Dion

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Ich habe Heiko Steuers Werk „Germanen“ aus Sicht der Archäologie nicht ganz gelesen, aber das, was ich gelesen habe, erlaubt es mir, hier meinen ersten Eindruck zu schildern.

Was mich beim Steuer ein wenig gestört hat, war die Betrachtung von größeren Zeiträumen (120 v. Chr. bis Trajan und darüber hinaus, d.h. bis zur Völkerwanderung ) als wären sie eins. So werden Geschehnisse zu Zeit der Varusschlacht mit jenen in Beziehung gesetzt, die 100 und mehr Jahre davor stattfanden (Kimbernkriege), als auch mit all jenen Jahrhunderte später, die letztlich zum Ende des römischen (West)Reiches führten.

Aber sonst hat er überraschende Ideen auf Lager, die auf archäologischen Befunden und daraus entwickelten Thesen beruhen. Die Berichte der antiken Schriftsteller lehnte er meistens ab, es sei denn, sie bestätigen seine Vermutungen.

So überrascht es einen auch nicht, wenn er „Germanien“ als einen Bereich betrachtet, der von Jütland bis zu den Alpen, und von Niederlanden bis zur Weichsel und nach Mähren reicht, ja manchmal werden sogar Funde in der heutigen Ukraine dazu gezählt, weil sie ähnlich zu jenen sind, die z.B. in Niedersachsen gefunden wurden. So kann er natürlich auf 10 Millionen „Germanen“ zur Zeit des Augustus kommen, zumal er sagt, Germanien war mitnichten so dünn besiedelt, wie die antiken Autoren behaupten.

Sicher, Drusus Züge gingen in den Jahren 12-9 v.Chr. von Xanten die Lippe aufwärts über Anreppen bis an die Weser, also über das Gebiet der Cherusker in das Gebiet der Fosi. Und vom Mainz aus über Bad Naunheim bis nach Hedemünden, also in das Gebiet der Hermunduren und Markomannen. Später stieß man die Elbe aufwärts weit ins Binnenland, doch nach 16 n.Chr. war damit Schluss, von gelegentlichen Vorstößen des Tiberius und Caligulas einmal abgesehen.

Das Hauptproblem für die Römer wäre es gewesen, dass sie in Germanien, anders als z.B. in Gallien oder Dakien, kaum Ansprechpartner fanden, mit denen sie Verträge über größere Gebiete (mit mehr als ca. 1000 Quadratkilometern, das sind 32x32 km) schließen konnten. Und selbst wenn sie welche schlossen wie z.B. mit Cheruskern, dann waren sie nicht von Dauer. So mussten sie immer wieder mit Aufständen rechnen wie in anderen Gebieten des RR auch – siehe z.B. im Jahr 6 n.Chr. den Aufstand in Pannonien.

Er sagt auch, dass die „Provinz Germania“ für ungefähr 20 Jahre bestand – bis sie nach 16 n.Chr. zur „Germania libera“ wurde, mit der aber weiter Handel getrieben wurde, was die Existenz von Zoll man Rhein bezeugt. Und wie sich für ein römische Provinz gehört, gab es da auch Lager (Haltern, Anreppen) und Stützpunkte bis an die Elbe (Hedemünden) sowie Stadtgründungen (Lahnau-Waldgirmes bei Wetzlar) mit einem Wegenetz zwischen diesen.

Wie sich für eine römische Provinz gehört, wurden auch vertragliche Abgaben erhoben. Doch sobald die Führung eines Stammes wechselte, galten die Abmachungen nicht mehr – die Steuern wurden verweigert, was Strafaktionen nach sich zog. Doch das Gebiet, von den antiken Schriftstellern Germanien genannt, war kein einheitliches, sondern in viele kleine Gebiete gesplittet, die selten mehr als 1500 km² umfassten, das wären weniger als 40x40 km. Aber im Falle der Chrusker und Angrivarier macht er eine Ausnahme, denn deren Gebiete betrachtet er als viel größer: Statt 50x50 km sind es da plötzlich 150x150 km.

Um so seine These, Varus kämpfte mit seinen 3 Legionen mit gleichgroßen oder sogar größeren germanischen Kampfverbänden, Glaubwürdigkeit zu verleihen?

Im 2. Teil werde ich eine längere Passage aus Steuers Werk „Germanen“ aus Sicht der Archäologie bringen.
 
