Ostfront 1914 nach Tannenberg

silesia

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Reine Spekulation? Wenn wie im konkreten Fall bei Lodz drei Viertel des Feindes (von schwachen deutschen Kräften) eingeschlossen sind, ist das keine reine Spekulation mehr. Und das ist wichtig. Denn es ist schon bemerkenswert, dass es die Deutschen nicht schafften, ihre eigenen Grundsätze anzuwenden. Die tieferen Gründe hierfür würden mich schon interessieren

Als aussichtsreichste Möglichkeit wird die gegen die im Weichselbogen eingeklemmte 2. Russische Armee geplante Operation bezeichnet, vgl. thread Marneschlacht #21,29. Die dahinterstehende grundsätzliche Frage war die, ob der Schwerpunkt im Westen verbleiben soll oder nach Osten verlagert wird.

Wer bezeichnet das so? Ludendorff in seiner Falkenhaym-Kritik?
Ich würde ja immer noch gerne über diese verpasste außerordentliche Gelegenheit aufgekärt werden, deshalb auch schon die Nachfrage beim Marne-Thema. Bislang ist da nichts gekommen. Immerhin sind wir jetzt im richtigen Thema.
Interressant wäre übrigens eine Präzisierung zur russ. 2. Armee


Ich würde gerne Näheres zum Ablauf wissen bzw. wer diese Meinung vertritt?

Bekannt ist mir Reichsarchiv, Band 5, in der Zusammenfassung mit Verweis auf die ominöse "Seite 432". Da steht dann nichts Zusammenhängendes zum Thema.


Weiterhin können hier die Reservezuführungen 1914 zum Osten bzw. der Streit hierüber behandelt werden. Die im September/Oktober 1914 hinzugetretene 9. Armee wurde aus Teilen der 8., im übrigen aus Reserveverbänden gebildet und stand am linken Flügel der Südfront. Für den 1.10.1914 habe ich aus der Hand folgendes Kräfteverhältnis:
Deutsche 20-21 Divisionen, Mittelmächte gesamt rd 70, Rußland >90
 
[FONT=&quot]Max Hoffmann, Krieg der verlorenen Gelegenheiten, S. 75 ff., beschreibt die Geschehnisse ausführlich, anschaulich und aus erster Hand.[/FONT]

[FONT=&quot] Es geht nicht darum, ob eine Gelegenheit verpasst wurde oder ob Ende 1914 die oder jene Einheit da oder dorthin verschoben wurden. Es geht um die grundsätzliche Frage, ob nach der Marneschlacht und nach den Erfahrungen von Ypern der Schwerpunkt nicht vom Westen in den Osten (mit dem Ziel der Vernichtung des russischen Heeres in Polen, d.h. die Frage stellte sich bis zum Großen Rückzug im Sommer 1915) verlegt wird. Damit war die Entscheidung verbunden, ob eine Ermattungsstrategie (im Westen) oder die (seit Jahrzehnten im Generalstab gelehrte) Umfassungsstrategie (im Osten) im Vordergrund stehen soll. Hier haben sich nach Ypern (diskutiert wurde dies bereits vorher, insbesondere Bethmann sprach sich früh für eine Schwerpunktverlagerung nach Osten aus) zwei Fraktionen gebildet, für die Ermattungsstrategie stellvertretend Falkenhayn, für die Umfassungsstrategie Hindenburg/Ludendorff. Eine Umfassungsstrategie war nur im Osten noch möglich, da hier Raum und freie Flügel zum Umfassen vorhanden waren. Die von Falkenhayn gewählte Strategie (die auch die Strategie der Westalliierten war) gab dem 1. Weltkrieg sein Gepräge, das Verheizen von Menschen in letztlich aussichtslosen Angriffsoperationen (pervertiert in Verdun, da ging es gar nicht mehr um den Angriff der Deutschen, sondern den Gegenangriff der Alliierten, die darin verbluten sollten). Als die 3. OHL eingesetzt wurde, waren alle Möglichkeiten einer Umfassung vorbei.[/FONT]

[FONT=&quot] Im November 1914 spitzte sich die Frage zu, ob die Entscheidung im Westen zu suchen sei und die Ostfront dem Westheer den Rücken freihalten solle oder ob die Entscheidung im Osten zu suchen sei. Zwischen Krakau und Thorn schieben sich vier russische (1., 2., 4., 5.) Armeen und Teile einer fünften, insgesamt fast vierzig Infanterie- und zehn Kavalleriedivisionen an die Reichsgrenze heran, um in die Provinzen Posen und Schlesien einzufallen. Für eine reine Verteidigung waren die Deutschen zu schwach, die Linie würde zu dünn, sie müssen angreifen. 250.000 Deutsche stehen 600.000 Russen gegenüber. [/FONT]

