Selbstkritische Memoiren - gibt es die überhaupt?

Louis63

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Memoiren von Politikern, Militärs, Wirtschaftsführern, von Mächtigen überhaupt sind in aller Regel reine Selbstrechtfertigungsschriften. In aller Regel? Mir fällt jedenfalls kein Beispiel ein, in der ein Autobiograph wirklich "unbestechlich" selbstkritisch mit seinem Leben, seinen Taten, seinem Wirken umgeht. Nur der Grad des kritischen Urteils über die eigene Vergangenheit und das eigene Tun unterscheidet sich. Selbstkritik in einzelnen Details, in Nebensächlichkeiten - bestenfalls! -, aber eigentlich habe man immer auf der richtigen Seite gestanden ... Wessen Fazit lautet schon einmal sinngemäß: "Im Ganzen betrachtet - habe ich kläglich versagt!"

Fallen Euch Gegenbeispiele ein?
Welche Memoiren und Erinnerungswerke sind anders, als von mir dargestellt?
Könnt Ihr mir selbstkritische Memoirenschreiber nennen?
 
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Die, die im Ganzen kläglich versagten, werden keine Memoiren geschrieben haben. Wer wird sich schon selbst öffentlich zerfleischen.
Wer Memoiren schreibt, ist in erster Linie eitel, hält sich selbst für so wichtig, dass er sein Leben unbedingt für alle Zeiten festhalten muss. Solche Menschen machen, in ihrem Selbstbild keine Fehler, nur andere sind Schuld, wenn etwas schief gelaufen ist.
 
Schon irgendwie recht, aber selbstkritisch und selbst-demontierend kann eine Autobiographie schon auch sein. Ich habe einmal gelesen und notiert, daß Sartre in seiner Autobiographie (Anfang 1960er Jahre) den Beginn seiner (infantilen) Schreibneurose beschreibe und aufgrund des frühen Todes seines Vater meinte, kein Überich und mithin keine Schuldgefühle entwickelt zu haben, entsprechend hätte er infolge seines "höchst unvollstädigen Ödipuskomplexes" keinen Aggressionstrieb entwickelt. Diese Psychologisierung fand ich freilich nicht sehr überzeugend, aber seine Konstruktion paßt schon auch irgendwie in die Zeit.
An politisches Statements, wie etwa die leidliche Auseinandersetzung mit Camus (z. B. Sartre und Camus ? Wie sich mit der Zeit der Blick ändert ? der Freitag) kann ich mich leider nicht erinnern.
 
Diese Beißhemmnis - gegen sich selbst -, ist natürlich nachvollziehbar. Und Du hast sicherlich einen entscheidenden psychologischen Punkt genannt: die Eitelkeit bei der Selbstbespiegelung. Doch umso mehr die Frage:
Wer brachte es fertig, aufrichtig selbstkritisch zu schreiben? Zumindest ansatzweise, oder auch noch ein bisschen mehr.
 
Hm, und Casanova?

Ich finde, dass er zumindest rücksichtsloser mit sich umging als Wilhelmine von Bayreuth und der Duc de Croy. Wobei wohl alle diese Memoiren nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren.
In wiefern Tagebücher und Memoiren selbstschmeichelnd bzw. voller Selbstmitleid sind, kann man eigentlich sowieso primär im Vergleich mit fremden Zeugnissen erkennen. Sehr aufschlussreich fand ich bspw. die Einschätzungen Thiebaults über Graf Lehndorff, dessen Tagebuch eine spannende Quelle ist, ihn aber vor sich selbst primär als Opfer darstellt (vom König verkanntes Genie).
 
Schon irgendwie recht, aber selbstkritisch und selbst-demontierend kann eine Autobiographie schon auch sein. Ich habe einmal gelesen und notiert, daß Sartre in seiner Autobiographie (Anfang 1960er Jahre) den Beginn seiner (infantilen) Schreibneurose beschreibe und aufgrund des frühen Todes seines Vater meinte, kein Überich und mithin keine Schuldgefühle entwickelt zu haben, entsprechend hätte er infolge seines "höchst unvollstädigen Ödipuskomplexes" keinen Aggressionstrieb entwickelt. Diese Psychologisierung fand ich freilich nicht sehr überzeugend, aber seine Konstruktion paßt schon auch irgendwie in die Zeit.
Auch das, würde ich als reine Eitelkeit bezeichnen. Nach dem Motto: "Was bin ich doch für eine interessante und vielschichtige Persönlichkeit." Echte Fehler, die er begangen hat, schildert er damit nicht.
 