Lassen wir Heiko Steuer direkt sprechen – Zitat:

Eine weitere Facette der Gesellschaftsformen bildeten die – immer wieder thematisierten – frei beweglichen Kriegerscharen, die losgelöst von den dörflichen Gemeinschaften durch Germanien zogen. Ihre Anführer und ihre jeweilige Gefolgschaft bildeten Einheiten, die Namen trugen und daher von den Römern mit territorial gebundenen Siedlungsgemeinschaften (Stämmen?) verwechselt werden konnten. Diese Heere hießen nach den Anführern, Arminius gehörte zur Sippe der Cherusker, und nur solange es diese Familie gab, gab es auch einen Stamm der Cherusker. Nachdem die letzten Vertreter aus dem Clan des Arminius und Segestes ausgeschaltet waren, die von Rom unterstützten bzw. gar eingesetzten Könige Italicus und Chariomerus (unter Domitian 81–96 n. Chr.), gab es keine Nachrichten in der schriftlichen Überlieferung mehr mit Nennung der Cherusker.2913 Somit spiegeln die sog. „Stammesnamen“ der antiken Überlieferung in erster Linie Kriegsführer mit ihrem Anhang. Sie wurden von der Forschung des 19./20. Jahrhunderts aufgrund des Denkens in Nationalstaaten mit ihren Grenzen als territoriale Einheiten auf der Landkarte eingetragen. „Völkerwanderungen“ waren keine Wanderungen von Völkern und Stämmen, sondern waren Kriegszüge.
(…)
Weniger die sesshafte dörfliche Bevölkerung – die immer die absolute Mehrheit der Bevölkerung stellte – trug die uns überlieferten „Stammesnamen“, sondern die mobilen Personenverbände oder Kriegergruppen. Es ist in den schriftlichen Quellen nicht überliefert, wie sich eine Gruppe von einigen Dörfern und ihre Bewohner selbst genannt haben, weil darüber die Kriegsberichterstatter und auch Tacitus nicht unmittelbar geschrieben haben. Darüber täuschen auch die wenigen Landschaftsnamen nicht hinweg, die immer erst später überliefert worden sind, so z. B. Bardowick und der Bardengau für die Langobarden; und die Lombardeierhielt zwar ihren Namen von den Langobarden, aber diese waren wiederum Kriegerverbände, die unter Heerkönigen nach Italien eingewandert sind.
(…)
Germanien war also politisch ausgesprochen kleinteilig gegliedert, was anhand der archäologischen Überlieferung beschreibbar ist. Diese Territorien mit ihren gleichartigen Dörfern hatten 30 bis höchstens 50 km Durchmesser. Gemeinsames Handeln der Bewohner eines solchen Territoriums spiegelt sich in den zentralen Opferplätzen und in den Grenzbefestigungen.
(…)
Der Archäologe Nico Roymans hat für den kriegerischen Stamm der Bataver errechnet, dass die gesamte Gruppe aus nur etwa 40 000 Menschen bestand, die immerhin aber 5000 Krieger für römische Auxiliareinheiten zu stellen hatte (vgl. oben S. 384).
(…)
Für die Cherusker werden 20 000 bis 80 000 Menschen in einem Territorium zwischen 10 300 (etwa 100 auf 100 km) und 22 000 (etwa150 auf 150 km) km2 geschätzt; dann können sie 4000 bis 16 000 Krieger (jeweils ein Fünftel) stellen. Für die Angrivarier werden 22 000 bis 25 000 Menschen gerechnet und ein Territorium von 7400 (86 auf 86 km) bis 8000 (89 auf 89 km) km2. Die Zahl der zu rekrutierenden Krieger wird auf 7500 Krieger geschätzt.
(…)
Dafür war nicht zuletzt, anders als die römischen Schriftsteller das sehen wollten, die außerordentlich dichte Besiedlung Germaniens die Ursache. Archäologisch sind einerseits die kleinräumig gegliederten Territorialstrukturen nachzuweisen, andererseits – nur indirekt über die Heeresausrüstungsopfer – die beweglichen Militärverbände oder Kriegergefolgschaften, Kennzeichen der sog. „Völkerwanderung“. Also: Es wanderten eben keine Völkerschaften mit Kind und Kegel und Planwagen, sondern militärische Verbände, die am Ende schließlich sich territorialisierten, Ländereien besetzten und dann auch Familien gründeten.
(Seite 810-815)

Es gibt hier 1 Besonderheit:

Plötzlich sind hier doch 2 Gebiete größer: Von 10.000 bis 22.000 km² (Cherusker) und 7.400 bis 8.000 km² (Angrivarier), womit Cherusker ein Heer von 4000 bis 16 000 Kriegern stellen könnten, und Angrivarier ca. 7.500.