[FONT=&quot]Zu dieser Zeit kämpft man in Ypern – laut Falkenhayn „aussichtsreich“ – ohne auch nur Anfangserfolge zu erringen. Als man am 03.11.1914 im Osten mit der Verschiebung der 9. Armee beginnt um die Angriffsoperationen zu eröffnen, setzt Falkenhayn im Westen seine letzten Reserven ein. Das Reichsarchiv V S. 562 f. meint, Falkenhayn hätte nach der Nachrichtenlage am 04.11.1914 die Schlacht bei Ypern abbrechen und am selben Tag Truppen nach Osten verschieben müssen. Verteidiger von Falkenhayn tragen vor, dass bis zum 09.11.1914 die Meldungen von Oberost nicht klar genug die enorme Chance im Osten schilderten. Aber am 11.11.1914, ein Tag nach Langemarck, gab es eine Debatte „mit erregten Worten“ zwischen OHL und Oberost. Das Reichsarchiv schreibt hierzu: „Das, was der Vertreter der OHL über die Kämpfe in Flandern berichtet, zeigte….zum ersten Male, dass es dort seit Monaten nur noch um örtliche Erfolge ging.“ Spätestens an diesem Tag war es evident, dass es sinnvoll war Truppen nach Osten zu verschieben. Dort konnte man mit dem Angriff nicht länger zuwarten, da man aufgrund der Unterlegenheit auf die Überraschung angewiesen war. Die bloße Zahl der Soldaten ist aber nicht alles – wie bei Tannenberg bewiesen wurde. Die Operation bei Lodz war wie eine Blitzkriegsoperation, nicht mit Panzern, sondern mit Zügen. Das Eisenbahnnetz wurde ideal genutzt. Die Überraschung gelang vollkommen. So konnte die 2. k.u.k. Armee Böhm-Ermolli, stationiert in den Karpaten, unbemerkt per Eisenbahntransport annähernd 300 km verschoben werden und nahm die vorherige Position der 9. Armee ein. Die Spitze der 9. Armee, die unbemerkt östlich von Posen steht, gehen südostwärts nach Innerpolen, drehen nach Süden, lassen Lodz im Westen liegen und durchtrennen die russischen Versorgungs- und Rückzugslinie. Sieben russische Korps sind auf drei Seiten umstellt, die Angriffsspitzen sind dabei, die vierte Seite zu schließen. Ein Über-Tannenberg steht bevor. Da wird bei Brzeziny die Spitze, das 25. Reservekorps, die 3. Gardedivision Lietzmann und das Kavalleriekorps Richthofen vorübergehend abgeschnitten. Sie können sich selbst wieder befreien konnten, aber die Operation kann nicht mehr zu Ende geführt werden. [/FONT]

[FONT=&quot]Die benötigten Reserven standen in Flandern. Dabei hat Falkenhayn die Ypernschlacht nicht aus eigenem Entschluss, sondern auf Befehl Wilhelms (Reichsarchiv VI S. 21 f.) eingestellt (die Ypernschlacht wurde von Falkenhayn mit einem Verlust von 100.000 Mann zu der Zeit abgebrochen als die Russen die Flanke von Mackensens 9. Armee angriffen). Auch in der Armeeführung (außer Falkenhayn und Tappen) sah man die Aussichtslosigkeit der Kämpfe um Ypern. Als die Aktionen dann doch eingestellt und die freiwerdenden Kräfte ab Dezember nach Osten verschickt wurden, war es zu spät. [/FONT]

[FONT=&quot]Nach Hoffmann, S. 84 hätte man bei einer konsequenten Schwerpunktverlagerung nach Osten zusätzlich zu dem Umfassungsangriff bei Lodz einen Vorstoß in Richtung Warschau unternehmen können, da alle stärkeren russischen Kräfte vom nördlichen Weichselufer zur Abwehr des Angriffs der 9. Armee auf das südliche gezogen wurden. Die 1., 2. und 5. russische Armee (etwa 600.000 Mann mit Material, mehr als ein Viertel der russischen Armee) wären von ihren rückwärtigen Verbindungen abgeschnitten worden. [/FONT]
 
[FONT=&quot]Max Hoffmann, Krieg der versäumtenGelegenheiten, S. 75 ff., beschreibt die Geschehnisse ausführlich, anschaulich und aus erster Hand.[/FONT]

Nach Hoffmann, S. 84 hätte man bei einer konsequenten Schwerpunktverlagerung nach Osten zusätzlich zu dem Umfassungsangriff bei Lodz einen Vorstoß in Richtung Warschau unternehmen können, da alle stärkeren russischen Kräfte vom nördlichen Weichselufer zur Abwehr des Angriffs der 9. Armee auf das südliche gezogen wurden. Die 1., 2. und 5. russische Armee (etwa 600.000 Mann mit Material, mehr als ein Viertel der russischen Armee) wären von ihren rückwärtigen Verbindungen abgeschnitten worden. [/FONT]

Ich frage mal vorsichtig nach, bevor ich auf den "Verschiebebahnhof" eingehe: Die Abstützung auf die Publikation der frühen 20er Jahre der Ost-Generalität von 1914 (Operationschef 8. Armee), mit der im Nachgang der Krieg auf dem Papier gewonnen wurde, soll wohl ein Witz sein?
 
Wenn man außerdem die Verfassung der russischen Streitkräfte bedenkt, so wie sie sich bei Tannenberg und auch später wiederholt an der Ostfront zumindest gegenüber deutschen Verbänden zeigten, erscheint der Erfolg einer solchen Operation auch durchaus realistisch gewesen zu sein.
Allerdings ist man hinterher immer klüger. Falkenhayn und andere glaubten ebenso wie zahlreiche Führer auf seiten der Westallierten, dass die Entscheidung in Frankreich und Belgien fallen müsse. Man hat sich auf deutscher Seite sicherlich auch noch an Napoleon erinnert: dem war es nach einer Reihe von Erfolgen sogar gelungen, Moskau zu erobern...und dann brach doch noch alles zusammen. Würden deutsche Erfolge in Russisch-Polen und Galizien wirklich den Krieg entscheiden? Rußland ist einfach geographisch gesehen zu groß und verfügt über zu viele Ressourcen, um durch ein paar militärische Erfolge besiegt zu werden. Das war jedenfalls die Botschaft von 1812, warum sollte das aus Sicht der damaligen Zeitgenossen 1914/15 anders sein? Aber wie der weitere Verlauf der Operationen und Geschehnisse dann 1915 und 1916/17 zeigte, war es diesmal eben doch anders...
 
