es zeigt zudem, dass es durchaus eine eigentümliche Art Glückseligkeit gibt, die nicht in der Tugend und sogar im Verbrechen liegt.
Auch Lamettrie ist sich der Sprengkraft seiner Ideen bewusst, daher schiebt er zu ihrer Unterstützung eine Lehre des Schuldgefühls (remords = Gewissensbisse) ein, womit er Freud's Instanz des Über-Ich schon recht genau vorwegnimmt. "Warum erscheint überhaupt das Schuldgefühl?" beginnen seine Überlegungen in dieser Frage, um mit einer Rückblende auf die Kindheit zu antworten: "Schuldgefühle sind nichts anderes als unangenehme Reminiszenzen", eingeschliffene Ermahnungen, die man den Kindern einimpft und durch Bestrafungen absichert und sie damit ihr Leben lang prägt. Lamettrie begreift den Gewissensbiss somit als "inneren Feind": "Er sitzt hinten und reitet mit". Somit sind Schuldgefühle kulturell bestimmt, was im 18. Jahrhundert vor allem "religiös bestimmt" heißt. Dagegen sieht man bei Vorherrschen anderer religiöser Sitten auch andere Arten von Schuldgefühlen; sie sind also keineswegs feste Größen, also auch nicht angeboren, sondern abhängig von der jeweiligen Formation der Gesellschaft. Am Beispiel der Neonatiziden und der freizügigen Sexualität, ja sogar der Hochachtung des Diebstahls im antiken Sparta will er nachweisen, wie sehr gesellschaftliche Sitten auch die Schuldgefühle beeinflussen. Und so fasst er all diese Überlegungen in einem kühnen Wurf zusammen:
Wer hätte sich dabei auch je nach der Stimme seines Gewissens gerichtet? Wer hätte sich je allein wegen künftiger Schuldgefühle davon abhalten lassen, das zu tun, was er gern tun wollte oder was für sein Ansehen bzw. für seinen Besitzstand von Vorteil sein würde? Schuldgefühle sind also ohne Nutzen: sie bzw. ihre mahnende Stimme zunächst vor dem Verbrechen; und während des Verbrechens ist man in einem solch erregten Zustand, daß man an nichts weniger denkt als an das Gefühl, von dem man später zermartert wird. Kaum aber ist das Verbrechen geschehen, da erhebt sich das Schuldgefühl als wollte es im Namen der Gesellschaft Rache nehmen. Nützen könnte es allenfalls bei den Menschen, bei denen es ohnehin nicht vonnöten ist; bei den anderen, bei denen die Böswilligkeit angeboren und organisch ist, verhindert die Pein, die es verursacht, nur in den seltensten Fällen, wenn überhaupt je, den Rückfall. Das Schuldgefühl an sich ist also, nüchtern betrachtet, in jedem Falle ohne Nutzen: vor, während und nach dem Verbrechen. (Discours... S.58f)
Die Nachwirkung der Theorie der Schuldgefühle beschreibt Lamettries Biographin Jauch sehr anschaulich, auch in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit:
Mehr noch als wegen des - mißverstandenen - Homme Machine ist La Mettrie wegen der »Immoralität« seiner Moral, wegen seiner Thesen über die Sinnlosigkeit der Gewissensbisse angegriffen worden. Freilich gilt auch hier: Wo nicht genau gelesen wird, ist es ein leichtes, eine These als »moralischen Nihilismus« abzutun und La Mettrie damit ideengeschichtlich als Wegbereiter Sades, als Vorläufer Nietzsches, als Ahnvater einer »nihilistischen Moral« zuzubereiten. Viel ist über La Mettries »unmoralische Moral« schon geschrieben worden. Und dennoch bleibt als Widerspruch, daß La Mettrie von den einen als »Humanist«, als Pädagoge einer »imperativlosen Seinsethik«, als »gute Seele«, überhaupt als Menschen-, Tier- und Naturfreund wahrgenommen, von den anderen aber als jener negative Denker perhorresziert wird, der jede ethische Theorie, die normative Vorgaben über Gut und Böse vertritt, nicht nur bestritten, sondern aufs Heftigste sogar abgelehnt habe.
Also müssen die Freuden und die Tugend zusammenkommen und zusammenstimmen; eine klar erkannte Tugend darf sich nicht an der sauren Versagung abarbeiten, sondern muss Bestandteil des Glücks selbst werden; ein Schritt hierauf wäre eine richtige Erziehung. Letzten Endes wird die Natur immer wieder siegen: "Den Gesetzen der Natur kann man sich nicht entziehen". Doch diese Natur, so der Autor, lehre uns immer aufs neue, "das Leben zu lieben, das Leben, den uns die fanatisch betriebene Philosophie des Stoizismus entfremdet."
Wenn er nun die Tugend als dasjenige bestimmt, was dem Staat nützlich ist, dann nimmt dieses Urteil nichts anderes als das Jeremy Benthams voraus, der im größten Glück der größten Zahl das Staatsziel "Tugend" definierte. Selbst hier zeigt sich das denkerische Potential dieses Vielschreibers, der so vieles, was gewissermaßen "in der Luft" lag, aufnahm, in Worte umsetzte - und schnell wieder zum nächsten Gedanken aufbrach!
Konträr zur Lebensperspektive des Christentums, konträr zu Erbsünde, Jammertal und Erlösung erst im jenseits postuliert La Mettrie eine Weltsicht, die in kindlicher Unbekümmertheit auf beglückende Diesseitigkeit, auf das Zusammengehen von körperlichem und geistigem Wohlergehen, auf sinnliches Glück ohne die Zinslast religiöser Schuldgefühle hinausläuft. [...] Die vielleicht größte Provokation aber lag in der biologistischen Perspektive, die La Mettrie zu eröffnen schien: Der Schlüssel zum Glück liegt nicht in religiöser Transzendenz und Seinsenthobenheit, sondern in der biologischen Natur des Menschen selbst. Die Kenntnis der Beschaffenheit und der Bedürfnisse des Körpers ist ein verläßlicherer Wegweiser zum Glück als Ablaß, Beichte und Bibelstudium. (Jauch S.512f)