Rechtsrheinische Siedeltätigkeit über 9 hinaus (und Waldgirmes)

Man wird Waldgirmes 9 n. Chr. nach der Varusschlacht aufgelassen haben, dann vielleicht, als 10 Tiberius in der Region war, einen halbherzigen Versuch unternommen haben, Waldgirmes wieder aufzubauen, was die Dendrodaten und die Ausbesserungen im Straßengraben erklärt. Viel mehr scheint da aber nicht passiert zu sein. Offensichtlich hat man dazu den Brunnen, der 9 unbrauchbar gemacht worden war, wieder versucht freizuräumen, daher auch die Bronzefragmente im Straßenschutt, da aber die Leiter im Brunnen verlieb, ebenso wie die Mühlsteine und der Pferdekopf, scheint das bald abgebrochen worden zu sein. Ich habe daher Zweifel daran, dass die Siedlung endgültig erst nach 16 aufgelassen wurde. Ich behaupte, schon 10/11 war den Menschen klar, dass der Aufwand, das zerstörte Waldgirmes wieder aufzubauen und der daraus gezogene Nutzen in einem schlechten Verhältnis zueinander standen.
Vielleicht waren es die germanischen Siedler*, die sich verzweifelt bemühten, ihren Anteil an römischer Lebensart zu schützen, Ubier, die mit dem Aufstand des Arminius nicht einverstanden waren, aber römischerseits fehlte es dann an Unterstützung.


*in den Brunnen von Waldgirmes hat man jeweils eine Fibel gefunden, man hält diese Fibeln für germanische Weiheopfer und unterstellt daher, dass am Bau und an der Siedlungsgemeinschaft von Waldgirmes Germanen beteiligt waren, gut 15 % der Gebrauchskeramik aus den römischen Schichten von Waldgirmes sind germanischen Ursprungs.
 
Geschrieben vor El Quijotes Post:

Dennoch ist die Befestigung einer Straße allein kein hinreichendes Kriterium für eine Siedlungstätigkeit. Ein notwendiges Kriterium übrigens auch nur in entsprechend schwer gangbarem Gelände oder entsprechend großen Städten.

Wenn die Römer die Brunnen verfüllt haben, wie gesagt wurde, dann haben sie auch die Statue selbst zerstört, da Teile ja aus der Verfüllung stammen. In einer Marktsiedlung kann es gut wertvollere oder sinnvollere Güter zum Abtransport gegeben haben.
 
gut 15 % der Gebrauchskeramik aus den römischen Schichten von Waldgirmes sind germanischen Ursprungs.
Gabriele Rasbach, Ausgrabungsleiterin in Waldgirmes, macht in diesem Vortrag deutlich, wie heterogen die Fundlage in Waldgirmes war. So betont sie, es sei dort wenig Keramik gefunden worden, weiterhin seien die Funde selbst heterogen: So dominiere gallo-römisches Essgeschirr, beim Kochgeschirr jedoch einheimische Ware.

Man habe also von gallo-römischen Essgeschirr gegessen, aber in einheimischer Töpferware gekocht, könne man vereinfacht sagen.

Die gut 15% Gebrauchskeramik einheimischen Ursprungs, Rasbach spricht übrigens seit Jahren von einheimischer, statt von germanischer Keramik, was die Sache wohl besser trifft, sind daher nicht einfach in einen entsprechenden 'germanischen' Einwohneranteil übersetzbar.
 
Nun, dass das Essgeschirr importiert wurde und die einfacheren Sachen günstig vor Ort beschafft, ist so bemerkenswert auch nicht, insbesondere wenn es vorwiegend um eine Marktsiedlung / ein Forum ging.
 
Die gut 15% Gebrauchskeramik einheimischen Ursprungs, Rasbach spricht übrigens seit Jahren von einheimischer, statt von germanischer Keramik

In einer eingeblendeten Abbildung sind die Stichworte "keltoide Formen / germanische Keramik" zu lesen.

Außer der Keramik sind auch einige Häuser als "nichtrömische Architektur" ausgewiesen; hierzu sagt Frau Rasbach: "Während in der ersten Bauphase überwiegend Bauten, die im Grundriss und Bauweise als römisch zu bezeichnen sind, errichtet wurden, entstanden in der Ausbauphase neben dem Forum auch Gebäude, die aufgrund ihrer Bauweise und ihrer Grundrisse als einheimische Bauten anzusprechen sind. Denn die besten Parallelen kennen wir – sieht man von einigen Vierpfostenspeichern ab – aus einheimischen Siedlungen des weiteren Umfelds."