[FONT=&quot]... insbesondere Bethmann sprach sich früh für eine Schwerpunktverlagerung nach Osten aus[/FONT]
1.
Bethmann schreibt (Betrachtungen zum Weltkriege, 2. Teil, S. 11):
- "Überhaupt ist während meiner gesamten Amtstätigkeit keine Art von Kriegsrat abgehalten worden, bei dem sich die Politik in das militärische Für und Wider eingemischt hätte". (S. 7) "Unmöglich konnte sich der militärische Laie anmaßen, militärische Möglichkeiten, geschweige denn militärische Notwendigkeiten zu beurteilen." (S. 9)
Bethmanns Satz "Da der russische Raum militärisch nicht bezwungen werden kann..." (S. 11) erweckt nicht den Eindruck, als hätte er eine Entscheidung im Osten für möglich gehalten.

2.
Hindenburg (Aus meinem Leben, S. 121) setzt sich mit dem Argument auseinander, "dass der Russe jederzeit imstande sein würde, sich im Falle der Not in die sogenannte Endlosigkeit seines Reiches so weit zurückzuziehen, daß unsere operative Kraft im Nachfolgen erlahmen müsste".
Diese Anschauung jedoch befinde sich "allzusehr im Banne der Erinnerungen an 1812" und trügen "der inzwischen eingetretenen Entwicklung und Änderung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse des inneren Zarenreiches - ich erinnere besonders an die Eisenbahnen nicht genügend Rechnung." Napoleon habe "nur einen verhältnismäßig schmalen Keil in das weite, dünn bevölkerte, wirtschaftlich primitivere, innerpolitisch noch völlig unerweckte Rußland getrieben. Wie ganz anders sprach sich eine breite, moderne Offensive aus; welche ganz andere innerstaatliche Verhältnisse mußte sie jetzt auch in Rußland vorfinden?"
Offensichtlich spekulierte Hindenberg in entscheidendem Maße mit den "inneren Verhältnissen" Rußlands - berechtigt oder nicht? Er hat dankenswerterweise "die nachträgliche sachliche Entscheidung der gelehrten Kritik der Nachwelt" überlassen, d. h. diesem GF. ;)
 
Rückschauend wäre wohl ein großer Erfolg im Osten möglich gewesen. Aber genauso wie bei den Fehlern im Westen gibt es zwei Fragen:

  1. Wie groß wäre der Erfolg ohne die Fehler ausgefallen?
  2. Welche Auswirkungen hätte ein Erfolg gehabt?

Im Osten heißt das, wären die russischen Truppen wirklich aus dem Kampf genommen worden oder hätten sie (mit entsprechenden Verlusten) noch entkommen können? Welche Truppen hätten den Mittelmächten anschließend zur Verfügung gestanden?*

Und wie wäre es nach einem solchen Sieg weiter gegangen? Hätte Russland einen Frieden angeboten oder hätte mit entsprechendem Aufwand die Weite Russlands erobert werden müssen (ansonsten hätten die Engländer und Franzosen nach ein paar Monaten wieder Hilfe von frischen russischen Divisionen kriegen können)? Denn auch der Verlust in Polen hätte die Truppen an der galizischen Front nicht berührt, ein immer noch gewaltiger Machtfaktor. Und wenn es nur Truppen gebunden hätte...

Gibt es zu diesen beiden Fragen auch Antworten im zitierten Buch?

Solwac

*vergleichbar mit den Frühjahrsoffensiven 1918: Die Angriffe gelingen und trotzdem werden dabei wertvolle Spezialisten getötet und der Nachschub und die Reserven können nicht schnell genug vorrücken. Der Erfolg hätte daher noch deutlich größer ausfallen müssen um zu nutzen.
 
Ich mag mich irren, aber zunächst einmal dürfte doch Einigkeit darüber herrschen, daß es im Kriegsjahr 1914 bis einschließlich der Schlacht an den Masurischen Seen (06./14.09. 1914) noch darum ging, die Russen aus Ostpreußen zu vertreiben etc. - zumal am 25.09. 1914 sich die russische Front wieder stabilisieren konnte. Selbst wenn man die Schlacht um Łódź (11.11./05.12. 1914) als deutschen Erfolg zu werten bereit ist (wie es Ludendorff tat) - anstatt als Unentschieden mit einem Ausgang, der für die Deutschen etwas besser war als für die Russen -, waren sich die Erfolge nicht gerade geeignet, eine derart notwendige Entscheidung herbeizuführen.

Und es ist ja nun auch nicht so, daß man im Osten keine Entscheidungen suchte, um die russischen Armeen zu vernichten und somit die russische Front zum Zusammenbruch zu bringen - ich nenne dazu nur einmal die Winterschlacht in Masuren (07./22.02. 1915) (hier gab es das Ziel, einen Durchbruch der russischen Front zu erreichen, was allerdings nicht gelang) und die Schlacht von Gorlice und Tarnov (Mai 1915), wo man vor allem letztgenannte Schlacht als großen Erfolg bezeichnen kann und muß. Aber selbst mit jener Durchbruchsschlacht im Mai 1915 war trotz massiver russischer Verluste und darauffolgendem weiträumigen russischen Rückzug dennoch kein Zusammenbruch der russischen Front gelungen. Im Gegenteil: Im Jahr 1916 war der Bewegungskrieg der ersten beiden Kriegsjahre vorüber, und es konnten die russischen Armeen sogar wieder offensiv werden - z.T. sogar erfolgreich (Brussilov 1916), wenn auch v.a. gegen die österreichisch-ungarischen und nicht gegen die deutschen Armeen.

