Säkularisation und Enteignung der Bauernschaft

Johannes Arndt

Neues Mitglied
Liebe Mitglieder,

ich habe eine Frage zum Thema Enteignungen in der frühen Neuzeit. Zum Kontext: ich schreibe gegenwärtig meine Thesis (Bachelor), aber nicht in Geschichte, sondern Soziologie. Und gerade deshalb brauche ich eure Fachkenntnis bzw. würde euch bitten, mir beim Überblick zu helfen. Ich will ja auch verstehen, was ich schreibe. ;)

Nun, zum Thema. In meinem Grundlagentext steht Folgendes:

"Vielmehr ist der Akkumulationsprozess des Kapitals in der modernen Gesellschaft überhaupt nur dadurch in Gang gekommen, dass man des Eigentums nicht mehr achtete; an seinem Anfang stehen die ungeheuren Enteignungen - die Enteignung der Bauern, die wiederum die fast automatische Nebenerscheinung der Enteignung des Kirchen- und Klostereigenums nach der Reformation war; auf Privateigentum gerade hat dieser Prozeß niemals Rücksicht genommen, sondern es immer und überall enteignet, wo es mit der Akkumulation des Kapitals in Konflikt geriet." (Hannah Arendt, Vita activa, 1967 Piper, S63)

Okay, ihr seht, es geht um Eigentum und Besitz (Arendt differenziert da recht eigen) und insbesondere um den "Akkumulationsprozeß des Kaptials", also die Entstehung der modernen Ökonomie. Was für mich jetzt eigentlich nur wichtig ist, weil ich bei google partout nichts finden kann: was genau hat es mit dieser Enteignung der Bauern auf sich? Wer waren da die Protagonisten, war das überhaupt so ein einheitlicher und eindeutiger Prozess, wie Arendt es darstellt, und in welchen Teilen Europas gab es etwas, was dem Beschriebenen gleichkommt?

Ich bin geschichtlich nicht gerade bewandert und würde mich freuen, wenn mir jemand ein paar Anhaltspunkte liefern könnte! Im Wesentlich also bezüglich der Frage, ob es "die Enteignung der Bauernschaft" in dem Sinne gab bzw. ob sich oder etwas in der Art zeitlich datieren lässt.

Vielen Dank für die Hilfe!
 
nach der Reformation sind keine Bauern/Pächter enteignet/vertrieben worden, jedenfalls nicht im großen Stil, es mag vorgekommen sein, aber dann als absolute Einelfälle

Die Rechte an Land gingen an den Landesfürsten über, an den Pacht- und sonstigen Verhältnissen änderte sich erstmal nichts. Kirchenland blieb z.T. bis heute Kirchenland

Die Vertreibung von Pächtern und Umwandlung von Acker in Weideland gabs in Schottland.

Bauernlegen gabs war im deutschen Osten auch, aber das sind dann nicht verlängerte Pachtverträge und ähnliche unsoziale Verhaltensweisen. Aber das ist dann schon sehr viel später.
http://www.uni-due.de/einladung/Vorlesungen/epik/reformation.htm

http://www.nrw2000.de/franzosen/saekularisation_definition.htm

Du siehst, zwischen beiden liegen mal so eben 2-300 Jahre !!
 
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Die Diskussion ist im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Marxismus zu sehen:
Ursprüngliche Akkumulation ? Wikipedia

Die Betrachtungsweise kann man wirtschaftshistorisch wohl ohne Probleme als umstritten ansehen. Das gilt sowohl für die Relevanz des Akkumulationsbegriffs für diese Phase, die Anwendung auf Landwirtschaft, die Frage der Reinvestitionen (die man wohl außerhalb des Marxismus eher auf das Kapital in Handel, Bergbau und Manufakturen beziehen würde), usw.

Das wird eigentlich oben schon ansatzweise im Artikel deutlich, bzw. in den Querverweisen.
 
Selbst wenn man Besitz/Eigetum komplett neu definiert, bleibt die Tatsache, das nach der Reformation die selben Leute weiter auf eigene Rechnung das selbe Land bearbeiteten und davon lebten.