naja ich kenne zwar keine die ganze biografien kritisch über sich schrieben aber viele berühmte erfinder die ihre "dinge" bereuten wie z.b Michail Timofejewitsch Kalaschnikow obwohl jeder seine erfindung kennt, war er bestürzt über den schaden die sie anrichtet.
 
naja ich kenne zwar keine die ganze biografien kritisch über sich schrieben aber viele berühmte erfinder die ihre "dinge" bereuten wie z.b Michail Timofejewitsch Kalaschnikow obwohl jeder seine erfindung kennt, war er bestürzt über den schaden die sie anrichtet.
Damit bringt er aber auch nur zum Ausdruck, dass es Andere waren, die seine schöne Knarre so missbraucht haben. Als Selbstkritik kann man das auch nicht bezeichnen. Es wäre schon ziemlich naiv von ihm, wenn er bestürzt darüber wäre, dass eine Waffe Menschen tötet.
 
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Damit bringt er aber auch nur zum Ausdruck, dass es Andere waren, die seine schöne Knarre so missbraucht haben. Als Selbstkritik kann man das auch nicht bezeichnen. Es wäre schon ziemlich naiv von ihm, wenn er bestürzt darüber wäre, dass eine Waffe Menschen tötet.

stimmt daher war ich mir auch nicht ganz sicher ob es reinpasst, also wohl eher nicht :).
 
Die vom Brissotin genannten Beispiele (Wilhelmine von Bayreuth, Duc de Croys) scheinen wirklich nicht schlecht zu sein. Danke! Aber man muss offensichtlich schon weit zurückgreifen ...

Um noch etwas Feuer in die Diskussion zu bringen, will ich mal meinen Favoriten für das andere Ende der Skala nennen (was Aufrichtigkeit und Kritikfähigkeit der Memoiren betrifft): Franz von Papen, Der Wahrheit eine Gasse (1952). Hier ist die Dreistigkeit der Titelgebung schon ein besonderes Schelmenstück!
 
Bei Memoiren geht es i.d.R. darum, die Deutungshoheit über seine Leistungen zu behalten und die Zeitgenossen/Nachwelt in der Deutung der Leistungen zu beeinflussen. Von daher wird man höchst selten, insbesondere nicht aus den Reihen der Politik, echte Selbstkritik finden (allenfalls mit einem dicken ABER versehene). Bei Literaten könnte das etwas anderes sein, wobei hier die Memoiren allerdings auch mal eine literarische Spielerei sein können. Als Variante hiervon unechte Memoiren, bei denen der Memoirenschreibende nur ein lyrisches Ich ist.
 
Falls es auch etwas aus der Antike sein darf, möchte ich auf Augustinus' "Confessiones" (Bekenntnisse) hinweisen, die man wohl zumindest im weitesten Sinne auch als Memoiren bezeichnen kann, wenngleich ich nie so recht weiß, was ich davon halten soll. In den ersten zehn der insgesamt dreizehn Bücher (die letzten drei bestehen aus recht ermüdend zu lesenden Heruminterpretierereien und Allegorisierungen der 7-Tage-Schöpfungsgeschichte am Beginn von Buch Genesis) erzählt er seine Kindheit und Jugendjahre bis zu seiner Bekehrung zum "wahren Glauben". Dabei schildert er offenherzig seine Verfehlungen und Jugendsünden, wie er nach irdischem Ruhm und irdischen Genüssen strebte und sich der (aus christlicher Sicht) Irrlehre des Manichäismus zuwandte. Zumindest auf den ersten Blick also könnte man meinen, dass er heftige Selbstkritik übt. Dabei vermeidet er es auch, von einem allzu hohen Ross herab zurückzublicken, sondern räumt ein, noch einen langen Weg vor sich zu haben.
Trotzdem blieb bei mir ein schaler Nachgeschmack. Demut, Reue und das Eingestehen eigener Fehler und Schwächen gehörten schließlich seit jeher zu den christlichen Tugenden, aber es ist nur ein schmaler Grat zwischen aufrichtig zerknirschter Selbstentblößung einerseits und Eitelkeit und Selbstgerechtigkeit andererseits, die darin besteht, seine eigene Demut und Selbstzerknirschung zu präsentieren.

Das negative Gegenbeispiel ist die Autobiographie von Flavius Iosephus: Wie er, der Führer der Aufständischen Galiläas im Jüdischen Krieg, da versucht, dem Leser weiszumachen, er sei nur Anführer geworden, um die Galiläer vom Aufstand abzuhalten, und habe in Wahrheit immer nur das Interesse Roms und des Königs Herodes Agrippa II. im Auge gehabt, ist schon ein starkes Stück Dreistigkeit.
 