Und was bei diesem Verlauf nicht unterschlagen werden darf: Es war nicht einfach nur die schlechte Verfassung der russischen Armeen, welcher sich die Deutschen gegenübersahen, sondern zudem auch ganz handfeste taktische und strategische Fehler der russischen Militärführung und Generalität.
 
Die Mittelmächte standen sowohl im Westen wie im Osten einem Gegner gegenüber, der ständig stärker wurde.

Die "Überlegenheit der Defensive" war den Kriegsgegnern noch nicht so sehr klar. Das geschah doch eigentlich erst beim "Wettlauf zum Meer".

Auch den Russen muss man ja schließlich eine gewisse Lernfähigkeit unterstellen.

OT: Der weiter oben genannte General Litzmann (ohne e) machte noch bei den Nazis Furore. Lodz trug nach ihm während der Besatzungszeit im 2. WK den Namen Litzmannstadt.

OT, OT:
Ich lese hier immer mal wieder von "verpassten Gelegenheiten" als der und jehner General den Krieg fast allein gewonnen hätte, tja, wenn der Hund nicht gekackelt hätte......:grübel:
Eigentlich nie vom umgekehrten Fall.

Ist den Diskutanten eigentlich zB klar, was im Frühjahr 1915 passiert wäre, wenn der Bülow in Rom nicht durch überaus zähe Verhandlungen die Italiener 4 Wochen vom Kriegseintritt hätte abhalten können?
Nur schlecht war die deutsche Diplomatie nämlich auch nicht.
 
1.
Bethmann schreibt (Betrachtungen zum Weltkriege, 2. Teil, S. 11):
- "Überhaupt ist während meiner gesamten Amtstätigkeit keine Art von Kriegsrat abgehalten worden, bei dem sich die Politik in das militärische Für und Wider eingemischt hätte". (S. 7) "Unmöglich konnte sich der militärische Laie anmaßen, militärische Möglichkeiten, geschweige denn militärische Notwendigkeiten zu beurteilen." (S. 9)

Ein völlig berechtigter Hinweis.

Die politische Führung wurde unvollständig informiert, und war überhaupt nur höchst begrenzt zu eigenen Urteilen in der Lage. Das gilt umso mehr im Rückblick, ohne militärische Aktenlage.


Für die militärische Elite stand im November 1918 die Katastrophe fest, unter dem Vorzeichen, dass der deutsche Generalstab des Juli 1914 doch "den Schlüssel zum Sieg" gehalten habe, in Form des Schlieffen-Planes. Das vergrößerte die Katastrophe: was war passiert, wie konnte es geschehen? Nur am Rande: die Unmöglichkeit eines Sieges im Osten wurde bereits vor dem Krieg als Prämisse gesetzt, ebenso die Unmöglichkeit eines Zweifrontenaufmarsches West+Ost, sowie die Unmöglichkeit eines Ermattungskrieges. Erstaunlicherweise galt das nicht mehr 1919, man war nun seit 1917 schlauer. Die Voraussetzungen zum russischen Zusammenbruch - und es lag zwischen Kriegsausbruch und 1917 eine ganze Menge und ein langer Weg des Siechtums - wurden flugs vorverlegt: ein paar kleine Schläge hätten 1914 doch ausreichen müssen.

Im Angesicht der Katastrophe 1919 exkuplierten sich nun die militärischen Eliten (man muss wohl nachträglich sagen: zeitgenössisch erfolgreich) literaisch. Nahezu jede maritime Konstellation und vor allem jede große Operation wurde so und nun auf dem Papier nachträglich gewonnen.
@admiral zitiert hier ja seit geraumer Weile diverse Memoiren. In diesem Geiste gelang damals die Vergangenheitsbewältigung und die Vernebelung der übrigen Volksgenossen, die sich fleißig auf das Studium der Heftchen und der vielen Buchauflagen stürzten: der Schlieffen-Plan scheiterte auf dem Papier letztlich an einzelnen persönlichen Fehlleistungen und Versagen, die Politik war ohnehin schuld, Geld hatte es nicht ausreichend vorher zwecks ein bißchen "Mehr"-Rüstung gegeben, die Skaggerak-Schlacht - mit Rangierleistungen eines Scheers, für die er in Friedenszeiten gefeuert worden wäre - wurde so ein Sieg, ganz abgesehen von den übrigen "verpaßten Gelegenheiten" und dem entrissenen Versuch zum Untergang. Immerhin gelang es der Flotte wenigstens zum Schluss, sich selbst zu versenken.

Der verlorene Krieg wurde so auf dem Papier tausendfach gewonnen, manche verloren sogar offensichtlich über diesen Sieges-Analysen den Verstand. Die Katastrophe statt des klar greifbaren Sieges wurde schließlich zum Gegenstand okkulter Überlegungen, göttlicher Prüfungen des deutschen Volkes usw. Der literaische Sieg über die verdrängte Niederlage wirkt bis heute über die Antiquariate vielfach überzeugend, leider.


_______
Am Rande zum Reichsarchiv: eine gefährliche Mischung aus Fakten und Spekulationen zu Handlungsalternativen, eine Mischung aus Detailwissen zur eigenen Lage und Ausstattung, und bestenfalls Halbwissen bzw. Irrtümer zur Gegenseite. Man sollte diese Tretminen beachten, insbesondere Spekulation von Fakten unterscheiden. Ebenso das Marinearchiv: größtenteils veraltet, unvollständig, in den Erläuterungen tendenziös.


