Nationalstaatsidee - Fazit

Stell dir mal vor, es hätten sich die Nationen in Europa nie gebildet: Wie würde Europa dann heute aussehen?
Deutschland und Italien wäre dann ein Flickenteppich von 20-30 voneinander unabhängigen Staaten.
Die "Was wäre wenn"-Diskussion würde ich lieber umschiffen. Der Flickenteppich war ja schon zuvor unter dem HRR zusammengefaßt.
Fakt ist doch, dass die mittleren europ. Staaten mit ihrem Völkergemisch Probleme hatten, nach Wegfall der Religion und der Erbmonarchien ein gemeinsames Band zu finden und darum zum zeitentsprechenden Konstrukt der Nation griffen, weil sie von Frankreichs Weg beeindruckt waren. Sie hätten sich ja auch an der Schweiz orientieren können.





Großbritannien würde es nicht geben, sondern England wäre womöglich in 7 oder 9 Königreiche geteilt, genau wie Schottland und auch Wales wäre extra. Und so könnte man das für jedes Land in Europa fortsetzen, da jedes Land eine Phase politischer Zersplitterung durchgemacht hat. Und meist du, dieses Wirrwarr von hunderten von Kleinststaaten hätte sich je zu einer "Europäischen Gemeinschaft" zusammengefunden? Ganz sicher nicht. Wenn sich die derzeitige Entwicklung tatsächlich forsetzenlässt, dann würde ich die Bildung von Nationalstaaten zumindest als einen notwendigen Zwischenschritt ansehen. Also:
- von den Stämmen von vor 2000 Jahren (Germanen, Kelten) die sich
- zu Stammesverbänden und noch später
- zu Königreichen zusammenschlossen, wobei diese entweder wieder auseinanderbrachen oder sich
- zu Nationen entwickelten, die sich aufgrund ihrer gefestigteren Struktur als die überlebensfähigsten erweisen.
Eine gemeinsame Sprache und Kultur - das ist schon ein "Kitt", der gut hält, umes mal etwas volkstümlich auszudrücken.
Ob das derzeitige "Experiment EU" erfolgreich sein wird, muß sich noch erweisen.
Die dargestellte Folge erscheint mir nicht so zwingend, dieses Zusammenschließen zu Königreichen geschah doch nur unter dem Gesichtspunkt Land- und Untertanenakkumulation. Sprache, Herkunft, ja selbst Religion war meist nebensächlich.

Morgen mehr dazu.:winke:
 
Dem Begriff Nationalstaat wird vorsichtig ausgewichen.

Wer weicht dem aus?

Es gibt eine Fülle von Politikern und ganz normalen Menschen, die Deutschland durchaus als Nationalstaat begreifen, ohne dass man sie als reaktionär bezeichnen könnte. Der Begriff "Nationalstaat" ist ja auch kein Teufelswerk - sofern sich seine Träger nicht nationalistisch gebärden.

Seit dem 2. WK und der Wiedervereinigung haben wir mW immer noch 2 anerkannte Minderheitensprachen dänisch und sorbisch. Heute ist das kein Problem mehr, weil alle Sprecher mind. zweisprachig sind.

Es ist nur deshalb kein Problem, weil die Minderheit der 50 000 Dänen und 60 000 Sorben wegen ihrer geringen Zahl nicht als politische, kulturelle oder demografische Gefahr wahrgenommen wird. Wie aber wäre die Situation, wenn es 20 Millionen Sorben gäbe? Das wäre in etwa das Verhältnis, wenn man Estland und Lettland betrachtet, wo es eine russische Minderheit von rund 25-30% gibt und starke Spannungen zwischen beiden Bevölkerungsteilen - trotz der von der EU eingeforderten Minderheitstatuten.

Die weiteren Kriterien gemeinsame Abstammung, Kultur und Geschichte sind mehr oder weniger Konstrukte.

Was heißt hier "Konstrukte"?

Wenn sich eine Bevölkerung als "Volk" oder "Nation" begreift, so hat das in der Regel ganz handfeste Gründe. Dazu zählt die Sprache, die Tradition, ein gemeinsamer Wertekanon und das Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte und Kultur. Wenn jemand sagt "ich bin Franzose", so stecken diese Elemente hinter seiner Aussage.

Man könnte also, wenn man wollte, Deutschland durchaus als Vielvölkerstaat bezeichen ...

Nein, das könnte man sicher nicht. Die 50 000 Dänen und 60 000 Sorben reichen für eine solche Aussage nicht hin; sie sind eben - ethnische Minderheiten!

Anders sieht das schon aus bei Indien, den USA, der Schweiz, Südafrika, Nigeria, Brasilien usw. usw.
 
Wenn sich die derzeitige Entwicklung tatsächlich forsetzenlässt, dann würde ich die Bildung von Nationalstaaten zumindest als einen notwendigen Zwischenschritt ansehen. Also:
- von den Stämmen von vor 2000 Jahren (Germanen, Kelten) die sich
- zu Stammesverbänden und noch später
- zu Königreichen zusammenschlossen, wobei diese entweder wieder auseinanderbrachen oder sich
- zu Nationen entwickelten, die sich aufgrund ihrer gefestigteren Struktur als die überlebensfähigsten erweisen.

War das wirklich so, dass sich Stammesverbände zu Königreichen zusammenschlossen, weil die Einwohner vieles gemeinsam hatten?
Was die Menschen im Mittelalter in Europa gemeinsam hatten, war die Religion, das änderte sich mit Reformation, 30-jähr. Krieg und der Aufklärung. Noch im späten 19. Jhd. waren die Religionsunterschiede so stark, dass sie teilweise Eingruppierungskriterium an den Grenzen der entstehenden Nationalstaaten war, z.B. an der schwankenden Ostgrenze. Biografie: Otto von Bismarck - Deutsche und Polen (rbb) Geschichte, Biografien, Zeitzeugen, Orte, Karten

Auf die Westgrenze möchte ich jetzt nicht eingehen, weil wir schon wieder nur bei Deutschland sind. Auch andere Länder, wie Polen, der ganze Balkan hatten diese Grenzfindungs- und Sortierungsprobleme. Den Menschen dort war durchaus nicht immer klar, was sie nun waren und sein wollten und sollten.