Beide zusammen hätten also annährend gleichgroße Streitmacht wie Varus. Doch selbst wenn das wahr wäre, dann hätten sie auch die gleichen logistische Probleme. Zum Vergleich ein Zitat aus dem Teil über Tiberius, dessen Truppen auch über die Elbe versorgt wurden:

Die Versorgung einer Legion von 5000 bis 5500 Mann auf dem Marsch benötigte rund 5 Tonnen Getreide pro Tag oder anders für fünf Legionen am Tag 16 Tonnen, im Jahr 9600 Tonnen. Da Maultiere nur bis 135 kg tragen konnten und vierrädrige Wagen nur bis 650 kg, ging das bei den Massen an benötigtem Getreide nur per Schiff.3572 Der Sold in Buntmetallmünzen wog insgesamt auch immerhin viele Kilogramm, für eine Legion sogar ebenfalls Tonnen (vgl. oben S. 563).

Die Römer versorgten sich teileweise auch aus dem Gebieten, die sie durchquerten: Sie raubten den Einheimischen die Lebensmittel. Dies blieb jedoch den „frei beweglichen Kriegerscharen, die losgelöst von den dörflichen Gemeinschaften durch Germanien zogen“ verwehrt, es sei denn, sie wurden freiwillig versorgt, was sicher nicht immer der Fall war.

Es gibt noch eine Indiz für den Kampf des Varus mit gleichgroßen germanischen Kriegerverband. Auf den Kampfeldern fanden sich so gut wie keine typische „germanische“ Waffen. Das spricht dafür, dass Varus es mit zurückgekehrten ehemaligen Legionären zu tun hatte, die die gleichen Waffen trugen.

Eine äußerst interessante These.

PS: Ich wollte das nicht im Monsterfaden Kalkriese posten, weil man da nach einiger Zeit nichts mehr findet.
 
Es gibt noch eine Indiz für den Kampf des Varus mit gleichgroßen germanischen Kriegerverband. Auf den Kampfeldern fanden sich so gut wie keine typische „germanische“ Waffen. Das spricht dafür, dass Varus es mit zurückgekehrten ehemaligen Legionären zu tun hatte, die die gleichen Waffen trugen.

Eine äußerst interessante These.
Aber nicht neu.
 
Für mich war die Berechnung der Größe der Bevölkerung, die Bewaffnung und die große Anzahl der offenbar gut ausgebildeten Kämpfer ein Novum.
Also, dass man wenige germanische Waffen gefunden hat (zwischen Damme und Hunteburg hat man mutmaßlich Holzwaffen gefunden) und daraus resultierend die These, dass die germanischen Verbände als Hilfstruppen gerüstet waren, ist eine alt.
 
So überrascht es einen auch nicht, wenn er „Germanien“ [...] So kann er natürlich auf 10 Millionen „Germanen“ zur Zeit des Augustus kommen, zumal er sagt, Germanien war mitnichten so dünn besiedelt, wie die antiken Autoren behaupten.

Da würde mich dann allerdings ganz ehrlich doch interessieren, wie er zu seinen Zahlen kommt.

Für die Cherusker werden 20 000 bis 80 000 Menschen in einem Territorium zwischen 10 300 (etwa 100 auf 100 km) und 22 000 (etwa150 auf 150 km) km2 geschätzt; dann können sie 4000 bis 16 000 Krieger (jeweils ein Fünftel) stellen.

Schätzungen auf derartier Basis wird man weitgehend vergessen können.
Wie viele Krieger eine Gruppe stellen konnte hing selbstredend nicht nur von der Größe des Territoriums nach Quadratkilometern und der Zahl der Menschen ab, sondern im Hinblick auf die Ernährung der Zurückverbliebenen selbstredend auch vom Viehbestand, der Bodenbeschaffenheit und -Qualität, so wie den jeweils für die Bearbeitung der Böden verwendeten Gerätschaften und Techniken.

Dafür war nicht zuletzt, anders als die römischen Schriftsteller das sehen wollten, die außerordentlich dichte Besiedlung Germaniens die Ursache.

Stellt sich allerdings die Frage, ob sich die Dichte allein auf die fassbaren baulichen Strukturen bezieht oder hier konkret eine entsprechende Einwohnerdichte nachzuweisen ist.

Die relativ schlecht entwickelte Landwirtschaft im germanischen Bereich und das mit Gallien oder dem Mittelmeerraum verglichen rauere Klima legt im Prinzip nahe, dass dass im Germanischen größere Anbauflächen notwendig waren, um vergleichbare Erträge zu erzielen, als in den genannten aneren Regionen bei vergleichbarer Bodenqualität.

