Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg

Liebe Misaki,
das ist doch eigentlich offensichtlich. Deine Frage sagt mir, dass du den Inhalt des Erlasses und des Befehls nicht kennst. Sobald du ihren Inhalt kennst, hast du die Antwort auf die Frage.
EQ
 
Der völkerrechtswidrige Charakter des Kriegsgerichtsbarkeitserlasses, auch Barbarossabefehl genannt, wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt. Franz. W. Seidler, von 1973 bis 1998 Professor für Neuere Geschichte an der Hochschule der Bundeswehr in München, hält ihn für teilweise völkerrechtswidrig: "Mit der Ausweitung des Partisanenbegriffs auf Verdächtige stand der Barbarossabefehl außerhalb des Völkerrechts ... Zwischen Partisanenverdächtigen und Unschuldigen war oft schwer zu unterscheiden." (Franz W. Seidler, Die Wehrmacht im Partisanenkrieg. Militärische und völkerrechtliche Darlegungen zur Kriegführung im Osten, Selent 1999, S. 149). Seidler vertritt die Ansicht, dass das damals geltende Kriegsvölkerrecht nicht die Aburteilung von Freischärlern durch Militärgerichte vorschrieb (Seidler, S. 147).

Felix Römer nimmt dagegen den Standpunkt ein, dass ein Kriegsgerichtsverfahren unerlässlich gewesen wäre (Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, VFZ, 56. Jahrgang,(2008) Heft 1, S. 58 („Im alten Deutschland wäre solcher Befehl nicht möglich gewesen”. Rezeption, Adaption und Umsetzung des Kriegsgerichtsbarkeitserlasses im Ostheer 1941/42 (ifz-muenchen.de).

Der Kommissarbefehl verstieß gegen allgemeines Völkerrecht, weil die Kommissare als Offiziere der Roten Armee Soldaten im Sinne der Haager Landkriegsordnung waren (vgl. Hermann Dieter Betz, Das OKW und seine Haltung zum Landkriegsvölkerrecht im Zweiten Weltkrieg, jur. Diss. Würzburg 1970, S. 196). Man hätte sie wie Kriegsgefangene behandeln müssen (aber auch die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen zwischen 1941 und 1945 gehört zu den schändlichen Kapiteln der deutschen Militärgeschichte - das nur am Rande).

Mit dem Kriegsgerichtsbarkeitserlass und dem Kommissarbefehl wurde die Wehrmacht endgültig zum Instrument eines völkerrechtswidrigen Vernichtungskrieges. Vor allem in den rückwärtigen Frontgebieten verwischten sich die Grenzen zwischen einer völkerrechtskonformen Partisanenbekämpfung und einem Kriegsverbrechen.
 
Der völkerrechtswidrige Charakter des Kriegsgerichtsbarkeitserlasses, auch Barbarossabefehl genannt, wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt. Franz. W. Seidler, von 1973 bis 1998 Professor für Neuere Geschichte an der Hochschule der Bundeswehr in München

Da ich keine Autoren kenne, die den "Kriegsgerichtsbarkeitserlass" anders als völkerrechtswidrig einstufen, habe ich nach Seidler gegoogelt.

"Franz Wilhelm Seidler .....ist ein deutscher Historiker, emeritierter Hochschullehrer und Buchautor. In den 1970er Jahren mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, tritt er mit geschichtsrevisionistischen Positionen hervor und publiziert in rechtsextremen Verlagen."

Warum muss man einen derartig umstrittenen Historiker heranziehen, um eine - angeblich - "unterschiedliche" Beurteilung des Erlasses zu belegen. Zumal dieser Erlass ein "Freifahrtschein" war für fast jede Form von Verbrechen von Wehrmachtssoldaten an der Zivilbevölkerung (vgl. Hartmann, Hürter, Jureit: Verbrechen der Wehrmacht).