Eine gemeinsame Sprache und Kultur - das ist schon ein "Kitt", der gut hält, umes mal etwas volkstümlich auszudrücken.
Eine gemeinsame Kultur haben die Deutschen schon und über sehr weite Strecken auch eine gemeinsame Geschichte (immerhin 1000 Jahre, wenn man von Karl dem Großen an rechnet) und beides teilen wir sogar mit den Österreichern.
Über die gemeinsame Abstammung ließe sich freilich streiten........
Der Kitt mußte aber erst angerührt werden, der war nicht überall schon immer da. Mit dem Osten habe ich mich etwas beschäftigt, da kamen die unterschiedlichsten Konstellationen vor.
Wer weicht dem aus?

Der verlinkte BPP-Artikel

Es gibt eine Fülle von Politikern und ganz normalen Menschen, die Deutschland durchaus als Nationalstaat begreifen, ohne dass man sie als reaktionär bezeichnen könnte. Der Begriff "Nationalstaat" ist ja auch kein Teufelswerk - sofern sich seine Träger nicht nationalistisch gebärden.



Es ist nur deshalb kein Problem, weil die Minderheit der 50 000 Dänen und 60 000 Sorben wegen ihrer geringen Zahl nicht als politische, kulturelle oder demografische Gefahr wahrgenommen wird. Wie aber wäre die Situation, wenn es 20 Millionen Sorben gäbe? Das wäre in etwa das Verhältnis, wenn man Estland und Lettland betrachtet, wo es eine russische Minderheit von rund 25-30% gibt und starke Spannungen zwischen beiden Bevölkerungsteilen - trotz der von der EU eingeforderten Minderheitstatuten.



Was heißt hier "Konstrukte"?

Wenn sich eine Bevölkerung als "Volk" oder "Nation" begreift, so hat das in der Regel ganz handfeste Gründe. Dazu zählt die Sprache, die Tradition, ein gemeinsamer Wertekanon und das Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte und Kultur. Wenn jemand sagt "ich bin Franzose", so stecken diese Elemente hinter seiner Aussage.

Naja, was für jeden einzelnen Deutschen hinter dem Begriff steht, wissen wir beide nicht, für viele ist es wahrscheinlich die Staatsangehörigkeit im Personalausweis und die Solidargemeinschaft.
Das wird mir jetzt zu politisch, eigentlich ging es nur darum, dass dieser Begriff erst geschaffen werden mußte und um ein Fazit, ob Europa dieser Begriff, diese Idee mehr genutzt oder mehr geschadet hat.
 
War das wirklich so, dass sich Stammesverbände zu Königreichen zusammenschlossen, weil die Einwohner vieles gemeinsam hatten?

Das wage ich auch sehr stark zu bezweifeln. Eher war es umgekehrt, dass sich bei den zunächst heterogenen Gefolgschaften/Untertanen der Warlords/Könige allmählich Gemeinsamkeiten herausbildeten.
 
... eigentlich ging es nur darum, dass dieser Begriff erst geschaffen werden mußte und um ein Fazit, ob Europa dieser Begriff, diese Idee mehr genutzt oder mehr geschadet hat.

Ob die Existenz von Nationalstaaten geschadet oder genützt hat, ist so nicht zu beantworten. Nationalstaaten waren vermutlich eine Stufe, die vom hochmittelalterlichen Personenverbandstaat über den frühneuzeitlichen Territorialstaat zum Nationalstaat führte. Dass sich Bevölkerungsgruppen mit gleicher Sprache, Kultur, Tradition und Geschichte von benachbarten abgrenzen, die andere Sprachen und Traditionen haben, ist vermutlich ein normaler Vorgang. Wie schwer es ist, supranationale Gebilde zu errichten, zeigt jeden Tag die Europäische Union. Andere Gemeinschaften wie die Arabische Liga sind noch viel weiter von supranationalen Strukturen entfernt.

Historische Vielvölkerstaaten sind vielfach mit legitimatorischen Mängeln behaftet gewesen, weil trotz der vielen Völker eine Ethnie den Ton angab und zentrale Stellen in der Administration und im Heer mit ihren Leuten besetzte. Das war so in der habsburgischen Donaumonarchie, wo die Deutsch-Österreicher die Machtpositionen besetzt hielten, in der Sowjetunion, wo es die russische Ethnie war, oder im Osmanischen Reich, wo muslimische Türken die zentralen Positionen hielten. In Jugoslawien dominierten vielfach die Serben, auf jeden Fall in der Armee. Und in den USA? Da dominiert bis heute eine weiße Elite, obwohl das System prinzipiell durchlässig ist.

Also: Nationalstaat: gut oder schlecht? - Das ist viel zu verkürzt.
 
War das wirklich so, dass sich Stammesverbände zu Königreichen zusammenschlossen, weil die Einwohner vieles gemeinsam hatten?...
Gut, für diese Zeit müßte man wohl überwiegend den Begriff Expansion verwenden. Irgendein Stammeskönig errang die Hegemonie und gründete ein Königreich. Das war bei den Franken so, bei den Polen, bei den Engländern und vielen anderen Ländern auch.


Der Kitt mußte aber erst angerührt werden, der war nicht überall schon immer da...
Das ist klar. Kultur muß bspw. natürlich erst durch Kulturschaffende entstehen. Das ist ein längerer Prozeß.
Sprache ist andererseits schon immer da gewesen, nur muß man sich der Ausbreitung und der Grenzen seines eigenen Sprachraumes bewußt werden.