Wenn man das annimmt, wird man für den germanischen Bereich zwar eine größere bauliche Dichte annehmen müssen, gleichzeitig aber auch entsprechend kleinere Einwohnerschaften der entsprechenden Siedlungen, weil der Bedarf an Boden zur Verpflegung der Einwohner größere Ballungen möglicherweise nicht erlaubte.

Beide zusammen hätten also annährend gleichgroße Streitmacht wie Varus.
Das erscheint erst einmal schon aus dem Umstand heraus denkbar, dass wir nicht so genau wissen, wer in den Aufstand jetzt eigentlich involviert war und wer nicht und ob da vielleicht noch andere Teilgruppen eine Rolle spielten, die von römischer Seite nicht als von den "Cheruskern" verschieden erkannt wurden.

Doch selbst wenn das wahr wäre, dann hätten sie auch die gleichen logistische Probleme.

Fehlschluss.
Sie hätten die gleeichen logistischen Probleme wie die Römer gehabt, wenn sie sich von Beginn an zentral versammelt hätten und wie die Römer im wesentlichen über ein und den gleichen Weg diesen entgegengezogen wären.
Wenn die germanischen Gruppen sich aus verschiedenen Territorien über verschiedene Wege zusammenzogen und sich erst kurz vor der Schlacht vereinigten, hatten sie diese Probleme möglicherweise nicht.

Es gibt noch eine Indiz für den Kampf des Varus mit gleichgroßen germanischen Kriegerverband. Auf den Kampfeldern fanden sich so gut wie keine typische „germanische“ Waffen. Das spricht dafür, dass Varus es mit zurückgekehrten ehemaligen Legionären zu tun hatte, die die gleichen Waffen trugen.

Oder auch einfach dafür, dass man sich von germanischer Seite darum bemühte vor allem die Waffen wieder einzusammeln mit deren Umgang man vertraut war oder aus anderen Gründen (Bestattungen?) etc.
 
Da würde mich dann allerdings ganz ehrlich doch interessieren, wie er zu seinen Zahlen kommt.
Ich kenne das neue Buch nicht, nur einen Text von Steuer, den er bereits vor längerem - ich glaube 2007 - publiziert hat, ich meine in dem Sammelband von Lehmann/Wiegels zur Varusschlacht. Es handelt sich um Hochrechnungen. Hochrechnungen, die freilich ihre Variablen haben. Als Siedlungsarchäologe bestimmt er die Dichte der germanischen Siedlungen in den besiedelbaren (also landwirtschaftlich nutzbaren*) Flächen und rechnet daraus hoch, wie viele Menschen es gab. Das gibt freilich keine exakten Zahlen, sondern bestenfalls Näherungswerte.

*viele Flächen, die im HochMA bäuerlich erschlossen wurden, waren vorher zu unattraktiv und mit der Erfindung chemiebasierter neuer Düngemethoden seit dem 19. Jhdt. könnten auch Heiden in Landwirtschaftsflächen umgewandelt werden.


Oder auch einfach dafür, dass man sich von germanischer Seite darum bemühte vor allem die Waffen wieder einzusammeln mit deren Umgang man vertraut war oder aus anderen Gründen (Bestattungen?) etc.
So richtig viele Waffen hat man in Kalkriese auch nicht gefunden. Man hat vor allem Rüstungsbestandteile gefunden, Schildranbeschläge, die gefaltet waren (also entweder rituell zerstört oder für den Abtransport vorbereitet), Panzerschließen, kleinere Waffenfragmente. Dass man in den letzten 8 Jahren noch mal bedeutende Funde gemacht hat (8 Goldmünzen 2016, 200 Silbermünzen 2017, den weitgehend intakten Schienenpanzer eines offensichtlich gefangenen Römers (Halsfessel) und einen pugio), sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Funde eben nicht die dicken Dinger sind, sondern die Überreste des Schlachtgeschehens und der nachfolgenden Plünderungen. Wenn man mit Gewalt einem Toten oder Sterbenden die Lorica Segmentata vom Körper reißt, dann geht die Panzerschließe vielleicht verloren. Das erklärt, warum man insgesamt wenige Panzerplatten aber mehrere Panzerschließen fand. Wobei eine fast intakte Lorica Segmentata auch eine kleine Sensation ist. Davon sind nämlich archäologisch höchstens eine handvoll bekannt.
 
*viele Flächen, die im HochMA bäuerlich erschlossen wurden, waren vorher zu unattraktiv und mit der Erfindung chemiebasierter neuer Düngemethoden seit dem 19. Jhdt. könnten auch Heiden in Landwirtschaftsflächen umgewandelt werden.