Weiter bleibts dabei, Reformation 16 Jhdt, Säkuralisierung 18./19. Auch im 18./19. bearbeiteten z.T. die selben Leute das selbe Land. Da zwischen haben allerdings etliche kleine Betriebe wegen zu geringer Fläche aufgeben müssen.

Auch mit der dicksten marxistischen Brille betrachtet sind die Behauptungen oben schlicht falsch/für weite Teile Europas nicht zutreffend
 
Mein Beitrag sollte Deinen nicht konterkarieren, sondern ergänzen.

P.S. Ich glaube, Du unterschätzt die Dicke mancher Brillen.:devil:
 
Die Diskussion ist im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Marxismus zu sehen:
Ursprüngliche Akkumulation ? Wikipedia

Die Betrachtungsweise kann man wirtschaftshistorisch wohl ohne Probleme als umstritten ansehen. Das gilt sowohl für die Relevanz des Akkumulationsbegriffs für diese Phase, die Anwendung auf Landwirtschaft, die Frage der Reinvestitionen (die man wohl außerhalb des Marxismus eher auf das Kapital in Handel, Bergbau und Manufakturen beziehen würde), usw.

Das wird eigentlich oben schon ansatzweise im Artikel deutlich, bzw. in den Querverweisen.

Richtig, das sind marxistische Kategorien der Wirtschaftsgeschichte.

Bürgertum => Bourgeosie
feudalabhängiger Bauer => doppeltfreier Lohnarbeiter, über den Weg des "Lumpenproletariates"

Marx analysierte hierbei insbesondere England ("Einhegungen"), Kapitalakkumulation durch "Dreiecksfahrten", Merchant Adventuers etc.

Atlantischer Dreieckshandel ? Wikipedia

Merchant Adventurer ? Wikipedia

Die Disziplinierung des Proletariates durch den Staat.

http://www.zeno.org/Philosophie/M/Marx,+Karl/Das+Kapital/I.+Band%3A+Der+Produktionsproze%C3%9F+des+Kapitals/VII.+Der+Akkumulationsproze%C3%9F+des+Kapitals/24.+Die+sogenannte+urspr%C3%BCngliche+Akkumulation/3.+Blutgesetzgebung+gegen+die+Expropriierten+seit+Ende+des+15.+Jahrhunderts.+Gesetze+zur+Herabdr%C3%BCckung+des+Arbeitslohns

Marx, Karl, Das Kapital, I. Band: Der Produktionsprozeß des Kapitals, VII. Der Akkumulationsprozeß des Kapitals, 24. Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation, 3. Blutgesetzgebung gegen die Expropriierten seit Ende des 15. Jahrhunderts. Gesetze zur H

Darüber hianaus verweisen marxistische Wirtschaftshistoriker wie z.B. Mottek auf die sog. städtische Umwälzung (die Stadt als " bürgerlicher Fremdkörper" im feudalen Umfeld).

Der Akkumulationsprozeß des Kapitals - 24. Die sogenannte uspruengliche Akkumulation

Bleibt man in den marxistischen Theoriegebäude, können dafür klassischer Weise, England, NL und Oberitalien als wirtschaftshistorische Beispiele herhalten. Deutschland (HRR) oder Frankreich eher nicht.

Hier müssen dann merkantilistische bzw. kameralistische Erklärungsansätze herangezogen werden.

Merkantilismus ? Wikipedia

Für Frankreich auch:

Physiokratie ? Wikipedia

Kameralismus ? Wikipedia = dt. Variante des Merkantilismus

Die sog. "ursprüngliche Akkumulation" ist ein hochkomplexer Prozess, der sowohl soziologische Kennzeichen aufweist (z.B.: Aufhebung von erzwungenen berufsständischen Organisation [Zünfte, Gilden] aber auch politischer Revolutionen bzw. Reformen, der sog. Bauernbefreiung, bürgerlicher Gleichheit usw.) und ökonomischen Kennzeichen (Manufakturwesen, Verlagswesen bis hin zum späteren Fabriksystem).

