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[FONT="]Spezialliteratur behandelt Spezialthemen. Hier geht es um grundsätzliche Fragen. Andrew Lambert – Professor für Marinegeschichte am Kings College in London, der vorzügliches Ranking wikipedia beschreibt - hat den auch für seine Schlussfolgerungen lediglich unstreitige Sachverhalte verbunden. Den Ostseeplan (von Fisher und Churchill, vgl. #56), die Seeschlacht am Eingang zur Ostsee, das Faktum, dass die Navy (mit Überwasserschiffen) nie in die Ostsee kam. Da braucht man keine Spezialliteratur, das Ziel konnte nicht erreicht werden, da die Schlacht verloren wurde (und zwar strategisch, nicht nur taktisch).[/FONT]
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[FONT="]Die entgegengesetzte Meinung ist politisch motiviert, da England (durch die USA) zu den Siegermächten gehörte und die Navy innerhalb der Nachkriegsordnung nicht als Verlierer dastehen konnte (dafür habe ich volles Verständnis). Es half nichts. Der „Two-Power-Standard“ (von 1889) musste – ohne dass darüber Aufhebens gemacht wurde – aufgegeben werden, die Navy wurde deutlich reduziert, die USA und Japan wurden die großen Seemächte.[/FONT]
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[FONT="]Man versuchte Deutschland zum Angreifer zu machen. Das machte schon aufgrund der Stärkeverhältnisse (zum Angriff brauchte man nach damaliger Auffassung eine Überlegenheit von 30%) keinen Sinn. Niemand wollte etwas anderes als strategische Defensive, allerdings gab es über deren konkrete Ausgestaltung gab es erhebliche Differenzen. Tirpitz (frühe Seeschlacht unter Ausnutzung der Truppentransporte), Mitglieder des Admiralstabes (Kräfteausgleich durch Vernichtung von Teilstreitkräften durch Hochseeflotte), Wilhelm II. (Verhinderung des Einbruchs in der Ostsee, d.h. Flotte als Annex zum Heer). Der Operationsbefehl für den Nordseekriegsschauplatz war politisch motiviert (Bethmann‘s Gedanke England nicht zu reizen und einen frühen Frieden herbeizuführen, da seines Erachtens England gegen seinen Willen in den Krieg gezogen wurde sowie der Gedanke, die Flotte als Verhandlungsobjekt nach einem Sieg zu Lande unversehrt zu erhalten). Ein Kräfteausgleich allein durch Kleinkrieg ist vorher noch nie in Erwägung gezogen worden (Kleinkrieg bedeutet Krieg durch U-Boote – deren Möglichkeiten man damals noch gar nicht kannte, Minen – Deutschland hatte 3 Minenschiffe (Nautilus, Albatross, Pelikan) und 6 Hilfsminenschiffe) und Torpedoboote. [/FONT]
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[FONT="]Die Angriffsversuche der Navy wurden nicht thematisiert (ich habe noch gelernt, dass der Bau der Hochseeflotte verfehlt war, da die Navy diese durch Inaktivität ausgeschaltet hat). Dagegen wendet sich Lambert ausdrücklich, das Marinearchiv (Bd. 2, Karte 7) hat die Vorstöße der Navy aufgeführt. Nur zwei (des englischen Gros) führten in die Nähe der Linie 100 sm von Helgoland (am 24.11.1914 und 24.01.1915). Das war nach Wilhelm II. Willen der äußerste für die Hochseeflotte in Betracht kommende Radius. Es wurde während des gesamten Krieges nicht ein einziges Geschoß auf die deutsche Küste abgefeuert (was man umgekehrt nicht behaupten kann; das letzte Mal gelang das dem holländischen Admiral de Ruyter, der 1667 die Themse hochfuhr). Damit war ein Zusammenstoß extrem unwahrscheinlich. Wenn aber die Navy in die Ostsee wollte, musste sie angreifen, und notwendige Bedingung eines Angriffs ist, den Angegriffenen auf einem Kampfplatz zu stellen. Jellicoe und die Admiralität haben eindeutig gesagt, dass für sie ein Kampf nur in der nördlichen Nordsee in Frage Kommt (Schreiben Jellicoes vom 30.10.1914, Tz. 5), also weit außerhalb eines realistischen Kampfplatzes. Nach Wilhelm II. brauchte die Hochseeflotte keinen Kampf, sie schütze die Ostsee allein durch ihre Existenz (doctrine of sea denial). Der Navy fehlte schon die Möglichkeit die Schlacht überhaupt zu eröffnen. Deutsche Vorstöße (Scarborough, Doggerbank) waren daher Abweichungen vom Grundsatz. Jellicoe fürchtete solche Vorstöße sehr, denn die Hochseeflotte konnte Ort und Zeit wählen und die Hochseeflotte vollständig versammeln, für die Navy war dies nur sehr bedingt möglich (die zu schützenden Küsten waren lang und die Ausfahrt der riesigen Flotte war ein großer Aufwand, dem Grenzen gesetzt waren). Das ist der Hintergrund der Streitigkeiten um diese Vorstöße. Waren sie – unter Einsatz der Hochseeflotte - große Chancen (insbesondere in Verbindung mit anderen Aktionen, z.B Truppentransporte, Ostasiengeschwader, Dardanellen-Operation) auf einen Teilerfolg (so große Teile der Kaiserlichen Marine) oder unnötige Risiken (so Lambert)? [/FONT]