Viele Flächen wurden allerdings in der Folge der großen Pest aufgegeben, waren vorher durchaus bearbeitet worden.
Wie intensiv ist eine andere Frage.
 
Da würde mich dann allerdings ganz ehrlich doch interessieren, wie er zu seinen Zahlen kommt.
Man schaut sich die Dichte der Siedlungen in einem Gebiet an. Man schaut sich den Gebäudebestand innerhalb einer Siedlung an. Man schaut sich an, wie viele Herdstellen es gibt. Wie groß die Stallungen sind usw.

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Anhand solcher Zahlen kann man die Bevölkerungszahl eines Dorfes schätzen, pro Kleinbetrieb mit nur einer Herdstelle etwa eine Kernfamilie (5 - 7 Personen). Wenn man eine größere Anzahl von Dörfern erforscht hat, kann man realistische Bevölkerungszahlen in einem bestimmten Zeitraum ermitteln. Wenn man eine komplette Siedlungskammer erforscht hat, kann den durchschnittlichen Abstand zwischen zwei Dörfern ermitteln. Da gibt es dann beispielsweise eine Spannweite von einem Dorf mit 100 Menschen alle 4 Kilometer bis zu einem Dorf mit 300 Menschen alle 2 Kilometer.

"Wenn ein Dorf die Fläche von 2,5 x 2,5 km (6,25 km² ), von 3 x 3 km (9 km²) oder 5 x 5 km (25 km²) einnahm, dann gab es in einem Bereich von 25 x 25 km (625 km²), von 30 x 30 km (900 km²) oder 50 x 50 km (2500 km²) Größe jeweils etwa 100 Dörfer und damit 10 000 bis 30 000 Menschen." (Steuer 2007)

Damit hätten wir einen Rahmen von 4 Einwohner pro km² bis 48 Einwohner pro km². (Tatsächlich gibt es Siedlungskammern, bei denen eine weit höhere Bevölkerungsdichte ermittelt werden konnte, das geht bis zu 200 Einwohnern pro km².)
Wenn wir bei größeren Territorien damit rechnen, dass die Hälfte des Landes gänzlich unbesiedelt ist und die andere Hälfte mit 4 Einwohnern pro km² eher dünn besiedelt ist, kommen wir bei 10.000 km² auf 20.000 Einwohner, das ergibt das untere Limit von Steuers Schätzung für die Cherusker.
 
Es gab wohl eine Überbevölkerung in „Germanien“, sonst hätten die aus Jütland kommenden Kimbern (zusammen mit Teutonen und Ambronen) nicht schon 113 v.Chr. bei Noreia (Steiermark) 2 römische Legionen fast vernichten können: Um die 12.000 Legionäre zu schlagen, braucht es schon eine gewaltige Streitmacht.

Auch dass „Germania“ immer wieder in der Lage war, Soldaten in großer Zahl an Rom zu „liefern“, sagt uns, dass dort so viele Menschen lebten, dass sie diese Soldaten „entbehren“ konnten – schließlich mussten noch genügend zurückbleiben, um auf die Jagd zugehen, die Felder zu bestellen und sich ggf. der Nachbarn zu erwehren.

Um diese große Population zu ernähren, mussten sie genügend natürliche Ressourcen haben (z.B. Eisen) und verschiedene Techniken beherrschen (z.B. Schmiede für landwirtschaftliche Geräte und Waffen) und auch von der Landwirtschaft was verstehen. Man brauchte auch ein Wegenetz, um Handel zu betreiben, denn nicht jedes Dorf konnte alles Lebensnotwendige selbst herstellen. Insofern durfte die römische Bezeichnung „Barbaren“ für Germanen tatsächlich nicht auf mangelnde Kultur zurückzuführen sein, sondern so wie in Griechenland: Sie sprachen nicht griechisch bzw. lateinisch.

Es gibt noch eine Angabe Steuers, die mich überrascht hat:
Für die Cherusker werden 20 000 bis 80 000 Menschen in einem Territorium zwischen 10 300 (etwa 100 auf 100 km) und 22 000 (etwa150 auf 150 km) km2 geschätzt; dann können sie 4000 bis 16 000 Krieger (jeweils ein Fünftel) stellen.
Ein Fünftel einer Population wäre waffenfähig? Das scheint mir zu hoch gegriffen, denn das würde bedeuten, dass z.B. heute Ukraine bei einer Bevölkerung von 40 Millionen, 8 Millionen Soldaten stellen könnte, und Russland würde bei einer Bevölkerung von etwas weniger als 150 Millionen bei beinahe 30 Millionen Soldaten liegen.

Deshalb meine Frage an die Militärexperten in diesem Forum: Mit welchen Zahlen kann man heute realistischerweise rechnen?
 