Naja, was für jeden einzelnen Deutschen hinter dem Begriff steht, wissen wir beide nicht, für viele ist es wahrscheinlich die Staatsangehörigkeit im Personalausweis und die Solidargemeinschaft.
Das wird mir jetzt zu politisch, eigentlich ging es nur darum, dass dieser Begriff erst geschaffen werden mußte und um ein Fazit, ob Europa dieser Begriff, diese Idee mehr genutzt oder mehr geschadet hat.
Das ist so tatsächlich schwer zu sagen - da schließe ich mich Dieter an. Man kann hier keine Nutzen/Schadenrechnung aufmachen. Es liegt hier einach eine Idee zugrunde, die von vielen Menschen aufgegriffen wurde und sich rasant ausgebreitet hat. Genauso könnte man fragen, ob die Ausbreitung des Christentums nütlich oder schädlich war. Ich würde sagen, weder - noch.
 
Ein interessantes Beispiel ist mit Sicherheit auch Kanada. Seit 1762 war Frankreichs gewaltiges Kolonialreich in Nordamerika Makulatur, doch es blieb der kulturelle französische Einfluss in Quebec bestehen, und dank einer relativ toleranten Politik der Briten konnten die Frankokanadier eingebunden werden, und es folgte Kanada nicht dem Bespiel der 13 Kolonien. Der Krieg gegen die USA von 1812-1814 trug zum Bewusstsein einer kanadischen Identität bei. Entzündet hatte sich der Konflikt an der fragwürdigen Praxis der Briten amerikanische Seeleute zum Dienst in der Navy zu pressen entzündet, doch einige Hawks aus den Grenzstaaten hätten gerne Teile Kanadas annektiert, was am erbitterten Widerstand der Kanadier scheiterte, darunter viele ehemalige Loyalisten. Dank Konzessionen der Briten gelang es, die Frankokanadier zu mobilisieren, die in 2 Kriegen die britische Kolonialmacht gegen die USA unterstützten. Der Expansionsdrang der USA führte dazu, dass London bereits 1867 Kanada die Selbstverwaltung gewährte.
 
Gut, für diese Zeit müßte man wohl überwiegend den Begriff Expansion verwenden. Irgendein Stammeskönig errang die Hegemonie und gründete ein Königreich. Das war bei den Franken so, bei den Polen, bei den Engländern und vielen anderen Ländern auch.

Und in diesem Königreich lebten neben der tonangebenden Ethnie des Königs noch andere Ethnien, die allmählich vom "Staatsvolk" assimliert und aufgesogen wurden. Dass noch Reste mit eigener Identität erhalten blieben, ist die Ausnahme.

Gut beobachten lässt sich das in den Gebieten östlich der Elbe-Saale-Linie, wo bis zum 11./12. Jh. noch eine beträchtliche slawische Bevölkerung lebte. Die verschwand völlig bis zum späten Mittelalter, ließ allerdings einige Reste im Wendland zurück, wo das slawische Drawänopolabisch erst im 18. Jh. ausstarb, während die 60 000 slawischen Sorben noch heute existieren.

Frankreich war noch im Mittelalter in zwei Sprachzonen geteilt, denn südlich der Loire wurde Okzitanisch gesprochen, eine eigenständige gallo-romanische Sprache, die als Sprache der Troubadoure hohes Prestige besaß. Im Zuge der Vereinheitlichung ihres Staates sorgten die französischen Könige dafür, dass die Eigenständigkeit Südfrankreichs allmählich erlosch, was dann in der frühen Neuzeit zu einem französischen Nationalstaat führte - weit vor Deutschland und Italien und etwa zeitgleich mit England und Spanien.

Immerhin sprechen heute noch über eine Million Menschen einen okzitanischen Dialekt.

Die Entstehung von Nationalstaaten war vermutlich unausweichlich und erfolgte nicht nur in Europa, sondern weltweit. Ob der Vielvölkerstaat ein besserer Entwurf war, sei dahingestellt. Die historischen wie Habsburg, Osmanisches Reich oder Sowjetunion sicher nicht.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das wage ich auch sehr stark zu bezweifeln. Eher war es umgekehrt, dass sich bei den zunächst heterogenen Gefolgschaften/Untertanen der Warlords/Könige allmählich Gemeinsamkeiten herausbildeten.

Die Entstehung von Nationalstaaten war vermutlich unausweichlich und erfolgte nicht nur in Europa, sondern weltweit. Ob der Vielvölkerstaat ein besserer Entwurf war, sei dahingestellt. Die historischen wie Habsburg, Osmanisches Reich oder Sowjetunion sicher nicht.

Gut, für diese Zeit müßte man wohl überwiegend den Begriff Expansion verwenden. Irgendein Stammeskönig errang die Hegemonie und gründete ein Königreich. Das war bei den Franken so, bei den Polen, bei den Engländern und vielen anderen Ländern auch.



Das ist klar. Kultur muß bspw. natürlich erst durch Kulturschaffende entstehen. Das ist ein längerer Prozeß.
Sprache ist andererseits schon immer da gewesen, nur muß man sich der Ausbreitung und der Grenzen seines eigenen Sprachraumes bewußt werden.

Die Schwierigkeit des Themas liegt für mich im Begriff "Nationalstaat" und in seiner jeweils zeitgeistlichen Interpretation. In http://evakreisky.at/2005/fse05/glossar/nationalstaat.pdf werden die Staatsmodelle dargestellt und auch wie abhängig die jeweiligen Staatsideen von der Zeitgeschichte sind.
 
Die Entstehung von Nationalstaaten war vermutlich unausweichlich und erfolgte nicht nur in Europa, sondern weltweit. Ob der Vielvölkerstaat ein besserer Entwurf war, sei dahingestellt. Die historischen wie Habsburg, Osmanisches Reich oder Sowjetunion sicher nicht.


Für manche Kritiker ist die Donaumonarchie in Etappen gestorben: Königsgrätz 1866, Mayerling 1889 und 1916 der Tod von Franz Joseph sind Eckdaten. Der Ausgleich mit Ungarn 1867 erschien notwendig, doch praktizierten die Ungarn als 2. Staatsvolk eine rigorose Unterdrückungspolitik gegen Minderheiten, und vor allem die Tschechen wünschten sich mehr Autonomie.