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[FONT="]Die konkreten Vorstöße (Kreuzervorstöße ohne Rückhalt des Gros) machten nach keiner der beiden Meinungen Sinn, die Vorstöße waren politischen Rücksichten (der Nation wurde die finanzielle Belastung des Flottenbaus zugemutet, jetzt wurde sie nicht eingesetzt) geschuldet. Die deutschen Schlachtkreuzer hatten Glück und entkamen (jedes Mal geführt von dem exzellenten Franz Hipper gegen den in England sehr geschätzten – aber überschätzten - David Beatty).[/FONT]
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[FONT="]Die in #66 geäußerte Auffassung zur strategischen Bedeutung des Dardanellen-Unternehmens teile ich, nicht aber die weiteren Folgerungen. In Flandern hatten die Alliierten keine Möglichkeiten (John French lehnte radikal weitere Operationen ab, da er sogar meinte selbst einen unwahrscheinlichen Durchbruch nicht ausnutzen zu können). Das Ostseeunternehmen hatte auch keine Erfolgsaussichten (ausführlich #56). Das Dardanellen-Unternehmen hatte Erfolgsaussichten, wenn entsprechend Kräfte von der Nordsee abgezogen werden. Nur: Das Dardanellen-Unternehmen mag noch so bedeutungsvoll gewesen sein, die Nordsee war wichtiger. 1915 waren die Alliierten in einer strategischen Sackgasse (die die Deutschen aus innenpolitischen Gründen nicht zur Entscheidung nutzten).[/FONT]
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[FONT="]Es ist bezeichnend, dass England erst dann eine Chance sah die Deutschen in eine Schlacht zu verwickeln als die Deutschen wiederum dem Ostseeunternehmen der Engländer keine Möglichkeiten mehr einräumten, da Russlands militärische Möglichkeiten gegenüber Deutschland deutlich reduziert waren. Jetzt (mit Scheer als Chef der Hochseeflotte im Januar 1916) wurden die Deutschen aktiver. Durch den entzifferten Signalcode konnten die Engländer ersehen, wann die Hochseeflotte ausfährt und ihr entgegenfahren. Dieser enorme Vorteil war für Jellicoe nicht ausreichend, musste aber laut Lambert auf Weisung der Admiralität doch am 30.05.1916 der Hochseeflotte entgegenlaufen. Das Ergebnis der Schlacht war wie von Jellicoe erwartet.[/FONT]
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[FONT="]Beim Beginn der Schlacht zeigte Hipper hervorragende Führungseigenschaften und deklassierte Beatty (der aus einfachen Verhältnissen kommende Hipper wurde von Ludwig III. daraufhin nobilitiert). Die überlegenen Engländer hatten dazu noch das Glück, dass ihr scher getroffenes Flaggschiff HMS Lion durch den Einsatz eines Einzelnen gerettet wurde (des hierfür in England hoch geehrten Major Francis Harvey, dem posthum das Viktoriakreuz verliehen wurde). Sie hätten nicht nur einen weiteren Schlachtkreuzer verloren, sondern wären führungslos geworden. (Ein Hinweis zur technischen Überlegenheit: So hatte die Navy wie die Hochseeflotte deutsche Entfernungsmesser, die englischen vibrierten sehr stark - so der spätere Admiral Hubert Dannreuther, einer der 6 Überlebenden der HMS Invincible. Die Deutschen bekamen das infolge ihrer überlegenen Fertigungstechnik in den Griff. Ein Schiff reduziert sich nicht auf die Zusammenfügung von Einzelelementen, sondern ist ein eigenständiges Produkt.)[/FONT]
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[FONT="]In der Hauptschlacht wollte Scheer (als Tirpitz-Schüler hat er die Zurückhaltung der Hochseeflotte für falsch gehalten, er wollte die Gelegenheit nutzen anzugreifen) das Nelson’sche Manöver von Trafalgar wiederholen und die englische Linien durchbrechen. Er erwischte genau den Moment als sich innerhalb von 4 Minuten die englische Linie erheblich verstärkte (näheres in #41). Diese riesige Chance konnte Jellicoe nicht nutzen, nach der Gefechtskehrtwende verfuhr er entspricht seinem Schreiben vom 30.10.1914.[/FONT]