Es gibt noch eine Angabe Steuers, die mich überrascht hat: Ein Fünftel einer Population wäre waffenfähig? Das scheint mir zu hoch gegriffen, denn das würde bedeuten, dass z.B. heute Ukraine bei einer Bevölkerung von 40 Millionen, 8 Millionen Soldaten stellen könnte, und Russland würde bei einer Bevölkerung von etwas weniger als 150 Millionen bei beinahe 30 Millionen Soldaten liegen.

Das Deutsche Reich hatte laut Volkszählung von 1939 (nach der Annektion Österreichs und des Sudetenlands) knapp 80 Millionen Einwohner:
Volkszählung im Deutschen Reich 1939 – Wikipedia

In Wehrmacht und Waffen-SS dienten angeblich 18,2 Millionen Soldaten:
Wehrmacht – Wikipedia
 
Ein Fünftel einer Population wäre waffenfähig? Das scheint mir zu hoch gegriffen,
auf den ersten Blick (sozusagen unsere Verhältnisse im Hinterkopf) scheint das zu hoch - aber was uns heute fremdartig vorkommt, ist das immense Prestige des Kriegers in den gentilen germanischen Gesellschaften. Und diese lebten noch nicht in arbeitsteiliger großstädtischer Kultur (für einen Römer gab es weitaus mehr Karriereoptionen als nur kriegerische) Insofern scheinen mir die Relationen den richtigen Trend zu verdeutlichen.

Es gab wohl eine Überbevölkerung in „Germanien“, sonst hätten die aus Jütland kommenden Kimbern (zusammen mit Teutonen und Ambronen) nicht schon 113 v.Chr. bei Noreia (Steiermark) 2 römische Legionen fast vernichten können: Um die 12.000 Legionäre zu schlagen, braucht es schon eine gewaltige Streitmacht.
Das klingt nach dem Topos vom Norden als Mutterschoß der Völker - - laut Tante Wiki machten sich die Kimbern und Teutonen wegen Missernten infolge von Umweltveränderungen auf den Weg.

Freilich sind die überlieferten Zahlen bzgl der Streitmächte - siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Kimbernkriege - wirklich enorm, jedenfalls im Vergleich zur "vandalischen Volkszählung", die auf rund 80.000 kam, davon ca. 15-20.000 Krieger (also auch hier rund ein Viertel-Fünftel)
 
Insofern durfte die römische Bezeichnung „Barbaren“ für Germanen tatsächlich nicht auf mangelnde Kultur zurückzuführen sein, sondern so wie in Griechenland: Sie sprachen nicht griechisch bzw. lateinisch.

Aus römischer Sicht gab es an der germanischen Kultur sehr vieles zu bemängeln, die Sprache spielte da sicher die kleinste Rolle:
Es gab keinen Wein, es gab kein Olivenöl, von hundert anderen schmackhaften Sachen ganz zu schweigen.
Das Getreide, das in germanischen Scheunen lagerte, hätte ein römischer Legionär bestenfalls an sein Maultier verfüttert.
Es gab keine Straßen, die römischem Standard entsprachen, keine Herbergen, die römischem Standard entsprachen, es gab keine Thermen, keine Theater, keine Bibliotheken.
Das alles war aus römischer Sicht gewiss "barbarisch".
 
Man schaut sich die Dichte der Siedlungen in einem Gebiet an. Man schaut sich den Gebäudebestand innerhalb einer Siedlung an. Man schaut sich an, wie viele Herdstellen es gibt. Wie groß die Stallungen sind usw. [...]

Schön und gut, aber um ehrlich zu sein, da sehe ich ein ganz gewaltiges Datierungsproblem, wenn man sich auf die baulichen Überreste stützt.
Hier müsste ja nicht nur ermittelt werden, welche baulichen Überreste man vorfindet, sondern es müssten großflächig Laufzeiten ermittelt und festgstellt werden, was alles gleichzeeitig miteinander lief.

Da wäre jetzt meine Frage, sind denn dementsprechend genug Überreste vorhanden um das in diesem Ausmaß wirklich einigermaßen exakt zu bestimmen?
Ich meine, die Zeit liegt so lange zurück, dass man an vielen Fundstätten die Denddrochronologie wird vergessen, wie es um die Zuverlässigkeit von Keramikscherben an jedem Fundplatz bestellt ist, weiß ich nicht.