Nun, dass das Essgeschirr importiert wurde und die einfacheren Sachen günstig vor Ort beschafft, ist so bemerkenswert auch nicht, insbesondere wenn es vorwiegend um eine Marktsiedlung / ein Forum ging.
Wobei die 15% von Frau Rasbach als "ungewöhnlich hoch" eingestuft werden.
 
Wieviele römische Marktsiedlungen dieser Zeitstellung aus dem Barbaricum sind denn in der Statistik? Gibt es etwa Erkenntnisse aus Noricum oder aus Rätien?
 
Wobei die 15% von Frau Rasbach als "ungewöhnlich hoch" eingestuft werden.

Das trifft zu, sie bleibt insgesamt vorsichtig mit weitreichenden Positionierungen, auch daher stets der Rekurs auf 'einheimisch'. Weiterhin nochmals der Hinweis, dass die Menge der Keramik-Funde als wenig eingestuft wird, so dass die Fundbasis (+ Aussagenreichweite) bei der Keramik etwas schmal ist.
Es geht mir nicht darum, den 'germanischen' Einfluss, die 'germanische Prägung' zu übersehen, zu verkleinern. Er ist nur nicht so eindeutig oder eindeutig ausgeprägt, und aufgrund der kurzen Besiedelung von Waldgirmes, den in der Keramik eher geringen Fundmengen, und selbst bei den 'einheimischen Bauten' aufgrund der wenigen Funde in einem insgesamt sowieso deutlich nicht vollständig bebauten Innenareal wohl weniger ein bedeutendes Beispiel für eine dominante oder markante Prägung unter 'germanischem' Einfluss.

So bleibt offen, in welcher Relation gute 15% Anteil von Keramik einheimischer Herkunft als 'ungewöhnlich hoch' eingestuft werden können. Und die Schlussfolgerungen daraus fehlen bei ihr.
Um bei einer vorstellbaren, konkreten Größenordnung der Einwohnerpopulation zu bleiben:
Sie spricht und schreibt von 150-300 Personen.
 
Vielleicht noch etwas präziser: Bei einer schmalen Basis an Keramikfunden insgesamt spielt jeder zerdepperte 'germanische' Kochtopf, der aufgefunden wird, eine merkliche Rolle. Und damit der Zufall in der Fundüberlieferung bzw. 'Fundwerdung'.
 
Ein ganz interesanter Zeitungsartikel:

https://www.giessener-allgemeine.de...elhessen-92390746.html?trafficsource=ECRslide

In Waldgirmes - einem Ortsteil von Lahnau - gibt es nun ein kleines Museum. Die Öffnungszeiten sind so kurz, dass man dort keine zweite Museumsinsel erwarten darf. Ein Auszug aus dem Zeitungsarteikel ist doch diskussionswürdig:

Bislang wurde kein Stein gefunden, auf dem der Name der Stadt verzeichnet wäre. Aus dem Studium alter Karten lässt sich jedoch die Vermutung ableiten, dass sie Mattiacum hieß. Der Stamm der Mattiacer hatte sich wohl den Römern unterworfen, diese als Dankesgeste dafür die Stadt nach ihnen benannt.
Den vom Museumsverein vermuteten Ortsnamen habe ich fett markiert. Diese These wirft Fragen auf:

Wenn die römische Stadtgründung im Gebiet der Mattiaker lag, hielten diese dann auch zuvor den Dünsberg besetzt?

Falls ja, warum wurde der Dünsberg erstürmt? Gefundene römische Distanzgeschosse lassen auf einen römischen Angriff auf den Dünsberg schließen. Sieht mir jetzt nicht unbedingt nach so einer großen Freundschaft aus.

Ein Ortsname Mattiacum ist für Wiesbaden belegt. Für Waldgirmes ist er doch sehr spekulativ.
 
Über Kunst lässt sich trefflich streiten. Die dort aufgestellte Figur des Augustus mag ja als Visualisierung ganz nett sein. Wenn man sich den Pferdekopf von Waldgirmes auf der Saalburg anschaut, hat dieser kleine Rest der Reiterstatue eine unglaubliche Lebendigkeit und Detailverliebtheit. Da kommt mir die Figur eher wie ein sehr alter Joe Biden auf dem demokratischen Esel daher als Augustus.
:D
 
Die Lokalisierung bei Waldgirmes geht wohl auf Kleineberg et al. zurück.

Was ich davon halte? Nichts.