Ein Beispiel aus diesem Werk, der Mischung von Fakten und erklärenden Spekulationen:
"Entscheidende Angriffserfolge sind aber nicht mehr erzielt worden. Auch im Osten machte sich in zunehmenden Maße fühlbar, dass Angriffe nur noch langssam vorwärts kamen. ...Auch bei russischer Unterlegenheit an Zahl ist es nur selten gelungen, den Angrioff im Laufe eines kurzen Wintertages so weit zu fördern, dass die Umfassung zur Vernichtung des Feindes führte, und das trat naturgemäß um so mehr in Erscheinung, je größer die Gesamtausdehnung der Schlacht wurde. Auch in schwierigster Lage vermochte der Feind lange auszuharren und sich ihr schließlich doch noch durch nächtlichen Abzug zu entziehen. Es ist nie gelungen, solochen Abzug zu hindern, es ist nicht einmal der fall bekannt, wo er auch nur rechtzeitig erkannt und gemeldet worden wäre. Der Gegner ist daher fast stets ohne entscheidende Einbuße entkommen. Der Kampf zeigte jetzt auch im Osten andere Formen als bei Kriegsbeginn."
Reichsarchiv 6, S. 268.

Logisch, dass solche Zeilen in den übrigen Siegesanalysen oder Alternativwelten der Memoiren untergingen bzw. kaum beachtet wurden.

Nur am Rande, einige Seiten zuvor wird im gleichen werk des Generalstabes:
a) die große Umfassungsschlacht zwischen Weichsel/Warschau und Karparten (!!) als gewinnbar hingestellt, man hätte sie nur kommen lassen müssen - Moltke I bzw. Schlieffen II
b) das Ganze noch im Winter 1914/15
c) reichten dazu zwei Dutzend mehr deutsche Divisionen aus.
(Raumpatrouille Orion ist da realistischer :D )
 
Zuletzt bearbeitet:
Nur am Rande, einige Seiten zuvor wird im gleichen werk des Generalstabes:
a) die große Umfassungsschlacht zwischen Weichsel/Warschau und Karparten (!!) als gewinnbar hingestellt, man hätte sie nur kommen lassen müssen - Moltke I bzw. Schlieffen II
b) das Ganze noch im Winter 1914/15
c) reichten dazu zwei Dutzend mehr deutsche Divisionen aus.
(Raumpatrouille Orion ist da realistischer :D )


Dem kann man wirklich nur im vollem Umfang zustimmen.
Durch den ganzen 1. Weltkrieg ziehen sich die Punkte, wo alles schief gehen hätte können, eigentlich kann man fast sagen, hätte schief gehen müssen.
Den Kriegseintritt Italiens ein paar Wochen früher habe ich schon genannt, was wäre geschehen, wenn die Italiener irgendwann am Isonzo durchgebrochen wären?, die Dardanellen durchbrochen worden wären, Skagerrak verloren worden wäre?

Die Frage ist nun wirklich nicht, wann wo durch wessen Versagen wurde verloren,
die Frage ist, wie haben die das so lange geschafft?
 
Als Kriegsminister "Haldane" 1912 nach den gescheiterten Verhandlungen mit dem DR nach London zurück kehrte und feststellte, dass die rechte Hand nicht wisse, was die linke tun würde, hatte er das Dilemma des DR am Vorabend des WW1 absolut zutreffend beschrieben.

Das Chaos an unterschiedlichen, rivalisierenden Planungsalternativen hatte System im DR und basierte nicht zuletzt auf den teilweise egomanisch-veranlagten Persönlichkeiten der damaligen Zeit.

1. Kisenfaktor: Das "persönliche Regiment" von Wilhelm II sorgte dafür, dass zu keiner Zeit eine koordinierte Planung der Diplomatie, des Heeres und der Marine vorlag. Vor diesem Hintergrund ist es unverständlich aber auch nachvollziehbar, dass wichtige Schritte im Rahmen der Mobilmachungsplanung und des Kriegsbeginns nicht allen Beteilgte bekannt waren, wie da wären die Bedeutung der frühestmöglichen Eroberung von Lüttich (mit der Konsequenz der Erzwingung der frühzeitigen Kriegserklärung durch England). Es war aber auch die Unfähigkeit von Wilhelm II sich gegenüber von Moltke duchzusetzen. Es war nicht alleine Bethmann Hollweg, der sich gegen die "Westvariante" ausgesprochen hat, sondern ebenfalls Wilhelm II - assistiert von Tirpitz - und in diesem Zusamenhang sind dann auch die Worte gefallen, nach der Weigerung von Moltke die Generalstabsplanungen umzustellen, "Ihr Vater hätte mir eine andere Anwort gegeben". An diesen Beispielen wird sofort deutlich, dass es keinen eindeutigen politischen Willen gab, der sich verbindlich auf die militärische Führung auswirkte.

Die gesamte Planung im Rahmen des Schlieffenplanes wirkt umso befremdlicher als es Hinweise gibt, dass sowohl Moltke als auch Falkenhayn nicht von einem kurzen Krieg ausgingen, sondern von einem relativ langen Kriegsverlauf. Da wirkt es umso unverständlicher, dass sie nicht im Westen die "Ermattungsvariante" gegen Frankreich gesucht habe, um im Osten aktiv Russland zu schlagen.
Eine Variante, die eine Verzögerung des Kriegseintritts Englands oder sogar ein komplettes Fernhalten vom Konfikt hätte bewirken können.