Die Nachfolgestaaten der Donaumonarchie erwiesen sich allerdings auch nicht gerade als großer Wurf im Hinblick auf eine Befriedung Europas. Das traf vor allem auf das neuerstandene Polen zu, das als Nationalstaat mit Minderheiten vollgestopft wurde und mit fast allen Nachbarn in Grenzkonflikte geriet.
Dem Mythos der Donaumonarchie ist mit dem Tod Franz Josephs natürlich mehr gedient, als mit dem Zusammenbruch 1918, doch es war die Donaumonarchie nicht nur ein reaktionärer Völkerkerker, und es sprach Joseph Roth, Jude aus Galizien vom "Weltösterreichertum". Theodor Czokor war kein Freund der Habsburger, doch beschäftigte ihn der Untergang der Monarchie jahrelang, was sich eindrucksvoll in seiner Erzählung vom November 1918 niederschlug.

In einem Rekonvaleszentenheim in den Karavanken hat sich eine Gruppe Offiziere versammelt, die alle aus Randgebieten der Monarchie stammen. Der Oberst Radolin versucht, die Nachricht vom Zusammenbruch geheim zu halten, allerdings vergeblich. Die Offiziere wollen sich am Aufbau ihrer eigenen Nationalstaaten beteiligen, worauf sich der Oberst erschießt.
Die Ehrenbezeigungen der Offiziere werden zum Requiem auf die Monarchie: "Erde aus kärnten", "Erde aus Polen", Tschechische Erde, "slowenische Erde", italienische Erde und schließlich "Erde aus Österreich".

Die Sprache ist wohl vor allem das Bindeglied, wenn Angehörige des gleichen Staates einander nicht verstehen, ist es schwer möglich zu kommunizieren. Deutsch als Sprache der Armee war ein medium, wobei auffällt, dass sich Tchechische oder galizische Juden wie Kafka und Roth der deutschen Sprache bedienten.

Die Grenzen Afrikas sind heute noch wie mit dem Lineal gezogen, als auf der Kongokonferenz Afrika aufgeteilt wurde. In Tansania erleichterte die Einführung von Suaheli als Amtssprache die Bildung eines tansanischen gemeinsamen Bewusstseins.
 
Für manche Kritiker ist die Donaumonarchie in Etappen gestorben: Königsgrätz 1866, Mayerling 1889 und 1916 der Tod von Franz Joseph sind Eckdaten.

"Gestorben" ist die Donaumonarchie erst nach dem Ersten Weltkrieg. Niemand vermag schlüssig nachzuweisen, ob ihr ohne diesen Krieg ein sanftes oder blutiges Ende beschieden gewsen wäre - oder gar ein Fortbestehen analog zur Schweiz.

Der Ausgleich mit Ungarn 1867 erschien notwendig, doch praktizierten die Ungarn als 2. Staatsvolk eine rigorose Unterdrückungspolitik gegen Minderheiten, und vor allem die Tschechen wünschten sich mehr Autonomie.

Es waren ja nicht nur die Tschechen, die eine größere Autonomie wünschten. Es waren auch die Polen und Ukrainer in Galizien, die Rumänen in Siebenbürgen, die Slowenen, Kroaten und Serben in Krain und Bosnien-Herzegowina und natürlich die Ungarn, die sich nach wie vor nicht ausreichend in der Staatsregierung repräsentiert sahen. Ob und wie da ein Ausgleich hätte stattfinden können, ist überaus fraglich. Vermutlich nicht unter einer paternalistisch-monarchischen Wiener Regierung.

Die Nachfolgestaaten der Donaumonarchie erwiesen sich allerdings auch nicht gerade als großer Wurf im Hinblick auf eine Befriedung Europas.

Das war nach 500-jähriger Fremdherrschaft bei den südslawischen Völkern (erst Türken, dann Hansburger) und nach langer Fremdherrschaft bei den anderen Nationalitäten auch nicht anders zu erwarten. Andere Völker wie Franzosen oder Engländer wuchsen über Jahrhunderte in souveräne Nationalstaaten hinein.

... doch es war die Donaumonarchie nicht nur ein reaktionärer Völkerkerker, und es sprach Joseph Roth, Jude aus Galizien vom "Weltösterreichertum".

Die Nationalitäten waren in der Wiener Zentralregierung entweder gar nicht oder verschwindend gering vertreten. Die Deutsch-Österreicher bestimmten die Richtung des Staates. Das muss man schon als "reaktionär" bezeichnen.

Die Grenzen Afrikas sind heute noch wie mit dem Lineal gezogen, als auf der Kongokonferenz Afrika aufgeteilt wurde.

Deshalb kann das auch nicht funktionieren, was fast täglich in der Zeitung nachzulesen ist.
 
Hallo,
ich hab mir das Thema noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Ich mußte dazu auf eine einigermaßen neutrale Gedankenebene kommen, da mir selbst Begriffe wie "Nationalstolz" bzw. "Patriotismus" und dergleichen nicht fremd sind. Das hat auch einige Tage gedauert.
Dabei fiel mir auf, daß wir zwischen dem Begriff Nationalstaat und dessen Entstehung einerseits und einem Zusammengehörigkeitsgefühl und dem Patriotismus der Bevölkerung zu diesem Staat andererseits unterscheiden müssen.
Um das zu untersuchen, habe ich mir Frankreich als Beispiel vorgenommen, weil ich vermute, daß hier die Entwicklung angestoßen wurde. Der entscheidende Begriff ist dabei der der "Grande Nation", der von Napoleon I. geformt wurde.
Ausgangspunkt ist jedoch die französische Revolution, in der die Bürgerrechte definiert wurden und wo wohl auch das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit bei der einfachen Bevölkerung entstand - zunächst aber jedoch, um die Revolution und deren Errungenschaften zu schützen, da es zahlreiche Angriffe ausländischer Mächte und auch der Konterrevolution gab. Napoleon nutzte diese neue Befindlichkeit in der Bevölkerung und brachte den Begriff der "Grande Nation" auf und nutzte dies für seine Eroberungspolitik. Die immer größeren Armeen Napoleons waren nur durch die Einführung der Wehrpflicht sowohl in Frankreich, aber auch in den von ihm unterworfenen Ländern zu erreichen. Nur so kam beispielsweise die Truppenstärke von 420.000 Mann zusammen, die 1812 in Russland einmarschierten. Auch ist nur durch dieses neue "nationale Selbstverständnis" zu erklären, warum Napoleon nach seiner Rückkehr von Elba sofort wieder die Macht in Frankreich an sich reißen konnte, da er jederzeit wieder aufs neue an der Patriotismus der Franzosen appellieren konnte.