Ja:

Für Mattiacum(unsicher!) steht dort: Die transformierten antiken Koordinaten lassen ... eine Lokalisierung in der Gegend von Lahnau-Waldgirmes zu....denkbar wäre z.B. Naunheim"

aus: "Germania und die Insel Thule" von Kleineberg, Marx, Knobloch, Lelgemann

Ich weiß zwar nicht, warum du davon nichts hältst, aber ich ahne es natürlich (methodische Ungereimtheiten, Willkür bei der Identifikation).
Ich erlaube mir mal ein Selbszitat:


Ich habe mir heute von Kleineberg/Marx/Knobloch/Lelgemann und von Kleineberg/Marx/Lelgemann die Bücher Germania und die Insel Thule. Die Entschlüsselung von Ptolemaios 'Atlas der Oikumene', Darmstadt 2010 und Europa in der Geographie des Ptolemaios. Die Entschlüsselung des 'Atlas der Oikumene'. Zwischen Orhney, Gibraltar und den Dinariden, Darmstadt 2012 besorgt.
Ich muss sagen, dass insbesondere das Buch zu Germanien mich nicht wirklich überzeugen kann. Die Autoren stellen völlig korrekt die Problematik dar: Wir kennen die Ortsnamen in der Germania nicht, können also nur Orte mit Siedlungskontinuität, die Flüsse und Gebirge wirklich einigermaßen zuweisen (eine Namenskontinuität seit römischer gibt es in der Magna Germania nur bei den Flüssen, nicht bei den Gebirgen). Desweiteren müssen wir mit Abschreibfehlern rechnen, die entweder Ptolemaios oder einem seiner Kopisten passiert sind (die frühesten überlieferten Handschriften stammen aus dem 13. Jahrhundert, sind also knapp 1100 Jahre nach Ptolemaios entstanden, das Handschriftenstemma ist in zwei Linien, die Omega- und die Xi-Linie (Ω, Ξ) eingeteilt, wobei es unter den Handschriften mehr als 1000 Abweichungen, Ortsangaben betreffend gibt, die durch Lese- oder Schreibfehler, Verderbnisse, Zeilenverrutschungen oder vielleicht auch durch Ptolemaios eigene Korrekturen zustande gekommen sind).
Hinzu kommen eben verschiedene Messmethoden, nach Stadien (die unterschiedlich groß sein konnten, was Ptolemaios laut den Verfassern der Studie nicht bedacht hat), Leugen, Tagesreisen etc. Die meisten Orte in der Germania seien nur durch Ptolemaios überhaupt belegt, es gibt also keine Quelle, mit der man sie und ihre Lage irgendwie abgleichen könne.

Trotz all dieser Probleme wollen die Autoren nun die Orte wieder identifiziert haben, wobei ihnen nicht der Vorwurf zu machen ist, dass sie eine Siedlungskontinuität annehmen oder insinuieren, wie man das teilweise den Beiträgen hier im Thread entnehmen kann, dass dies im medialen Bereich germacht wurde.

Das Problem ist, dass die Methode, wie sie die Orte errechnet haben wollen, unklar bleibt. Da ich persönlich, was Mathematik angeht, geradezu ignorant bin und meine Kritik daher eher auf ein Bauchgefühl zurückgingen und weniger auf Argumente, ich mich aber nicht auf Bauchgefühle verlasse, will ich hier mal jemand geeigneteres sprechen lassen, den Professor für Historische Kartographie Gyula Pápay (Uni Rostock).

Gyula Pápay: Rezension zu: Kleineberg, Andreas; Marx, Christian; Knobloch, Eberhard; Lelgemann, Dieter: Germania und die Insel Thule. Die Entschlüsselung von Ptolemaios' "Atlas der Oikumene". Darmstadt 2010, in: H-Soz-u-Kult, 14.09.2011, <Rezension zu: A. Kleineberg u.a. (Hrsg.): Germania und die Insel Thule >.

Pápay schrieb:
Aus diesen Darlegungen geht klar hervor, warum die Verortung der antiken Koordinatenangaben in einem modernen Koordinatensystem so schwierig ist und warum die bisherigen Versuche so starke Divergenz aufweisen. Dabei werden die Schwierigkeiten durch die Annahme, dass Ptolemaios für das Gebiet Germaniens auch Karten verwendete (zum Beispiel S. 7), sogar untertrieben.
[...]
Die Lokalisierung der Orte erfolgte primär auf der Grundlage von Itinerarien, die die Ortsentfernungen beinhalteten. Diese Angaben waren unsystematisch ungenau, demzufolge lassen sich die Koordinaten von Ptolemaios keineswegs systematisch entzerren. In der vorliegenden Publikation wird trotzdem eine Methode zur systematischen Entzerrung vorgeschlagen, die sogar als „geodätisch“ bezeichnet wird (S.11).
[...]
Der Untertitel der vorliegenden Publikation ist nicht zutreffend, denn es handelt sich hier nicht um die Entschlüsselung von Oikumene-Karten, sondern um den Entschlüsselungsversuch eines Teils der ptolemäischen Koordinaten.
[...]
Die auf dem Schutzumschlag gegebene Einschätzung des Werkes steht in krassem Widerspruch zum eigentlichen Inhalt. Es wird verschwiegen, dass die sogenannten „revolutionären“ Ergebnisse viele Unsicherheiten enthalten. Die Autoren selbst stufen in der Tabelle mit den entzerrten Koordinaten auf dem Gebiet von Germania Magna 84% der Identifizierungen als unsicher ein.