2. Krisenfaktor: Die Marine plante ihren eigenen "netten" Krieg um endlich ein "Platz an der Sonne" zu erhalte und hatte ein ausreichend hohes Provokationpotential aufgebaut, um sicher zustellen, dass England auch in Erwägung zieht, gegen das DR Krieg zu führen.

Anstatt die eigentlinch ihr gestellte Aufgabe zu lösen, den Nachschub an Material und Truppen von England nach Frankreich zu unterbinden und den Erfolg des Schlieffenplanes zu unterstützen, machte sie sich lieber Gedanken über das "Freikämpfen" der Zufahrtswege in den Atlantik. Eine geradezu merkwürdige Idee angesichts der zunehmenden Bedeutung des Minen- und des U-Boot-Krieges.

3. Krisenfaktor: Der Schlieffenplan und seine unseligen Folgen für die Verletzung der Neutralität Belgiens und dem Eintritt von England in den Krieg. Die Durchführung und der Zeitplan war bis kurz vor dem Ausbruch des WW 1 Bethman Holwig nicht bekannt, umso überraschter war er, dass der zeitliche befristete Handlungsspielraum für die Beherrschung der "Juli-Krise" extrem knapp bemesse war.

4. Krisenfaktor: Die Außenpolitik von Bethmann Holweg, die sich auf die Stabilisierung von Ö-U richtete und auf die Erhaltung der Hegemonie über den Balkan. Dass er dabei wirtschaftliche Intersse im Hinterkopf hatte, die sich in Richtung Türkei orientierten ist sicherlich auch soweit dokumentiert.

Zusammenfassend kann man sagen, dass eigentlich jedes relevante Machtzentrum im DR einen Krieg in eine andere Hauptkonfliktachse geführt hat. Wilhelm II hatte keinen wirklichen Plan, die Marine gegen die Weltmacht England zu Wasser, das Heer gegen Frankreich zu Lande und die Politik gegen Russland auch zu Lande.

Der einzige, der einigermassen "unbeschädigt" - aufgrund einer rationalen Politikformulierung - aus dieser Situation hervogegangen ist, erscheint mir der Reichskanzler zu sein. Ob es sinvoll war, den Balkan als Prüfstein für die Kriegsbereitschaft Russlands zu benutzen sei dahingestellt, aber seine Zielsetzung, Ö-U durch einen diplomatische Gewinn als europäische Großmacht an der Seite des DR zu stabilisieren, war absolut sinnvoll und nachvollziehbar. Die "Riezlersche Risikotheorie" suggerierte die Beherrschbarkeit der Situation, allerdings kannte man nicht den Zeitplan des Generalstabs.

Insgesamt erscheint es mir angesichts dieser schwer zu verstehenden Zersplitterung des Potentials des DR zu Beginn des WW I wenig hilfreich, nachträglich im Rahmen von Rechtfertigungs-Memoiren, den WW 1 doch noch gewinnen zu wollen.

Mit dem Eintritt von England war er verloren, da es keinen realistischen Plan von Seiten des DR gab, diesen Krieg zu beenden.
 
Zuletzt bearbeitet:
Der verlorene Krieg wurde so auf dem Papier tausendfach gewonnen, manche verloren sogar offensichtlich über diesen Sieges-Analysen den Verstand.
Ein notwendiger und richtiger Rundumschlag.:winke:
Damit aber die Diskussion nicht gleich wieder verödet, hier der schüchterne Versuch einer Gegenrede:

Auch Leute mit Verstand haben Erwägungen über die Lage im Herbst 1914 angestellt, z. B. Kielmannsegg (Deutschland und der erste Weltkrieg, S. 71):
"Trotzdem stellt sich die Frage, ob der Generalstabschef nicht die Chance eines bedeutenden Sieges über die Russen aus der Hand gab, als er trotz der Einsicht, im Westen strategisch gescheitert zu sein, den Entschluß faßte, Ypern noch einmal anzugreifen, und sich damit die Möglichkeit nahm, die Offensive im Osten rechtzeitig und ausreichend zu unterstützen."
Sicher - von Entscheidung oder Vernichtung ist hier nicht die Rede. Gemeint ist wohl eher die Chance, Rußland so starke Verluste zuzufügen, dass die dortige Kriegspartei geschwächt würde. Falkenhayn hat diese Alternative nach allem, was man weiß, mehrere Tage lang erwogen.

Die Durchführung und der Zeitplan war bis kurz vor dem Ausbruch des WW 1 Bethman Holwig nicht bekannt. ... Der einzige, der einigermassen "unbeschädigt" - aufgrund einer rationalen Politikformulierung - aus dieser Situation hervogegangen ist, erscheint mir der Reichskanzler zu sein.
Auch hier d'accord. Ich habe allerdings Probleme, Bethmanns positive Bewertung nachzuvollziehen. Die strategische Idee war ihm seit 1909 bekannt; dass der Durchmarsch durch Belgien hiernach unbedingt notwendig sein würde, spätestens seit 1912 (Fischer, Krieg der Illusionen, S. 566); dass "die Chancen in dem Ringen gegen eine gewaltige zahlenmäßige Übermacht allein von äußerster Geschwindigkeit unseres Handeln abhingen", schreibt er selbst (aaO, 1, S. 156). Und wenn es so war, dass ihm wichtige Detailinformationen fehlten, dann hat er seine Holschuld mindestens in dem Maße nicht erfüllt wie die Militärs ihre Bringschuld, d. h. er ist insoweit seiner Verantwortung, die er als Leiter der deutschen Politik hatte, nicht gerecht geworden.