Mein unmaßgeblich Tip. Für Deine BA würde ich die soziologischen Aspekte der Kapitalakkumulation wählen, so Du die Freiheit dazu hast, insbesondere die soziale Mobilität (räumliche und insbesondere Schicht- bzw. Klassendurchlässigkeit), da findest Du auch viele Ansätze in der deutschen Geschichte. Solltest Du zu sehr auf die ökonomischen Aspekte eingehen, kann es schnell passieren, daß Du eine eher wirtschaftshistorische als eine soziologische Arbeit ablieferst.

M.

Nochwas, schau ruhig auch mal beim alten Max Weber rein, Relegionssoziologie, "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus".
 
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Super Leute, ihr habt mir quasi alle mit euren Hinweisen geholfen.

Die Allmende als Rechtsgut war mir zwar nicht unbekannt, aber ich bin in diesem Zusammenhang irgendwie nicht drauf gekommen; dem Wiki-Artikel nach passt der Wegfall dieser Gemeingüter zu dem, was Arendt beschreibt. Mal schauen, ob’s auch eine wissenschaftliche Quelle gibt.

Auch der Hinweis zur korrekten Datierung der Säkularisation war mir neu; scheint wirklich auf Napoleon zu verweisen, was ich nicht wusste, hatte es eben spontan mit der Reformation in einen Topf geworfen…

Goldader allerdings scheint mir Marx’ Kapital zu sein. Nicht zufällig bedient sich Arendt seiner Kategorien (sie nimmt ohnehin oft Bezug auf ihn, wenn auch insgesamt lange nicht so unkritisch, wie die Übernahme der These der ursprünglichen Akkumulation es vermuten lässt). Hätte ich eigentlich auch selbst drauf kommen. Die Lektüre des Kapitals (super btw, dass es das online gibt) liest sich wie eine Sammlung unausgesprochener Prämissen Arendts. Das reicht mir absolut für die Arbeit. Top! :yes:

Jep, vielen Dank also für eure Hilftsbereitschaft.

…@Melchior: Absolut, als Soziologe sollte ich grundsätzlich eher die Gesellschaftsstruktur in Bezug auf ihre genuin soziologischen Aspekte anpeilen, Wirtschaft und Wirtschaftsgeschichte kommen im Studium nach wie vor viel kurz; eine Schande, wenn man bedenkt, wie stark das Gesicht von Gesellschaften durch ihre ökonomische Struktur bestimmt ist, insbesondere dieser Tage. Was die Thesis angeht: das Thema Enteignung fällt eher in die Kategorie „Fußnote“; grundsätzlich sieht das Konzept der Arbeit vor, Arendts Thesen über die Gegenwartsgesellschaft als Prämissen vorauszusetzen. Auch wenn es also nicht um eine konfrontative Auseinandersetzung mit Arendts bzw. Marx’ Thesen geht - ich will jedes Glied der Argumentationskette nachvollziehen können, wenn ich auf einer aufbaue. Die Schwäche ihrer einzelnen Glieder kann ich dann offenlegen, selbst wenn’s nur in einer Fußnote ist, und habe damit nicht nur meinem Gewissen, sondern auch dem wissenschaftlichen Anspruch auf Transparenz genüge getan. ;)
 
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Auch der Hinweis zur korrekten Datierung der Säkularisation war mir neu; scheint wirklich auf Napoleon zu verweisen, was ich nicht wusste, hatte es eben spontan mit der Reformation in einen Topf geworfen…

Nur noch als Hinweis, die Säkularisierung findet seinen Ursprunk schon in der Reformation (wenn man von Ordensaufhebungen auch in katholischen Gebieten absieht), mit Napoleon hat das, zumindest im HRR, nur wenig zu tun, höchstens hiermit:

Reichsdeputationshauptschluss ? Wikipedia

documentArchiv.de - Hauptschluß der außerordentlichen Reichsdeputation ['Reichsdeputationshauptschluß'] (25.02.1803)

Good luck für Deine BA.

M.
 
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