Wie kann man dann sagen, dass Streicher juristisch eine Schuld am Holocaust trägt? Er hat den Holocaust nicht befohlen, er hat ihn nicht organisiert, er hat ihn nicht begangen.
Wenn man unterstellt, seine Hetze habe den Holocaust befördert, müsste man da ja wenigstens einen direkten Zusammenhang nachweisen. Ich vermute aber mal, auch ohne Streicher und den Stürmer wäre der Holocaust genau geschehen, wie er eben geschehen ist. Streicher mag ein sehr abstossender und widerlicher Hetzer gewesen sein, aber wegen ihm wurde sicher nicht der Holocaust verübt. Er war auch nur einer unter vielen anderen antisemitischen Propagandisten zur NS-Zeit, die Stimmung gegen Juden gemacht haben. Genauso hätte man z.B. Produzenten von antisemitischen Filmen in Nürnberg vor Gericht stellen können. Wie du schon geschrieben hast, wird auch widerlichen Machwerken wie "Jud Süß" oder "Der ewige Jude" nachgesagt einen breiten Einfluss gehabt zu haben.
Ich persönlich finde, man muss zwischen moralischer Bewertung und empfundener Abscheu gegenüber einer Peson einerseits und der juristischen Bewertung andererseits unterscheiden. Nur weil man einen ekelhaften Menschen wie Streicher gerne hängen sehen möchte, ist es deshalb nicht automatisch richtig ihn zum Tod zu verurteilen.
Obwohl ich als juristischer Laie mir da kein fachliches Urteil bilden kann, empfinde ich aus persönlicher Sicht das Todesurteil gegen Streicher für falsch, weil er wie bereits gesagt nicht aktiv am Holocaust beteiligt war, in keiner Form. Von allen anderen zum Tode verurteilten Angeklagten in Nürnberg hatte Streicher mit grossem Anstand den geringsten politischen/militärischen Einfluss auf die begangenen Verbrechen und keinerlei Machtfunktion.
Einer wie Speer hätte die Höchststrafe viel eher verdient als Streicher. Aber Speer konnte sich wohl einfach sehr geschickt als "edler Nazi" verkaufen, während Streicher als Person wohl als der Prototyp des widerlichen, unmenschlichen Nazis angesehen wurde, was vermutlich auch zu seiner Verurteilung mehr beigetragen hat, als seine tatsächliche persönliche Schuld an den geschehenen Verbrechen.
Dass Julius Streicher organisatorisch nichts mit dem Holocaust zu tun hatte und keinerlei administrative Verantwortung am Völkermord hatte, habe ich selbst in den Beiträgen '#164 und #166 geschrieben, auch dass in Relation Albert Speer vermutlich mehr zu verantworten hat. Was Streicher zu verantworten hatte, war seine Tätigkeit als jahrelang fast allmächtiger Gauleiter von Franken, in der er scham- und skrupellos sich durch Arisierungen ein Vermögen erwarb und eben die über 20 Jahre dauernde Tätigkeit als Herausgeber und Chefredakteur des Stürmer. Ein antisemitisches Hetzblatt wie den Stürmer hatte es weder davor noch danach jemals gegeben. In seiner Machart, seiner schwülen pornographischen Aufmachung und in seiner Radikalität gab es nichts vergleichbares, und die Töne, die Streicher spuckte, waren selbst der Mehrheit der Nazis zu radikal oder auch zu primitiv. Die Boykotte von April 1933 und selbst die Nürnberger Gesetze waren Julius Streicher noch zu lasch, und dass er sich in seiner Radikalität selbst dazu hinreißen ließ, Hitler zu kritisieren, trug letztlich zu seinem Sturz bei. Gut 90% des Inhalts des Stürmers machte antisemitische Hetze und Agitation aus, der Stürmer hatte kein anderes Thema als Ritualmord- und "Rassenschande". Immer wieder und immer wieder wurden Geschichten von vermissten und verschwundenen Kindern veröffentlicht, und immer wurden Juden dafür verantwortlich gemacht, und die radikalsten Demütigungen und Entrechtungen waren Streicher noch immer nicht radikal genug. In jeder Stadt, in jedem Dorf hing ein Schaukasten des Stürmer. Julius Streicher war nicht irgendein Antisemit und Hetzer unter vielen, er war
der Hetzer schlechthin. Es versteht sich eigentlich von selbst, dass eine solche Propaganda, seit 1933 auch nicht mehr zu Gegendarstellungen und Richtigstellungen gezwungen, nicht ohne Folgen bleiben konnte, zumal ab 1939 manche Stürmer-Leser plötzlich Herren über Leben und Tod wurden.
Das Todesurteil gegen Streicher mag man kritisieren können, ich glaube aber trotzdem nicht, dass irgendein Tribunal unter dem sehr frischen Eindruck der Shoah wesentlich milder geurteilt hätte. Dass ein Täter, der
nur andere aufhetzt, genauso hart verurteilt werden kann wie ein Täter, der eigenhändig zuschlägt und Feuer legt, ist auch heute noch Rechtspraxis der meisten Gerichte. Die Todesstrafe mag man grundsätzlich ablehnen, und ich finde, es wäre inkonsequent, wenn man sie selbst gegen Kindsmörder nicht anwenden will, im Fall von Nazis und Kriegsverbrechern aber kein Problem damit hat, wenn sie vollstreckt wird.
Wie auch immer, es ist an Julius Streicher jedenfalls kein Justizmord begangen worden, der so krass geltendes Recht verletzt hat, dass dadurch insgesamt die Legitimität der Nürnberger Kriegsverbrechertribunale so gründlich diskreditiert wurde, dass man von Schauprozessen und "Siegerjustiz" sprechen kann, bei der die Urteile von vornherein feststanden.