Wie er, der Führer der Aufständischen Galiläas im Jüdischen Krieg, da versucht, dem Leser weiszumachen, er sei nur Anführer geworden, um die Galiläer vom Aufstand abzuhalten, und habe in Wahrheit immer nur das Interesse Roms und des Königs Herodes Agrippa II. im Auge gehabt, ist schon ein starkes Stück Dreistigkeit.

Ist zwar schon länger her, dass ich den Jüdischen Krieg gelesen habe, aber an eine solche Argumentation kann ich mich nicht erinnern.
 
Im "Jüdischen Krieg" argumentiert er auch nicht so, sondern in seiner später entstandenen Autobiographie.
 
Deren Existenz war mir nicht bekannt.
Was Augustinus angeht: Es muss nicht unbedingt Eitelkeit gewesen sein. Selbst Petrus wird ja in Evangelien und Apostelgeschichte heftig kritisiert. Nichtsdestotrotz ist seine Führerschaft als Sprecher der Jünger gegenüber Jesus bzw. nach Jesu Tod (Auferstehung und Himmelfahrt) unumstritten. Für mich ist damit eine klare Botschaft verbunden: Der Mensch ist schwach aber Gott verzeiht, inbesondere dann, wenn der Mensch bereits ist, sich zum besseren zu wenden. So würde ich auch Augustinus' Selbstbetrachtungen werten: Heilspropaganda und "die Manichäer sind eine fehlgläubige Sekte".
 
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Seine Leser waren ja auch in der Hauptsache Römer, da konnte er schlecht schreiben, dass er mal ihr Feind war.
 
Verschwiegen hat er das ja nicht. In seinem ersten Werk, dem "Jüdischen Krieg", versuchte er auch noch gar nicht, sich für sein Verhalten zu rechtfertigen, sondern schrieb lediglich über sich selbst in der 3. Person als einer der Führer der Aufständischen.
 