Und war eine deutliche Abkehr des bis zum Polenfeldzug geltenden Verständnis einer durch Gesetze eingehegten Kriegsführung (Vgl. Böhler: Auftakt zum Vernichtungskrieg).
 
Dass Seidler ein umstrittener Autor ist, steht außer Frage. Nach seiner Emeritierung 1998 driftete er immer mehr in das rechtsradikale Lager ab. Ich entnehme Deiner Antwort, dass du das von mir zitierte Buch aber nicht kennst. Dass der Babarossabefehl zur Radikalisierung des Krieges beitrug, habe ich ausdrücklich erwähnt.

In seinem Buch setzt er sich mit völkerrechtlichen Fragen auseinander und gelangt zu Wertungen, die diskutabel sind. Kritisch anzumerken ist, dass Seidler versucht, die Anwendung des Kriegsgerichtsbarkeitserlasses zu relativieren. Seidler reagierte mit dieser Publikation auf die von Hannes Heer kuratierte Ausstellung über Verbrechen der Wehrmacht, in der Heer sehr einseitig und mit methodischen Fehlern die Rolle der Truppe im deutsch-sowjetischen Krieg beleuchtete.

Der Kriegsgerichtsbarkeitserlass war kein "Freifahrtschein". Er schaffte den Verfolgungszwang ab (der bis dahin geltendes deutsches Recht war) und stellte die Ahndung von Übergriffen in das Ermessen des zuständigen Gerichtsherrn. Hier wartet Seidler mit der umstrittenen These auf, dass die betreffenden Kommandeure versucht hätten, die Anwendung des Barbarossabefehls zu unterlaufen. Er vertritt eine Mindermeinung.

Bei Felix Römer heißt es, dass der Befehl "streng genommen nur in Teilen gegen das Völkerrecht verstoßen hätte ..." (VfZ., 56. Jahrgang (2008), Heft. 1, S. 57). Im Gegensatz zu Seidler geht er davon aus, dass die Abschaffung des Verfolgungszwangs dazu führte, dass der Befehl gegen geltendes Völkerrecht verstieß. Außerdem betont er viel stärker den ideologischen Charakter des Krieges gegen die Sowjetunion und arbeitet (auch hier im Gegensatz zu Seidler heraus) heraus, dass der Barbarossabefehl zur Enthemmung der Gewalt beitrug. Anders als Seidler beschreibt er auch, wie willfährig viele Kommandostäbe den Kriegsgerichtsbarkeitserlass umsetzten.

Ich denke, die Threadstellerin hat Anspruch darauf, dass unterschiedliche Positionen dargestellt werden.
 
In der Kommentierung zu dem Vorgang schreibt Römer u.a.: "Die grundlegende Bestimmung besagte, daß "Straftaten feindlicher Zivilpersonen" der "Zuständigkeit der Kriegsgerichte und der Standgerichte bis auf weiteres entzogen" seien. Gefangengenommene "tatverdächtige Elemente" sollten dem nächsten Offizier vorgeführt werden, der umgehend darüber zu entscheiden hatte, "ob sie zu erschießen" seien. Die Festnahme und Verwahrung "verdächtige[r] Täter [!]" wurde "ausdrücklich verboten". Für den Fall, daß nach Angriffen auf die Truppe keine Täter greifbar waren, gestand der Gerichtsbarkeitserlaß außerdem allen Truppenführern vom Bataillonskommandeur aufwärts das Recht zu, "kollektive Gewaltmaßnahmen" zu veranlassen"

Einführung Erlaß über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet Barbarossa und über besondere Maßnahmen der Truppe [Kriegsgerichtsbarkeitserlaß], 13. Mai 1941 / Bayerische Staatsbibliothek (BSB, München)

Der "scharfe Führererlass" fand seinen 1. Ausdruck im Erlaß zur Kriegsgerichtsbarkeit vom 13. Mai 1941 und wurde von Keitel am 16. September 1941 spezfiziert(vgl. Dokument 19 in Meyer S.80 ff). Keitel verweist darin auf die bisher nicht ausreichend harte Umsetzung und das Entstehen einer zentral gelenkten "kommunistischen Massenbewegung", die durch Aufruhr der Besatzungsmacht Schwierigkeiten bereiten will.