Um die Herrschaft Napoleons abschütteln zu können, mußte auch in Deutschland an das nationale Selbstverständnis in der Bevölkerung appelliert werden, das offenbar auch hier entstanden sein mußte. Der Aufruf des preußischen Königs Friedrich Wilhelms III. "An mein Volk" beweist es eindeutig: Er rief ausdrücklich "Preußen und Deutsche" zum Widerstand gegen Napoleon auf und machte sich dieses Selbstverständnis zu eigen - zumindest bis zur Niederlage Napoleons.

Klar wird dadurch vor allem eines:
Durch die Entstehung des nationalen Bewußtseins in Europa wurde es möglich, die Masse der Bevölkerung zu erreichen, die sich nun für ein "höheres Ideal" - für die Nation - einsetzten und im Ernstfall auch in den Krieg zogen. Das war etwas neues, genau wie die Einführung der Wehrpflicht, die es so vorher nie gab. So wurden aus Söldnerheeren, Heere von Wehrpflichtigen, mit denen sehr viel größere Truppenstärken erreicht werden konnten. Letztlich wurden so auch die beiden Weltkriege mir ihren Millionenheeren möglich - eine vorher nie erreichte Dimension.
Wenn man es von dieser Seite sieht, dann kann man schon den Eindruck bekommen, daß die Entstehung der Nationalstaaten im 19. Jh. in eine Sackgasse führte - in die Sackgasse der beiden Weltkriege mit Millionen von Toten.
Aber eines scheint mir auf der anderen Seite dennoch auch klar zu sein:
Ohne dieses nationale Selbstverständnis hätte es wohl nie ein einheitliches Deutschland gegeben. Zumindest für Deutschand scheint mir diese Aussage zu stimmen, doch da es in Deutschland erst 1871 zur Einheit kam, mußte hier ein besonderes Augenmerk auf die Erziehung zu treuen Staatsbürgern des Kaiserreiches gelegt werden, um die regionalen Identitäten zu überwinden.

So würde ich das nach einigem Überlegen (und nachlesen) sehen. Aber, rena8, wie kommt man auf die Arbeitsthese, Nationalstaaten seien ein "Irrweg der Geschichte"?
 
Hallo,
Ich mußte dazu auf eine einigermaßen neutrale Gedankenebene kommen, da mir selbst Begriffe wie "Nationalstolz" bzw. "Patriotismus" und dergleichen nicht fremd sind.

Dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden.
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Dabei fiel mir auf, daß wir zwischen dem Begriff Nationalstaat und dessen Entstehung einerseits und einem Zusammengehörigkeitsgefühl und dem Patriotismus der Bevölkerung zu diesem Staat andererseits unterscheiden müssen.

Nationalstaat und Zusammengehörigkeitsgefühl seiner Bevölkerung sind nicht zu trennen und bedingen einander. Basis des Nationalstaats ist eine Bevölkerung, die das Bewusstsein gleicher Sprache, Kultur, Tradition und Geschichte hat und sich dadurch von benachbarten Völkern und Staaten abgrenzt, die andere Sprachen und Traditionen haben

Um das zu untersuchen, habe ich mir Frankreich als Beispiel vorgenommen, weil ich vermute, daß hier die Entwicklung angestoßen wurde. Der entscheidende Begriff ist dabei der der "Grande Nation", der von Napoleon I. geformt wurde.
Ausgangspunkt ist jedoch die französische Revolution, in der die Bürgerrechte definiert wurden und wo wohl auch das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit bei der einfachen Bevölkerung entstand.

Wenn wir die frühen Nationalstaaten fassen wollen, müssen wir viel weiter zurückgehen als bis zur Französischen Revolution. Wie in der Literatur zu recht beschrieben, sind in England, Spanien und Frankreich bereits um 1500 die Anfänge des Nationalstaats fassbar.

In Frankreich wird die ethnische und politische Vielfalt seit Ende des 12. Jh. in einen gesamtstaatlichen Rahmen bebracht. Die Dynastie wirkt integrierend, der Adel wird allmählich entmachtet, die Krondomäne zur Grundlage des französischen Nationalbewusstseins ("rex Francorum" zum "roi de France"). In Spanien erwächst aus dem Zusammenschluss der christlichen Königreiche Aragon und Kastilien Ende des 15. Jh. der territorial geschlossene spanische Staat und ein spanisches Nationalbewusstsein, wobei Minderheiten wie muslimische Mauren oder Juden entweder zwangschristianisiert oder eher noch vertrieben werden. England ist durch seine insulare Lage ebenfalls ein Kandidat für ein frühes Nationsbewusstsein, während Italien und Deutschland in dieser Hinsicht Spätzünder sind.

Die Französische Revolution verstärkte lediglich das Bewusstsein der Bevölkerung, in einem Nationalstaat zu leben, hat es jedoch nicht begründet.

Um die Herrschaft Napoleons abschütteln zu können, mußte auch in Deutschland an das nationale Selbstverständnis in der Bevölkerung appelliert werden, das offenbar auch hier entstanden sein mußte. Der Aufruf des preußischen Königs Friedrich Wilhelms III. "An mein Volk" beweist es eindeutig: Er rief ausdrücklich "Preußen und Deutsche" zum Widerstand gegen Napoleon auf und machte sich dieses Selbstverständnis zu eigen - zumindest bis zur Niederlage Napoleons.