Das Chaos ... basierte nicht zuletzt auf den teilweise egomanisch-veranlagten Persönlichkeiten der damaligen Zeit.
Dass Falkenhayn ein halber Autist war, kann man auch bei seinem Biographen Afflerbach nachlesen. Die technischen Probleme der Kommunikation kamen noch verschärfend hinzu.
 
Das militärisch beherrschende Merkmal des 1. WK ist die "Überlegenheit der Defensive" ein Fakt, der keiner der kriegführenden Mächte im Juli/August 1914 bekannt war.

Im anderen Fall hätten die Deutschen selbstverständlich von der Schweizer Grenze bis zur Luxemburger Grenze Stacheldraht gezogen, ordentlich MG´s dahinter, die Franzosen ruhig kommen lassen, und sich der Russen angenommen.
Aber man wusste es nicht. Man ging von der "Überlegenheit der Offensive" aus, die Franzosen wie die Deutschen, die Engländer und alle anderen.
Richtig herauskristallisiert hat sich die "Überlegenheit der Defensive" erst in den Herbstschlachten in Flandern, dem "Wettlauf zum Meer".
Für Eure Überlegungen wäre also entscheidend: Wann wusste Falkenhayn dies? Am 1. November oder am 10. November 1914? Wann war ihm dieser Fakt glaskarl bewusst, so glasklar, dass er zur Entscheidungsfindung dienen konnte?

Überhaupt die eigentlich immer am schwersten zu beantwortende Frage, wenn man historische Vorgänge und die Handelnden bewerten will:
"Wann wusste wer was"
Und da es hier ja zweifelsfrei um Tage geht, denke ich, Ihr könnt das vergessen. Werdet zu keinem objektivem Urteil kommen.

Falkenhayn ein "halber Autist"?
Wäre in der Weltgeschichte aber beispiellos, dass ein ganzer oder auch halber Autist Kriegsminister geworden wäre.
Nun ist die Welt ja ein Dorf, zufällig kannte ich ein paar, die wiederum Falkenhayn´s Sohn kannten. Und der wurde nun ganz anders geschildert, Lebemann, Herrenfahrer, Frauenfahrer, bekannt mit allen Stars und Sternchen der 20er und 30er.
Historisch keine Relevanz, aber die obige Aussage auch nicht.
 
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Das militärisch beherrschende Merkmal des 1. WK ist die "Überlegenheit der Defensive" ein Fakt, der keiner der kriegführenden Mächte im Juli/August 1914 bekannt war.

@Repo, das ist vollkommen richtig und widersprach den allgemeinen Doktrinen ala "Immer feste druff..." Die Militärs, ohne meist konservativ und nicht gerade hochgebildet, haben schlichtweg ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Der Amerikanische Sezessionskrieg und der Russisch-Japanische-Krieg kannten nämlich durchaus schon den langwierigen Stellungskrieg mit allen Pervertierungen. Setzen Sechs, Herr General...
 
...., haben schlichtweg ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Der Amerikanische Sezessionskrieg und der Russisch-Japanische-Krieg kannten nämlich durchaus schon den langwierigen Stellungskrieg mit allen Pervertierungen. Setzen Sechs, Herr General...

Na ja, eine 6 wuerde ich vielleicht nicht vergeben. Der Sezessionskrieg war ja trotz allem noch ein Bewegungskrieg, aber genau wie der Russisch-Japanische weit weg von Europa. Die letzten Kriege in Europa waren ebenfalls noch von Offensive und Bewegung geprægt. (1866 und 70/71, aber auch auf der Krim z.B.)
Insofern kann man es durchaus verstehen, dass eine solche Neuerung, sprich "Defensive ist stærker", in den Køpfen der Militærs schlicht nicht vorhanden war. Sie war in diesem Ausmass vollkommen NEU und EINMALIG in der Militærgeschichte. Das es wirklich einen jahrelangen Patt mit durchgængigen Græbensystemen ueber viele 100 km geben wuerde, war meiner Meinung nach nicht vorhersehbar. Schon gar nicht, dass dagegen kein Kraut gewachsen war. Der WW II sah ja auch schon wieder anders aus.
Schlechte Noten kann man vergeben, dies wæhrend des Krieges nicht erkannt zu haben, oder, schlimmer, trotz dieser Erkenntnis so weiterzumachen wie bisher. Wo waren die Strategien und Taktiken dagegen?
Wenn was kam, dann ja erst gegen Ende des Krieges.

Wære mal eine spannende Frage, wie sich ein Friedrich der Grosse oder ein Napoleon der Sache angenommen hætte....

Gruss, muheijo
 
Zuletzt bearbeitet:
Der Sezessionskrieg war ja trotz allem noch ein Bewegungskrieg, aber genau wie der Russisch-Japanische weit weg von Europa.
Die Distanz zwischen Richmond und Washington D.C. beträgt, habe extra gerechnet, lächerliche 154 Kilometer. Spätestens nach Cold Harbour 1864, als dem großen Ulysses Grant nix anderes einfiel, als seine Blauröcke frontal auf die gut verschanzten Konföderierten loszulassen und in einer halben Stunde über 7000 Mann verlor, wer es aus mit Bewegungskrieg.
Marx und Engels haben die Ereignisse sehr genau beobachtet und sich in vielen Briefen und Londoner Zeitungsartikeln dazu geäußert. Sie erkannten das veränderte Wesen des Krieges, bei dem Industrie- und Menschenpotential sowie Moral wichtigste Faktoren sind und es fast unmöglich ist, einen eingegrabenen Gegner aus der Stellung zu werfen. Das hätte man auch in den Generalstäben Europas sehen müssen.
 