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[FONT="]Die Gefechtskehrtwende hatte für beide Seiten positive und negative Folgen. Sie bedeutete nämlich auch den Verlust der Fühlung der Hochseeflotte mit der Navy. Damit ging ein erheblicher Vorteil für die Deutschen verloren, nämlich die Nachtschlacht. Die technische Überlegenheit – die deutsche Industrie war unangefochten Weltmarktführer in der Optik und Lichttechnik – erreichte strategische Dimensionen (Jellicoe erwähnt als besonders wichtig, dass „kaum Ausrüstung für die Mittelartellerie mit Richtungsweiseranlagen“ vorhanden waren, zitiert nach Marinearchiv Bd. 5 S. 352). Eine Nachtschlacht mit der Hochseeflotte war für Jellicoe ausgeschlossen (ausdrücklich Jellicoe, der „ernste Verluste…ohne entsprechende Erfolge“ erwartete, zitiert nach Marinearchiv Bd. 5 S. 352). Man muss sich das vor Augen halten: Ein Teil des Tages fällt für die Navy völlig für Operationen gegen die Hochseeflotte (nicht gegen andere Flotten) aus. Für die Nacht nahmen die Deutschen Angriffsposition ein. Der vorsichtige Jellicoe sah es als das Beste an, die größte Flotte aller Zeiten ganz eng zusammen gedrängt fahren zu lassen (Marinearchiv Bd. 5 S. 360 ff.). Die Chance nicht entdeckt zu werden, war somit am größten. Das Risiko war enorm. Wären sie nämlich entdeckt worden, hätten (für die Engländer kaum auszumachende) Torpedoboote in der dichten Ansammlung ideale Ziele gefunden. Die kampfkräftigste und schnellste II. (deutsche) Flottille war noch im vollen Besitz ihrer Torpedos (Marinearchiv Bd. 5 S. 389). Es waren die Engländer, die einer Katastrophe entkamen (so auch oben Jellicoe). Scheer wollte die Schlacht vor den Minenfeldern in der Nähe der freien Fahrstraßen zu seiner Basis fortsetzen und fuhr Richtung Hornsriff (142 sm von seinem Standort entfernt). Jellicoe zog den unwahrscheinlichen Schluss und meinte Scheer würde zur Durchfahrt westlich von Helgoland fahren (175 sm von Scheers Standort entfernt; vgl. Marinearchiv Bd. 5 S. 361). Lediglich englische Zerstörer sollten Scheer den Weg verlegen und eventuell nach Westen treiben, ohne Erfolg. In Brand geschossene Schiffe leuchteten wie „brennende Alleen“ (so zitiert Tirpitz, Erinnerungen, S 336 einen Schlachtteilnehmer und will damit ausdrücken, dass Jellicoe positiv wusste, dass er die Hochseeflotte nicht treffen konnte), Jellicoe blieb auf Distanz.[/FONT]
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[FONT="]Nach dem Krieg wurde weithin geschrieben, dass die Hochseeflotte durch den Durchbruch der Vernichtung entgangen ist. Jellicoe schreibt auch, dass er am nächsten Tag die Schlacht wieder aufnehmen wollte (Marinearchiv Bd. 5 S. 352). Tirpitz (Erinnerungen S. 336) bezweifelte dies, und wenn man Jellicoes allgemeine Annahmen (Schreiben vom 30.10.1914) und weitere Erkenntnisse nimmt, auch zu Recht. Schon die Grundvoraussetzung einer Schlacht, das Stellen des Gegners, war der Navy auch auf taktischer Ebene nicht möglich – oder sie es nicht wollte. Auf beiden Seiten waren die Kreuzer beschädigt, die Schlachtflotten unbeschädigt. Das Grundproblem der Engländer, nämlich den Gegner nicht halten zu können, hat sich über Nacht nicht geändert (letztlich bedeutet dies, dass die überlegene Feuerkraft nicht ausgenutzt werden kann). Der Vorteil Feuerkraft muss angesichts der starken Panzerung der deutschen Schlachtschiffe ohnehin relativiert werden. Der zweite Vorteil der Navy, die Geschwindigkeit, spielte vor den Minenfeldern kaum eine Rolle. Die Größe der Navy (16 km lange Linie), die schlechte Kommunikation führte dazu, dass die Navy schwer zu führen war. Das konnte vor den Minenfeldern ein entscheidender Nachteil sein. U-Boote hatten noch nicht in den Kampf eingegriffen (Jellicoe hielt es für möglich, dass die Hälfte der Schlachtflotte durch U-Boote außer Kraft gesetzt werden kann, Schreiben vom 30.10.1914 Tz. 13). Es boten sich mehrere Gelegenheiten, z.B. hatten havarierte englische Schiffen eine lange Heimfahrt (im Gegensatz zu den Deutschen). Das Wetter war zwar schlecht, das konnte sich aber in der Nordsee schnell ändern. Zeppeline (nach Jellicoe entsprach der Gefechtswert eines Zeppelins zweier kleiner Kreuzer, ich habe keine Ahnung, warum er diese Annahme machte) konnten Scheer durch Aufklärung einen wichtigen Vorsprung geben. Man muss dies vor dem Hintergrund sehen, dass den Engländern ein taktischer Erfolg nichts nutzte, ein unglücklicher Schlachtverlauf aber schnell strategische Dimensionen erreichen konnte. Churchills Satz, Jellicoe sei der einzige Mann, der den Krieg an einem Nachmittag verlieren kann, galt auch für den Vormittag. Entsprechend hat er gehandelt.[/FONT]