Ab wann es in Deutschland ein nationales Bewusstsein gab, ist umstritten. Das Heilige Römische Reich war ein multinationales Gebilde und die Deutschen fühlten sich zunächst als Bayern, Hessen, Sachsen oder Brandenburger und dann erst als Deutsche. Der Wunsch nach einem deutschen Nationalstaat artikulierte sich in der breiten Bevölkerung erst um 1800, zeigte sich dann allerdings sehr demonstrativ auf dem Wartburgfest im Oktober 1817, dem Hambacher Fest im Mai 1832 und natürlich in der Revolution von 1848. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass die Französische Revolution hier als Katalysator wirkte.

Sichtbar wird die veränderte Haltung im Aufruf "An mein Volk", was du oben schon erwähnt hast. Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. beschwört die Einheit von Krone, Staat und Nation, verknüpft sein Schicksal mit dem der Bevölkerung und spricht nicht mehr den Untertan, sondern den Bürger an.

Durch die Entstehung des nationalen Bewußtseins in Europa wurde es möglich, die Masse der Bevölkerung zu erreichen, die sich nun für ein "höheres Ideal" - für die Nation - einsetzten und im Ernstfall auch in den Krieg zogen ... Letztlich wurden so auch die beiden Weltkriege mir ihren Millionenheeren möglich - eine vorher nie erreichte Dimension.

Die Idee des Nationalstaats ist weder gut noch böse. Dass sie missbraucht und instrumentalisiert wurde, ist ihr nicht anzulasten.

Wenn man es von dieser Seite sieht, dann kann man schon den Eindruck bekommen, daß die Entstehung der Nationalstaaten im 19. Jh. in eine Sackgasse führte - in die Sackgasse der beiden Weltkriege mit Millionen von Toten.

Dass man auch mit Nationalstaaten gut und friedlich leben kann, zeigt die europäische Staatengemeinschaft, die samt und sonders aus Nationalstaaten besteht. Das war allerdings erst nach zwei Weltkriegen mit Millionen von Toten sowie der Erkenntnis möglich, dass einst mächtige europäische Staaten einen enormen machtpolitischen Bedeutungsverlust erltten haben und nur noch eine Staatengemeinschadt weltweit gehört wird
 
Ein Zufallsfund :)

Was man nicht so alles findet, wenn man einmal durch die Straßen der Stadt schlendert und einfach einmal einen Blick in das Schaufenster eines örtlichen Ladens für Antiquariat blickt. Von mehreren, meist so an die 200 Jahre alten Drucken waren die erste Innenseite mit dem kompletten Titel aufgeschlagen und sichtbar. Ein Band fiel mir ins Auge, dessen Titel sehr gut zu diesem Thema zu passen scheint. Mit dem Handy abfotographiert kann ich nun den kompletten Titel wiedergeben und dabei das damalige "Layout" weitgehend beibehalten:
Triumph der Philosophie
Im 19ten Jahrhundert​
Oder​
Geschichte​
Der​
Verschwörung des Nationalismus
Gegen​
Religion, Kirche, Fürsten und Staaten
Zum Verständnis​
Des revolutionären Zustandes von Europa​
Im​
19 Jahrhundert​
Neubearbeitet​
Von​
Simon Buchseiner​
Druck: 1836​
Siehe da, da haben wirs: Schon damals haben vorausschauende Köpfe die katastrophale Wirkung des anbrandenden, modernen Nationalismus auf die Stabilität Europas erkannt, zu dessen Überwindung wohl ein Triumph der Philosophie segensreiche Wirkung entfalten möge… Haben wir’s denn nicht immer gewusst? Die Verschwörung gegen Religion, Kirche, Fürsten und Staaten musste doch zum Kollaps führen, oder nicht? Dabei handelt es sich doch nur um eine Neubearbeitung eines älteren Titels. :trompete:
Den Hauptautor konnte ich leider nicht entziffern…
(Sorry, musste ich einfach reinsetzen. Die Staffelung des Titels samt Untertitel ist wie im Buch wiedergegeben... Kein echter Diskussionsbeitrag, aber wie mit der Zeitmaschine ein Blick auf eine uns heute weitgehend fremde... Einstellung)
 
MOD: bitte im zugehörigen Thema posten, keine sachfremden Beiträge anhängen.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Nationalstaat und Zusammengehörigkeitsgefühl seiner Bevölkerung sind nicht zu trennen und bedingen einander. Basis des Nationalstaats ist eine Bevölkerung, die das Bewusstsein gleicher Sprache, Kultur, Tradition und Geschichte hat und sich dadurch von benachbarten Völkern und Staaten abgrenzt, die andere Sprachen und Traditionen haben
(...)
Die Französische Revolution verstärkte lediglich das Bewusstsein der Bevölkerung, in einem Nationalstaat zu leben, hat es jedoch nicht begründet.
Das ist eben die Frage, die mir in dem Zusammenhang noch nicht ganz klar ist: Spechen wir von einem Nationalstaat, wenn bereits die politische Führungsschicht von der Nation bzw. vom Nationalstaat spricht (im Mittelalter der Adel) oder muß das auch die einfache Bevölkerung tun - also auch Bauern, Handwerker, Tagelöhner usw.?
Die Schwierigkeit im Mittelalter bzw. der frühen Neuzeit scheint mit dabei zu sein, daß es für die einfache Bevölkerung zu wenig Überlieferungen über deren Selbstverständnis und deren Verhältnis zu eventuellen anderssprachigen Nachbarn gibt.

Wenn wir die frühen Nationalstaaten fassen wollen, müssen wir viel weiter zurückgehen als bis zur Französischen Revolution. Wie in der Literatur zu recht beschrieben, sind in England, Spanien und Frankreich bereits um 1500 die Anfänge des Nationalstaats fassbar.