Auch Leute mit Verstand haben Erwägungen über die Lage im Herbst 1914 angestellt, z. B. Kielmannsegg (Deutschland und der erste Weltkrieg, S. 71):
"Trotzdem stellt sich die Frage, ob der Generalstabschef nicht die Chance eines bedeutenden Sieges über die Russen aus der Hand gab, als er trotz der Einsicht, im Westen strategisch gescheitert zu sein, den Entschluß faßte, Ypern noch einmal anzugreifen, und sich damit die Möglichkeit nahm, die Offensive im Osten rechtzeitig und ausreichend zu unterstützen."​


Natürlich, und die offene Fragestellung ist eine seltene, zu würdigende Ausnahme.

Zur schwierigen Bewertung:

1. Zunächst ist die Frage des Rangierbahnhofs West/Ost abhängig von den damaligen Lageinformationen. Hier gab es Widersprüchlichkeiten, auch die parallel erfolgte allierte Konzentration am äußersten rechten deutschen Flügel ist erst mit Beginn voll erkannt worden.

2. Der Oktober 1914 (1. Flandernschlacht) könnte als Idee des Mini-Sichelschnittes charakterisiert werden. So schlecht ist das nicht gedacht, um die erstarrenden Fronten durch ein Abschneiden und Andrücken an die Kanalküste zu vermeiden. Der Jubel wäre sicher gewesen, hätte es geklappt. Vorherige Kräftedispositionen während des Wettlaufes zum Meer/zur Kanalküsten waren dagegen illusorisch (das zeigen auch die darüber nahezu ausgebliebenen "Diskussionen"), die zugeführten Kräfte waren vielmehr erforderlich, um die drohenden Umfassungen des rechten Flügels zu verhindern.

3. Die Kräftedisposition bezieht sich also - nur! - auf die 4 neu aufgestellten (noch nicht fertigen?) Reservekorps der 4. Armee. Diese hätten prinzipiell während des Oktober auch in den Osten verschoben werden können. Weitere Kräfte waren nicht verfügbar, wie die fast aussichtslosen Versuche zeigten, von den übrigen Westarmeen eingefahrene Divisionen für die Flandernschlacht abzuzweigen. Hier waren faktisch Fesselungen gegeben.

4. Anschließend wäre die Frage, was diese 4 Reservekorps mit 150.000 Mann (ggf. plus das freigewordene Antwerpen-Korps) im kleinen Bewegungskrieg im Osten mit Wintereinbruch eigentlich reißen sollten. Dabei ist zu beachten, dass Flandern wegen der begrenzten Entfernungen nun nicht die große Operationsbewegungen bringen sollte. Es ging dort um küsten-"nahe" Ziele und etwas Erweiterung der angestrebten Abschnürung nach Süden. Dass dagegen die "große" Umfassungsschlacht zwischen Warschau und Karpaten logistische Phantastereien sind, braucht wohl nicht weiter untersucht zu werden.​
 
Die Frage ist nun wirklich nicht, wann wo durch wessen Versagen wurde verloren,
die Frage ist, wie haben die das so lange geschafft?

Genauso sehe ich das auch. Für mich war der Krieg, durch den Eintritt Englands, von Anfang an verloren. Durch die Blockade konnte man sein wirtschaftliches Potential, welches das von Frankreich und Russland übertraf, nicht entfalten.
 
Genauso sehe ich das auch. Für mich war der Krieg, durch den Eintritt Englands, von Anfang an verloren. Durch die Blockade konnte man sein wirtschaftliches Potential, welches das von Frankreich und Russland übertraf, nicht entfalten.

Dass der Krieg mit dem Eintritt Großbritanniens und der wirtschaftlichen Ressourcen des Empires von vornherein verloren war, ist für mich nicht unbedingt zwingend. Immerhin gelang es den Briten trotz starker materieller und zahlenmäßiger Überlegenheit nicht, das militärische Patt zu wenden, obwohl gerade die materielle Überlegenheit seit der Sommeschlacht immer erdrückender wurde. Was schließlich den ausschlag gab, war der Kriegseintritt der USA.

Der Krieg war allerdings in der Konstellation von 1914-1917 gegen die Entente militärisch für die Deutschen kaum zu gewinnen. Umso frappierender ist, dass die Deutschen einzig auf militärische Erwägungen setzten, den Kriegseintritt der USA mit dem uneingeschränkten U-Bootkrieg billigend in Kauf nahmen und politische und diplomatische Lösungen erst gar nicht unternahmen oder mit einer Konzeption, die einzig auf einen Siegfrieden setzte, verbauten.

In der Konstellation, in der der Krieg bis 1917 geführt wurde, war für das Deutsche Reich viel mehr, als der Status quo ante nicht drin. Für Ludendorff war aber der Status quo schon gleichbedeutend mit einer Niederlage, und seine Kriegsziele gingen noch weit über die des vertrages von Brest- Litowsk hinaus. Mit den total überzogenen Kriegszielen war aber ein Sonderfrieden mit Russland kaum möglich, und als die Mittelmächte Russland in Brest- Litowsk einen Siegfrieden diktierte, wurde bald deutlich, dass die Ostfront immer noch große Truppenmengen band, obwohl die russische Armee sich auflöste und kaum noch ein ernst zu nehmender Gegner war.
 
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