Diverse andere Datierungsmethoden liefern ja eher einen ungefähren Zeitraum, bei dem ähnlich datierte Bebauung schon mal 1-2 Generationen auseinander liegen kann.
Und da sehe ich einfach das Problem, im Besonderen bei mobileren Gruppen, dass ein größerer Teil der Strukturen möglicherweise nicht parallel existierte sondern alte Siedlungsplätze aus bestimmten Gründen (ausgelaugte Böden z.B.) häufiger aufgegeben und neue errichtet wurden.

Um diese große Population zu ernähren, mussten sie genügend natürliche Ressourcen haben (z.B. Eisen) und verschiedene Techniken beherrschen (z.B. Schmiede für landwirtschaftliche Geräte und Waffen) und auch von der Landwirtschaft was verstehen.

Ich muss dazu sagen, dass ich mich selber mit dem germanischen Bereich nie viel befasst habe. Ich habe vor Jahren mal eine Vorlesung besucht, die sich in den Grundlagen mit "keltischer" und "germanischer" materieller Kultur beschäftigt hat.
Ich muss da zu meiner Schande gestehen, dass dabei nicht allzu viel hängen geblieben ist, eines aber doch, nämlich dass im germanischen Bereich das landwirtschaftliche Gerät und die Anbautechniken wohl ziemlich dürftig waren und die Bodenerträge demgemäß wohl eher bescheiden.

Ein Fünftel einer Population wäre waffenfähig? Das scheint mir zu hoch gegriffen, denn das würde bedeuten, dass z.B. heute Ukraine bei einer Bevölkerung von 40 Millionen, 8 Millionen Soldaten stellen könnte, und Russland würde bei einer Bevölkerung von etwas weniger als 150 Millionen bei beinahe 30 Millionen Soldaten liegen.

Deshalb meine Frage an die Militärexperten in diesem Forum: Mit welchen Zahlen kann man heute realistischerweise rechnen?

Die Zahlen kannst du natürlich nicht auf die heutige Zeit übertragen, weil vollkommen andere demographische Struktur, die damaligen Gesellschaften waren im Schnitt deutlich jünger.
Die Vorstellung, dass es in unserem Verständnis ältere Menschen quasi nicht gegeben habe, wenn man vom Durchschnittsalter einer früheren Gesellschaft spricht, ist so durchaus nicht richtig, weil das durch die hohe Kindersterblichkeit verzerrt wird, allerdings wird man durchausdavon ausgehen können, dass bei einem Alter ab irgendwas zwischen 50 und 60 Jahren dann die Ausreißer beginnen.

Stellt man in Rechnung, dass Personeen, die zu alt sind um noch eine Waffe führen zu können, wenn es denn darauf ankam, in diesen Gesellschaften so gut wie nicht vorkamen und man ggf. auch noch eine andere Vorstellungen hatte, ab welchem Alter eine Person als Erwachsen/Waffenfähig galt (ggf. ab 15-16 Jahren, in dem Dreh), dann kommt man natürlich auf einen entsprechend hohen Anteil.
 
Schön und gut, aber um ehrlich zu sein, da sehe ich ein ganz gewaltiges Datierungsproblem, wenn man sich auf die baulichen Überreste stützt.
Hier müsste ja nicht nur ermittelt werden, welche baulichen Überreste man vorfindet, sondern es müssten großflächig Laufzeiten ermittelt und festgstellt werden, was alles gleichzeeitig miteinander lief.
Das lässt sich in diesem Fall ziemlich gut feststellen, da die sechs Siedlungsperioden sich gut trennen lassen. Ab Siedlungsperiode 2 wurden die Gebäude auf Wurten errichtet, die sukzessive erhöht und erweitert wurden. Wenn eine einzelne Siedlungsperiode kaum mehr als 50 Jahre dauert, ist kaum Raum für Spekulationen über noch kürzere Bauphasen.
 
Es gab keinen Wein, es gab kein Olivenöl, von hundert anderen schmackhaften Sachen ganz zu schweigen.
Das Getreide, das in germanischen Scheunen lagerte, hätte ein römischer Legionär bestenfalls an sein Maultier verfüttert.
Es gab keine Straßen, die römischem Standard entsprachen, keine Herbergen, die römischem Standard entsprachen, es gab keine Thermen, keine Theater, keine Bibliotheken.
Das alles war aus römischer Sicht gewiss "barbarisch".
womit "barbarisch" aus der römischen Perspektive eine Mixtur aus unterentwickelt, regellos, unzuverlässig mit beinhaltet.

Aber der römische Standard war im Lauf der Zeit immer näher in die Nachbarschaft der germanischen Verbände/Gesellschaften/"Gentes" gerückt und damit immer attraktiver geworden, banal gesagt um an diesem Standard teilhaftig zu werden. Und der römische Standard sondierte nicht nur in seiner nordöstlichen Nachbarschaft, sondern Varus, Germanicus, Tiberius usw. versuchten, Teile der (späteren) Germania libera durch peu a peu Annexion zu assimilieren.