In Frankreich wird die ethnische und politische Vielfalt seit Ende des 12. Jh. in einen gesamtstaatlichen Rahmen bebracht. Die Dynastie wirkt integrierend, der Adel wird allmählich entmachtet, die Krondomäne zur Grundlage des französischen Nationalbewusstseins ("rex Francorum" zum "roi de France"). In Spanien erwächst aus dem Zusammenschluss der christlichen Königreiche Aragon und Kastilien Ende des 15. Jh. der territorial geschlossene spanische Staat und ein spanisches Nationalbewusstsein, wobei Minderheiten wie muslimische Mauren oder Juden entweder zwangschristianisiert oder eher noch vertrieben werden. England ist durch seine insulare Lage ebenfalls ein Kandidat für ein frühes Nationsbewusstsein, während Italien und Deutschland in dieser Hinsicht Spätzünder sind...
In Deutschland gab es ja eine ähnliche Entwicklung, die hinter den anderen europäischen Ländern gar nicht so lange hinterher hinkte, und zwar in dem man der Staatsbeizeichnung "Heiliges Römisches Reich" ab den 1470er/80er Jahren den Zusatz "...Deutscher Nation" hinzufügte. Die Entwicklung in Deutschland wurde allerdings unterbrochen durch die immer stärker einsetzende politische Zersplitterung - der fürstlichen "Libertät". Die wollten von einer deutschen Nation natürlich nichts wissen.

Ab wann es in Deutschland ein nationales Bewusstsein gab, ist umstritten. Das Heilige Römische Reich war ein multinationales Gebilde und die Deutschen fühlten sich zunächst als Bayern, Hessen, Sachsen oder Brandenburger und dann erst als Deutsche. Der Wunsch nach einem deutschen Nationalstaat artikulierte sich in der breiten Bevölkerung erst um 1800, zeigte sich dann allerdings sehr demonstrativ auf dem Wartburgfest im Oktober 1817, dem Hambacher Fest im Mai 1832 und natürlich in der Revolution von 1848. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass die Französische Revolution hier als Katalysator wirkte.

Sichtbar wird die veränderte Haltung im Aufruf "An mein Volk", was du oben schon erwähnt hast. Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. beschwört die Einheit von Krone, Staat und Nation, verknüpft sein Schicksal mit dem der Bevölkerung und spricht nicht mehr den Untertan, sondern den Bürger an.
Sehe ich genauso. Zum Zeitpunkt des Aufrufes muß es allerdings bereits recht verbreitet dieses Selbstverständnis auch bei der einfachen Bevölkerung gegeben haben, da sie sonst mit dem Begriff "Deutsche" nichts hätten anfangen können.

Die Idee des Nationalstaats ist weder gut noch böse. Dass sie missbraucht und instrumentalisiert wurde, ist ihr nicht anzulasten.
Das ist richtig. Das wirklich gefährliche ist der Nationalismus - nicht der Patriotismus. Nicht umsonst unterscheidet man strikt zwischen beiden.

Dass man auch mit Nationalstaaten gut und friedlich leben kann, zeigt die europäische Staatengemeinschaft, die samt und sonders aus Nationalstaaten besteht. Das war allerdings erst nach zwei Weltkriegen mit Millionen von Toten sowie der Erkenntnis möglich, dass einst mächtige europäische Staaten einen enormen machtpolitischen Bedeutungsverlust erltten haben und nur noch eine Staatengemeinschadt weltweit gehört wird
Ganz recht - wir sind uns hier einig.
 
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Nationalstaat und Zusammengehörigkeitsgefühl seiner Bevölkerung sind nicht zu trennen und bedingen einander.Basis des Nationalstaats ist eine Bevölkerung, die das Bewusstsein gleicher Sprache, Kultur, Tradition und Geschichte hat und sich dadurch von benachbarten Völkern und Staaten abgrenzt, die andere Sprachen und Traditionen haben.

Wenn wir die frühen Nationalstaaten fassen wollen, müssen wir viel weiter zurückgehen als bis zur Französischen Revolution. Wie in der Literatur zu recht beschrieben, sind in England, Spanien und Frankreich bereits um 1500 die Anfänge des Nationalstaats fassbar.

In Frankreich wird die ethnische und politische Vielfalt seit Ende des 12. Jh. in einen gesamtstaatlichen Rahmen bebracht. Die Dynastie wirkt integrierend, der Adel wird allmählich entmachtet, die Krondomäne zur Grundlage des französischen Nationalbewusstseins ("rex Francorum" zum "roi de France"). In Spanien erwächst aus dem Zusammenschluss der christlichen Königreiche Aragon und Kastilien Ende des 15. Jh. der territorial geschlossene spanische Staat und ein spanisches Nationalbewusstsein, wobei Minderheiten wie muslimische Mauren oder Juden entweder zwangschristianisiert oder eher noch vertrieben werden. England ist durch seine insulare Lage ebenfalls ein Kandidat für ein frühes Nationsbewusstsein, während Italien und Deutschland in dieser Hinsicht Spätzünder sind.

Die Französische Revolution verstärkte lediglich das Bewusstsein der Bevölkerung, in einem Nationalstaat zu leben, hat es jedoch nicht begründet.

Ab wann es in Deutschland ein nationales Bewusstsein gab, ist umstritten. Das Heilige Römische Reich war ein multinationales Gebilde und die Deutschen fühlten sich zunächst als Bayern, Hessen, Sachsen oder Brandenburger und dann erst als Deutsche. Der Wunsch nach einem deutschen Nationalstaat artikulierte sich in der breiten Bevölkerung erst um 1800, zeigte sich dann allerdings sehr demonstrativ auf dem Wartburgfest im Oktober 1817, dem Hambacher Fest im Mai 1832 und natürlich in der Revolution von 1848. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass die Französische Revolution hier als Katalysator wirkte.

Sichtbar wird die veränderte Haltung im Aufruf "An mein Volk", was du oben schon erwähnt hast. Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. beschwört die Einheit von Krone, Staat und Nation, verknüpft sein Schicksal mit dem der Bevölkerung und spricht nicht mehr den Untertan, sondern den Bürger an.