Vor diesem Hintergrund hat der Führer angeordnet, so Keitel, dass überall mit schärfsten Mitteln vorgegangen werden soll. "Bei jedem Vorfall der Auflehnung gegen die deutsche Besatzungsmacht, gleichgültig wie die Umstände im einzelnen liegen muss auf kommunistische Ursprünge geschlossen werden. .....Dabei ist zu bedenken, dass ein Menschenleben in den betroffenen Ländern vielfach nichts gilt und eine abschreckende Wirkung nur durch ungewöhnliche Härte erreicht werden kann."

Dabei galt das Verhältnis, dass für einen getöteten deutschen Soldaten "50 - 100 Kommunisten" getötet werden sollen.

"Soweit ausnahmsweise kriegsgerichtliche Verfahren in Verbindung mit kommunistischen Aufruhr ....anhängig gemacht werden sollten, sind die schärfsten Strafen geboten." Und das bedeutete in jedem Fall die Todesstrafe, meisten ohne Gerichtsverfahren oder in seltenen Fällen durch ein Kriegsgerichtsverfahren.

In der konkreten Situation, so Pohl (S. 158ff) bedeutete es, dass durch beispielsweise Ausbeutung der Landwirtschaft auf Kosten der Bevölkerung, es zu Hungerunruhen in den besetzten Gebieten kam und Keitel vorschlug, in den Dörfern, wo sich der Unmut deutlich zeigte, Massenerschießungen durchzuführen.

Für die generelle Praxis der Kriegsführung in der Sowjetunion bedeutete es, dass durch die bei Bartov (Hitlers Wehrmacht etc.) und anderen beschriebene Brutalisierung der Kriegsführung und die "Pervertierung der Disziplin (ebd. S. 93ff), inklusive dem teilweisen Zusammenbrechen der militärischen Disziplin an manchen Frontabschnitten, es zu einem rechtsfreien Raum kam. Dieses trat das erste Mal sehr deutlich im Winter 1941 vor Moskau auf.

Gleichzeitig: Ein großer Teil der Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung wurde nie vor einem Kriegsgericht verhandelt, weil der "Gerichtsherr" vor Ort auf eine Strafverfolgung gegen deutsche Soldaten, die diese Straftaten zu verantworten hatten, verzichtet haben. Teilweise auch, weil in bestimmten extremen und kritischen Situationen diese Disziplin auch nicht mehr durchsetzbar war.

Die Nichtverfolgung bedeutete aber auch, dass die Offiziere an der Front im Geist des Führerbefehls und der Ausführungsbestimmungen von Keitel agiert haben. Dabei ist jedoch eine breite Bandbreite an ablehnendem und an zustimmendem Verhalten bzw. Umsetzen dieser Befehle zu erkennen gewesen.

Und man muss erneut darauf hinweisen, dass dieses ein Bruch im Selbstverständnis der Kriegsgerichtsbarkeit für die Wehrmacht nach dem September 1939 war.

Und Römer resümiert: "Folglich wurde der Kriegsgerichtsbarkeitserlaß in nahezu allen Verbänden des Ostheeres befehlsgemäß umgesetzt. Stichproben aus den Akten der deutschen Truppen zeigen, daß fast alle Einheiten früher oder später von ihrem Recht Gebrauch machten, verfahrenslose Exekutionen gegen Zivilisten, Verdächtige oder Partisanen zu vollstrecken."

Meyer, Gert; Bezymenskiĭ, Lew (1997): Wehrmachtsverbrechen. Dokumente aus sowjetischen Archiven. Köln: PapyRossa.
Pohl, Dieter (2009): Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941-1944. 2. Aufl. München: Oldenbourg
 
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