In dieser Situation gab es auf Seite der "Barbaren" zwei Optionen: sich mit Rom arrangieren und ggf allmählich integriert/assimiliert zu werden - oder sich gegen Rom zu stellen, um durch militärischen Druck oder Widerstand womöglich bessere Verhandlungsbedingungen zu erwirken. (die cheruskische Teutoburger-Wald-Schlacht als Sieg des germanischen Freiheitswillens scheint mir ein literarischer a posterio Topos zu sein)

Und genau das, die in den vorhandenen Quellen über Segestes, Arminius usw. erkennbare Aufteilung in pro- und kontrarömische Lager wird nun zum Indiz für die eben nicht so geringe Bevölkerungs/Besiedlungsdichte: denn nur ein Teil - der kontrarömische - stellte die Truppen auf, die stark genug waren, die eigentlich technologisch überlegenen drei Varus-Legionen platt zu machen!
 
Das Deutsche Reich hatte laut Volkszählung von 1939 (nach der Annektion Österreichs und des Sudetenlands) knapp 80 Millionen Einwohner:
Volkszählung im Deutschen Reich 1939 – Wikipedia

In Wehrmacht und Waffen-SS dienten angeblich 18,2 Millionen Soldaten:
Wehrmacht – Wikipedia
Ja, verteilt auf fast 6 Jahre Krieg. Zitat aus Wikipedia:
Im November 1943 hatte die Wehrmacht eine Stärke von ca. 6,345 Millionen Soldaten.
Selbst wenn wir Verluste bis zu diesem Zeitpunkt dazurechnen, waren nie mehr als 8 Millionen Soldaten gleichzeitig unter Waffen, d.h. 10 Prozent der Bevölkerung.

Heiko Steuer aber rechnet mit 20 Prozent – und kam so auf Zahlen, die nötig waren, um 3 Legionen (in einer offenen Schlacht?) zu besiegen. Und wenn man noch das
Und genau das, die in den vorhandenen Quellen über Segestes, Arminius usw. erkennbare Aufteilung in pro- und kontrarömische Lager wird nun zum Indiz für die eben nicht so geringe Bevölkerungs/Besiedlungsdichte: denn nur ein Teil - der kontrarömische - stellte die Truppen auf, die stark genug waren, die eigentlich technologisch überlegenen drei Varus-Legionen platt zu machen!
berücksichtig, dann war die Basis dieser Rechnerei noch kleiner als von Steuer gedacht.

auf den ersten Blick (sozusagen unsere Verhältnisse im Hinterkopf) scheint das zu hoch - aber was uns heute fremdartig vorkommt, ist das immense Prestige des Kriegers in den gentilen germanischen Gesellschaften. Und diese lebten noch nicht in arbeitsteiliger großstädtischer Kultur (für einen Römer gab es weitaus mehr Karriereoptionen als nur kriegerische) Insofern scheinen mir die Relationen den richtigen Trend zu verdeutlichen.
Trotzdem: Für einen Soldaten/Krieger gibt es eine natürliche Altersgrenze, die zu unter- oder zu überschreiten nicht mehr sinnvoll ist.

Aus römischer Sicht gab es an der germanischen Kultur sehr vieles zu bemängeln, die Sprache spielte da sicher die kleinste Rolle:

Es gab keinen Wein, es gab kein Olivenöl, ... keine Straßen, die römischem Standard entsprachen, keine Herbergen, die römischem Standard entsprachen, es gab keine Thermen, keine Theater, keine Bibliotheken.
Das ist wahr. Aber Römer sagten vermutlich wie die Griechen zu den einfallenden fremden Kriegern – und nur die kannten sie anfangs – gleich: Barbaren = „Stammler“, „Stotterer“, eigentlich: „br-br-Sager“.

Klar, später und eigentlich bis heute gilt der Begriff „Barbar“ für all jene, die auf einer „niedrigen“ kulturellen Stufe leb(t)en als Römer, Europäer, etc. Wir unterscheiden sogar im eigenen Land zwischen Kulturen – sonst gäbe es den Begriff „Hochkultur“ für bestimmte Arten von kulturellen Leistungen nicht.

In diesem Sinn hatten Germanen eine Kultur, die in der Lage war, sie nicht nur vegetieren, sondern wachsen zu lassen – trotz widriger klimatischer Verhältnisse! –, so dass sie den Römern von Anfang an Paroli bieten konnten.
 
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