Ich habe mit deiner Darstellung Probleme.
Völlig richtig ist, dass Frankreich z.B. gegenüber Bayern eine größere räumliche Ausdehnung aufwies. Ist damit aber bewiesen, dass es nicht ebenfalls regionale Unterschiede gab, wie z.B. zwischen Bayern und Württemberg? Meines Wissens war die Zentralgewalt in Frankreich gar nicht so ausgeprägt, in den Provinzen gab es unterschiedliche Gesetzgebungen, Parlamente hatte auch ein Mitspracherrecht ... Aber, was m.A.n. viel wichtiger ist, im Grunde gab es keine Unterschiede in der feudalen Abhängigkeit der Bewohner sowohl Frankreichs als auch Bayerns. Die Bauern als zahlenmäßig größter Bevölkerungsteil waren von ihrem Grundherren abhängig. Ob sich daraus ein Bürger eines Nationalstaates ermitteln läßt, wage ich zu bezweifeln.
Wenn es nur auf die Größe einer territorialen Einheit ankäme, dann wäre wohl Rußland der erste Kandidat. Niemand käme aber aufgrund des Bestehens des Leibeigenschaft auf diese Idee. Damit ergibt sich wohl, dass die Voraussetzung eines Bürgers in einem Nationalstaat, der den Begriff auch verdient, der Besitz von bestimmten Rechten ist, die ihn überhaupt erst national interessieren können. Und das fand m.A.n. mit der Erklärung der Grundrechte in der franz. Rev. statt.
Die Überlegenheit eines Nationalstaates ergab sich ja, z.B. in der Möglichkeit, 100000de zu mobilisieren. Das war in anderen europäischen Staaten - Engl. nehme ich in dieser Betrachtung heraus -, in denen noch die Regeln der Kabinettskriege herrschten gar nicht möglich.

Dass die Ideen von den Grundrechten auf Europa übergriffen, wird doch in der Erklärung "An mein Volk" deutlich. FW.III. hätte doch gar keine Grundlage für diesen Aufruf gehabt, hätte es diese Ideen nicht gegeben.

Grüße
excideuil
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich habe mit deiner Darstellung Probleme.
Völlig richtig ist, dass Frankreich z.B. gegenüber Bayern eine größere räumliche Ausdehnung aufwies. Ist damit aber bewiesen, dass es nicht ebenfalls regionale Unterschiede gab, wie z.B. zwischen Bayern und Württemberg? ... Die Überlegenheit eines Nationalstaates ergab sich ja, z.B. in der Möglichkeit, 100000de zu mobilisieren. Das war in anderen europäischen Staaten - Engl. nehme ich in dieser Betrachtung heraus -, in denen noch die Regeln der Kabinettskriege herrschten gar nicht möglich.

Dass die Ideen von den Grundrechten auf Europa übergriffen, wird doch in der Erklärung "An mein Volk" deutlich. FW.III. hätte doch gar keine Grundlage für diesen Aufruf gehabt, hätte es diese Ideen nicht gegeben.

Grüße
excideuil

Spanien, Frankreich und England gelten im allgemeinen als europäische Vorläufer, bei denen zu Beginn der Neuzeit ein Nationsbewusstsein im Entstehen ist. Um 1500 sind sie sicher noch keine ausgeprägten Nationalstaaten, aber im Gegensatz zu Deutschland oder Italien waren einheitliche Gebilde mit einer Zentralregierung entstanden (oder im Entstehen), während das Eigenleben der Provinzen demgegenüber zurücktrat.

Etwa um 1500 waren also die Fundamente gelegt, auf denen im folgenden kräftige Nationalstaaten wuchsen.
 
Dass die Ideen von den Grundrechten auf Europa übergriffen, wird doch in der Erklärung "An mein Volk" deutlich. FW.III. hätte doch gar keine Grundlage für diesen Aufruf gehabt, hätte es diese Ideen nicht gegeben.

Hallo Exci,

den Aufruf habe ich mir nochmal durchgelesen, eine Verbindung mit Ideen von Grundrechten kann ich da nicht herstellen.
Kannst du das bitte næher erlæutern?

Gruss, muheijo
 
Hallo Exci,

den Aufruf habe ich mir nochmal durchgelesen, eine Verbindung mit Ideen von Grundrechten kann ich da nicht herstellen.
Kannst du das bitte næher erlæutern?

Gruss, muheijo

Der König wendet sich an sein Volk und nimmt eine Bestandsaufnahme vor.

Dann folgt dieser Satz:
"Jetzt ist der Augenblick gekommen, wo alle Täuschung über unsern Zustand aufhört. – Brandenburger, Preußen, Schlesier, Pommern, Litthauer! Ihr wißt, was Ihr seit fast sieben Jahren erduldet habt; Ihr wißt, was euer trauriges Loos ist, wenn wir den beginnenden Kampf nicht ehrenvoll enden."

Das wirkt wie ein Doppel der Losung aus der franz. Revolution: "Das Vaterland ist in Gefahr!"

Preußen, Schlesier ... werden als gleich (gestellt) ins Boot geholt. Gleiches Interesse wird suggeriert und damit werden die Hoffnungen der Bürger auf die Grundrechte geweckt, die mit der franz. Rev. als Idee über den Kontinent gekommen sind.

"Aber, welche Opfer auch von Einzelnen gefordert werden mögen, sie wiegen die heiligen Güter nicht auf, für die wir sie hingeben, für die wir streiten und siegen müssen, wenn wir nicht aufhören wollen, Preußen und Deutsche zu seyn. Es ist der letzte, entscheidende Kampf, den wir bestehen, für unsere Existenz, unsere Unabhängigkeit, unsern Wohlstand."

Der König fordert nicht nur, er stellt auch Ziele, Interessen in Aussicht.
Warum tut er das? Er, der noch 1806 durch Graf Schulenburg verkünden ließ: "Der König hat eine Bataille verloren ... ".
Ohne die Möglichkeiten der franz. Revolution zur Mobilisierung von Massenarmeen durch die neuen Ideen der Interressierung des Bürgers am Vaterland, an der Nation, hätte er keinen Grund und keine Grundlage gehabt, diesen Aufruf zu platzieren, um dadurch durch einen Volkskrieg zum Sieg zu gelangen. Er hätte weiter in der alten Strategie der Kabinettskriege agiert.

Grüße
excideuil
 
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