Bei der Unterstreichung muss ich Pápay allerdings widersprechen. Die unsicheren Identifizierungen werden mehrfach von den Autoren angemerkt, in der Tabelle sogar extra verzeichnet und auch hinterher im Kommentar wiederum vermerkt. Was man den Autoren allerdings vorwerfen muss, ist eine gewisse Unübersichtlichkeit. Sie identifizieren Orte nämlich aufrund unterschiedlicher Methoden, einmal denen die sie "geodätisch" nennen (was nach Pápay ja nicht gerechtfertigt ist) und dann historisch-archäologischen Methoden. Das ist nicht immer deutlich vermerkt, nach welcher Methode sie einen Ort gerade identifiziert haben.

Zur eigentlichen Methodenkritik:
Pápay schrieb:
Wie bereits angedeutet, ist die Entzerrungsmethode selbst kritisch zu betrachten. Bei Entzerrung historischer Karten kann man mit der Methode der Georeferenzierung sehr gute Ergebnisse erzielen.[3] Sie lässt sich jedoch für die Entzerrung der ptolemäischen Koordinaten außerhalb des Römischen Reiches nicht verwenden, da sie das Vorhandensein einer hinreichenden Anzahl identischer Orte oder geographischer Punkte in der historischen und in der modernen Karte voraussetzt. Die Georeferenzierung wird nicht als geodätische Methode bezeichnet, noch weniger verdient diese Bezeichnung die Methode, die zur Entzerrung der ptolemäischen Koordinaten verwendet wurde. Es handelt sich dabei um die Ausgleichsrechnung, die in der Geodäsie zur Eliminierung von Messfehlern dient. Zur Entzerrung der ptolemäischen Koordinaten lässt sich diese Methode so wie in der Geodäsie nicht für die Gebiete außerhalb des Römischen Reiches verwenden, da die ptolemäischen Koordinaten hier keinen Systemcharakter aufweisen.
[...]
Ebenso ist nicht nachvollziehbar, wie die Ausgleichsrechnung konkret zur Ermittlung solcher Ortsgruppen verwendet wurde. Die Bemerkungen dafür sind zu lakonisch: „Die Suche nach Transformationseinheiten erfolgt kombinatorisch. Dabei werden die Orte eines Startgebietes so lange miteinander kombiniert, bis eine maximale konsistente Ortsgruppe gefunden wird.“ (S. 12) Es ist völlig rätselhaft, wie zum Beispiel in der Mitte von Germanien, wo die ptolemäischen Koordinaten mit großen Unsicherheiten behaftet sind, eine „maximale konsistente Ortsgruppe“ ermittelt werden konnte. Der vorliegenden Publikation wurde auch keine konkrete Berechnung beigefügt. Damit entzieht sich die angewendete Entzerrungsmethode jeglicher Überprüfungsmöglichkeit.
An einem Bsp. wird gezeigt, wie unsicher selbst als sicher ausgegeben Identifizierungen sind:
Pápay schrieb:
Celamantia gehört zu den ganz wenigen Orten in der Tabelle zu Germania Magna (S. 31), deren Koordinaten (18° 14’ und 47° 45’) als sicher bezeichnet wurden. Demzufolge wurde dieser Ort mit Leányvár (bei Komarno) identifiziert. Die archäologische Forschung schließt jedoch eine solche Identifizierung definitiv aus.[4] Dieses Beispiel belegt zugleich, dass die Identifizierungsresultate, zum Teil sogar diejenigen, die als sicher angegeben werden, mit Vorsicht zu betrachten sind.

Das Schlussresümmee:
Pápay schrieb:
Die vorliegende Publikation kann nicht den Anspruch erheben, die ptolemäischen Koordinaten entschlüsselt zu haben. Sie bereichert lediglich die bisherige Vielzahl der Identifizierungsvorschläge für Germanien und die Anrainergebiete.

Das Selbstzitat, weil es der erste Beitrag im Thread https://www.geschichtsforum.de/thema/die-entzerrte-karte-des-claudios-ptolemaios.28243/page-3 ist, der auf die Bücher von Kleineberg et al. eingeht, davor wird hauptsächlich das mediale Echo diskutiert.
 
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