So waren denn die Bürger wohlbereitet auf Erdulden und Ausharren, und es kam nun darauf an, was der Gouverneur tun würde. Ende Oktober hieß es eines Morgens plötzlich, man könne nicht mehr zum Tore hinaus, weil die Franzosen davorständen. Jetzt also war die Stadt belagert, und wir Kinder wurden mit in den Belagerungsstand erklärt. Der Vater ließ uns nämlich abends nicht mehr zu Bette gehen, sondern der Reihe nach in den Kleidern auf einem Strohlager niederlegen, damit wir gleich munter und marschfertig seien, wenn das Bombardement angehe und Feuer ausbreche.
Ney machte an einigen Abenden schwache Angriffe auf das Krökentor und die Hohe Pforte, damit denn doch die Sache den Schein von so einer Art von Kriegsbegebenheit gewinne. Generalmarsch wurde geschlagen, ein halbes Stündchen an beiden Toren geschossen und zwei oder drei Granaten fielen in die Stadt. Das war das Ganze. Der französische Marschall wußte, mit wem er zu tun hatte und wollte einem Platze nicht schaden, den er schon für das Eigentum seines Herrn ansah. Bei einer jener Gelegenheiten sollten wir zugleich erfahren, wie tief sich das Verderben in den Stand eingefressen hatte, von welchem alles Heil des Vaterlandes erwartet worden war. Zwei Offiziere lagen bei uns in Quartier; zwei junge Lieutenants. Als nun in einer Nacht das Schießen begann und die Trommel zum Generalmarsch gerührt wurde, verfügte sich mein Vater zu den beiden hinunter, um sie zu wecken, kam aber nach einigen Minuten blaß vor Entrüstung zurück. Denn als er den beiden gesagt, sie
[46] möchten aufstehen, der Feind greife die Stadt an und es werde Generalmarsch geschlagen, hatten sie versetzt, sie würden liegen bleiben. Und als er mit Nachdruck seine Botschaft wiederholt, hinzufügend, sie würden ihn wohl nicht recht verstanden haben, war ihm der eine ungeduldig in die Rede gefallen und hatte gerufen: Ja doch! Er solle sich doch deswegen keine unnütze Sorge machen, die Sache draußen werde schon ohne sie vonstatten gehen, und wirklich waren beide nicht zum Aufstehen zu vermögen gewesen.
Nachdem wir etwa vierzehn Tage lang in einer stumpfen Erwartung hingelebt hatten, hörten wir von französischen Parlamentariern, die mit verbundenen Augen zur Stadt hereingeleitet worden seien und bald darauf geschah, was bekannt genug ist. Der Fall von Magdeburg war schlimmer als die verlorene Schlacht. Denn daß sich alte ermüdete Geister im offenen Felde wider Napoleon nicht zu helfen gewußt hatten, bewies doch eigentlich nur die Überlegenheit, die dem Genie immer beiwohnt. Allein ganz anders verhielt es sich hinter den Wällen einer mit zweiundzwanzigtausend Mann Garnison und Vorräten aller Art wohlversehenen Stadt einem Feinde gegenüber, der nicht einmal Belagerungsgeschütz mit sich führte. Hier hätte eine ganz gewöhnliche Pflichterfüllung zugelangt. Und wollte man auch diese zu schwer für einen halbkindisch gewordenen Greis finden, so war doch
der Umstand einzig in der Kriegsgeschichte zu nennen, daß unter den achtzehn Generalen und höheren Offizieren, aus denen Kleist seinen Rat zusammengesetzt haben soll, nur einer der Kapitulation zu widersprechen wagte.
(...)
Die Jugend wird, bis sie in das öffentliche Leben übertritt, erzogen durch die Familie, durch die Lehre, durch die Literatur. Als viertes Erziehungsmittel trat für die Generation, welche wir betrachten, der Despotismus hinzu. Die Familie hegt und pflegt sie, die Lehre isoliert sie, die Literatur wirft sie wieder in das Weite. Uns gab der Despotismus die Anfänge des Charakters. Ich werde in den folgenden Abhandlungen von diesen vier Erziehungsmitteln reden, mit der Familie aber den Anfang machen.
Bei der Charakteristik der älteren deutschen Familie werde ich nicht von vornehmen Häusern, oder von solchen Gemeinschaften, worin ausgezeichnete Eltern, Freunde und Hausgenossen einen gesteigerten geistigen Zustand hervorbrachten, die Züge entlehnen,
sondern meine Absicht ist, den Mitteldurchschnitt der damaligen deutschen Häuslichkeit zu schildern. Wie die Familie aussah, wenn sie weder arm noch reich war, weder zu den Proletariern noch zu den Sommitäten gehörte, wenn die vier Wände des Hauses Verstand, Einsicht, Gesinnung umschlossen, ohne daß gleichwohl diese Eigenschaften sich zur Höhe der Berühmtheit emporbrachten, werde ich anzugeben versuchen. Denn gerade solche Umstände haben beides geliefert, einmal das
Niveau der Jugend, welches beschrieben werden soll, und dann auch wieder die Mehrzahl unserer größten Denker und Dichter. Von diesen nenne ich, wie sie mir eben einfallen: Reinhold Forster, Leibniz, Lessing, Schiller, Goethe, Hegel, Fichte, Klopstock, denen noch viele beizugesellen wären.