Rutger Bregman: Survival of the Friendliest

El Quijote

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Die Menschen und das Böse – ihr wahres, egoistisches Wesen – trennt nur ein Hauch Zivilisation. Dieses negative Menschenbild ist weit verbreitet – kein Wunder angesichts der pausenlosen Nachrichten über Krieg und Gewalt. Aber es ist vollkommen falsch. Das sagt der niederländische Historiker Rutger Bregman, 34, und hat einen Bestseller darüber geschrieben. In Im Grunde gut: Eine neue Geschichte der Menschheit argumentiert er mit historischen Beispielen und wissenschaftlichen Belegen für das Gegenteil: Menschen sind im Grunde gute Wesen, die einander selbstlos helfen. Einfach, weil es in ihrer Natur liegt.

VICE: In deinem 2019 veröffentlichten Buch Im Grunde gut argumentierst du, dass der Mensch von Grund auf gut ist. Musst du deine Ergebnisse angesichts des Kriegs in der Ukraine überdenken?
Rutger Bregman:
Es ist ja nicht so, dass es 2019 noch keine Kriege gegeben hätte. Als ich das Buch geschrieben habe, war das natürlich eine der Hauptfragen, mit denen ich mich auseinandersetzen musste: Wie kann man einerseits argumentieren, dass sich die Menschheit evolutionär zu einer freundlichen und von Grund auf kooperativen Spezies entwickelt hat, während andererseits so etwas wie Krieg existiert? Man kann leicht argumentieren, dass die Menschheit eine der grausamsten Spezies im Tierreich ist. Wir verüben Genozide, wir foltern. Auch unter Tieren gibt es Grausamkeiten. Es gibt zum Beispiel Belege für so etwas wie Krieg zwischen Schimpansen. Aber ein so hohes Ausmaß an Grausamkeiten findet man nur bei Menschen. Deshalb kämpfe ich in meinem Buch über Hunderte Seiten mit dieser Frage. Denn ich will mich nicht mit der einfachsten Antwort zufriedengeben.


Wie lautet die?
Die einfachste Antwort auf die Frage, warum sich Menschen grausam verhalten, wäre: Weil sie böse sind. Weil das die Natur des Menschen ist. Ich glaube, das ist komplett falsch. Denn wenn man die Geschichte der menschlichen Evolution erforscht, stellt man fest, dass sie ein Produkt des Survival of the Friendliest ist.

Survival of the Friendliest?
Für Tausende von Jahren – den Großteil unserer Existenz – lebten Menschen als nomadische Jäger und Sammler nach diesem Prinzip: Die Freundlichsten unter uns hatten einen evolutionären Vorteil. Sie zeugten die meisten Nachkommen und hatten so die größte Chance, ihre Gene weiterzugeben. In der Wissenschaft sagt man dazu Selbstdomestizierung. Wir haben erst uns selbst gezähmt – und später dann Nutztiere wie Schafe und Kühe.

Es setzte sich also nicht der Stärkere durch, sondern der Freundlichere?

Stell dir vor, du lebst in der Eiszeit, in einer sehr rauen Umgebung. Wie überlebst du? Jedenfalls nicht allein. Du brauchst Sicherheit. Und die geben dir deine Freunde. Sie werden dir helfen, wenn du krank wirst oder auf der Jagd nichts erlegt hast. Und wie bekommt man Freunde? Nun ja, Freundlichkeit hilft zumindest. So betrachten es moderne evolutionäre Anthropologen wie der Brite Brian Hare, der den Begriff Survival of the Friendliest geprägt hat.

Angesichts von Kriegsverbrechen in der Ukraine, von Kriegen und Gräueltaten rund um die Welt, muss man sich aber fragen: Was ist schief gelaufen?
Das ist die große Frage. Für die Antwort muss ich den berühmten französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau erwähnen, [...] Er wird oft als [...] romantischer Philosoph der Französischen Revolution bezeichnet, der die menschliche Natur nicht wirklich verstand. Aber in Wirklichkeit hatte er [...] größtenteils Recht.

Womit genau?
Rousseau argumentierte, dass im Naturzustand, also vor langer Zeit in der Vorgeschichte, das Leben der nomadischen Jäger und Sammler ziemlich gut war. Es ging erst bergab, als wir sesshaft wurden, Privatbesitz erfanden, Dörfer und Städte gründeten. Die jüngsten Erkenntnisse der Archäologie und Anthropologie geben ihm recht. Krieg etwa ist eine relativ junge Erfindung der letzten 10.000 bis 15.000 Jahre. In der Menschheitsgeschichte ist das ein kleiner Zeitraum. Über Jahrtausende gab es davor in Höhlenmalereien keine einzige Darstellung von Krieg. Doch als die Jäger und Sammler sesshaft wurden und den Privatbesitz erfanden, entdeckten sie auch den Krieg. Das ist die erste Erkenntnis, auf der man aufbauen muss.

Das erklärt aber noch nicht ganz, warum Menschen grausame Dinge tun.
Wenn man in einem Buch argumentiert, dass die Menschen im Grunde gut sind, wird man ständig gefragt: Aber was ist mit der Sklaverei? Was ist mit dem Holocaust? Natürlich kann man diese großen historischen Fragen nicht in zwei Minuten beantworten. Aber man kann Schritt für Schritt erklären, wie das Gift in eine Gesellschaft einsickern kann und wie wir uns an Dinge gewöhnen können, die wir normalerweise niemals wollen würden. Natürlich gibt es echte Sadisten. Menschen, die die Welt brennen sehen wollen und Gewalt genießen. [...] Aber man muss verstehen, dass es nur sehr wenige Menschen gibt, die denken, dass sie auf der falschen Seite stehen und das dann gut finden. Es ist oft genau andersherum: Menschen, die abgrundtief böse Dinge tun, glauben meistens, die Welt zu verbessern.

Zum vollständigen Interview geht es hier lang
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