Welche Memoiren und Erinnerungswerke sind anders, als von mir dargestellt?
Könnt Ihr mir selbstkritische Memoirenschreiber nennen?
Karl Leberecht Immermann (1796-1840) Memorabilien:
So waren denn die Bürger wohlbereitet auf Erdulden und Ausharren, und es kam nun darauf an, was der Gouverneur tun würde. Ende Oktober hieß es eines Morgens plötzlich, man könne nicht mehr zum Tore hinaus, weil die Franzosen davorständen. Jetzt also war die Stadt belagert, und wir Kinder wurden mit in den Belagerungsstand erklärt. Der Vater ließ uns nämlich abends nicht mehr zu Bette gehen, sondern der Reihe nach in den Kleidern auf einem Strohlager niederlegen, damit wir gleich munter und marschfertig seien, wenn das Bombardement angehe und Feuer ausbreche.
Ney machte an einigen Abenden schwache Angriffe auf das Krökentor und die Hohe Pforte, damit denn doch die Sache den Schein von so einer Art von Kriegsbegebenheit gewinne. Generalmarsch wurde geschlagen, ein halbes Stündchen an beiden Toren geschossen und zwei oder drei Granaten fielen in die Stadt. Das war das Ganze. Der französische Marschall wußte, mit wem er zu tun hatte und wollte einem Platze nicht schaden, den er schon für das Eigentum seines Herrn ansah. Bei einer jener Gelegenheiten sollten wir zugleich erfahren, wie tief sich das Verderben in den Stand eingefressen hatte, von welchem alles Heil des Vaterlandes erwartet worden war. Zwei Offiziere lagen bei uns in Quartier; zwei junge Lieutenants. Als nun in einer Nacht das Schießen begann und die Trommel zum Generalmarsch gerührt wurde, verfügte sich mein Vater zu den beiden hinunter, um sie zu wecken, kam aber nach einigen Minuten blaß vor Entrüstung zurück. Denn als er den beiden gesagt, sie[46] möchten aufstehen, der Feind greife die Stadt an und es werde Generalmarsch geschlagen, hatten sie versetzt, sie würden liegen bleiben. Und als er mit Nachdruck seine Botschaft wiederholt, hinzufügend, sie würden ihn wohl nicht recht verstanden haben, war ihm der eine ungeduldig in die Rede gefallen und hatte gerufen: Ja doch! Er solle sich doch deswegen keine unnütze Sorge machen, die Sache draußen werde schon ohne sie vonstatten gehen, und wirklich waren beide nicht zum Aufstehen zu vermögen gewesen.
Nachdem wir etwa vierzehn Tage lang in einer stumpfen Erwartung hingelebt hatten, hörten wir von französischen Parlamentariern, die mit verbundenen Augen zur Stadt hereingeleitet worden seien und bald darauf geschah, was bekannt genug ist. Der Fall von Magdeburg war schlimmer als die verlorene Schlacht. Denn daß sich alte ermüdete Geister im offenen Felde wider Napoleon nicht zu helfen gewußt hatten, bewies doch eigentlich nur die Überlegenheit, die dem Genie immer beiwohnt. Allein ganz anders verhielt es sich hinter den Wällen einer mit zweiundzwanzigtausend Mann Garnison und Vorräten aller Art wohlversehenen Stadt einem Feinde gegenüber, der nicht einmal Belagerungsgeschütz mit sich führte. Hier hätte eine ganz gewöhnliche Pflichterfüllung zugelangt. Und wollte man auch diese zu schwer für einen halbkindisch gewordenen Greis finden, so war doch der Umstand einzig in der Kriegsgeschichte zu nennen, daß unter den achtzehn Generalen und höheren Offizieren, aus denen Kleist seinen Rat zusammengesetzt haben soll, nur einer der Kapitulation zu widersprechen wagte.
(...)
Die Jugend wird, bis sie in das öffentliche Leben übertritt, erzogen durch die Familie, durch die Lehre, durch die Literatur. Als viertes Erziehungsmittel trat für die Generation, welche wir betrachten, der Despotismus hinzu. Die Familie hegt und pflegt sie, die Lehre isoliert sie, die Literatur wirft sie wieder in das Weite. Uns gab der Despotismus die Anfänge des Charakters. Ich werde in den folgenden Abhandlungen von diesen vier Erziehungsmitteln reden, mit der Familie aber den Anfang machen.
Bei der Charakteristik der älteren deutschen Familie werde ich nicht von vornehmen Häusern, oder von solchen Gemeinschaften, worin ausgezeichnete Eltern, Freunde und Hausgenossen einen gesteigerten geistigen Zustand hervorbrachten, die Züge entlehnen, sondern meine Absicht ist, den Mitteldurchschnitt der damaligen deutschen Häuslichkeit zu schildern. Wie die Familie aussah, wenn sie weder arm noch reich war, weder zu den Proletariern noch zu den Sommitäten gehörte, wenn die vier Wände des Hauses Verstand, Einsicht, Gesinnung umschlossen, ohne daß gleichwohl diese Eigenschaften sich zur Höhe der Berühmtheit emporbrachten, werde ich anzugeben versuchen. Denn gerade solche Umstände haben beides geliefert, einmal das Niveau der Jugend, welches beschrieben werden soll, und dann auch wieder die Mehrzahl unserer größten Denker und Dichter. Von diesen nenne ich, wie sie mir eben einfallen: Reinhold Forster, Leibniz, Lessing, Schiller, Goethe, Hegel, Fichte, Klopstock, denen noch viele beizugesellen wären.

meinst was in dieser Art? Es gäbe noch ein paar weitere Literaten, z.B. Mark Twain Leben am Mississippi
 
Memoiren von Politikern, Militärs, Wirtschaftsführern, von Mächtigen überhaupt sind in aller Regel reine Selbstrechtfertigungsschriften. In aller Regel? Mir fällt jedenfalls kein Beispiel ein, in der ein Autobiograph wirklich "unbestechlich" selbstkritisch mit seinem Leben, seinen Taten, seinem Wirken umgeht. Nur der Grad des kritischen Urteils über die eigene Vergangenheit und das eigene Tun unterscheidet sich. Selbstkritik in einzelnen Details, in Nebensächlichkeiten - bestenfalls! -, aber eigentlich habe man immer auf der richtigen Seite gestanden ... Wessen Fazit lautet schon einmal sinngemäß: "Im Ganzen betrachtet - habe ich kläglich versagt!"

Fallen Euch Gegenbeispiele ein?
Welche Memoiren und Erinnerungswerke sind anders, als von mir dargestellt?
Könnt Ihr mir selbstkritische Memoirenschreiber nennen?
So ganz verstehe ich dein Anliegen nicht. Wer soll denn ein Buch lesen, wie soll sich ein Buch verkaufen, wenn dessen Fazit lautet: "Ich habe kläglich versagt!"? Wie masochistisch veranlagt muss ein Autor sein, um so ein Buch zu veröffentlichen? Es sei denn, es ist als Werbegag gedacht, um Aufmerksamkeit zu erregen ... aber das ist schon wieder ein eigenes Thema.
Und so fällt mir - natürlich - kein Beispiel aus der Politik ein, denn ich gehe mit dieser Meinung völlig konform:
Bei Memoiren geht es i.d.R. darum, die Deutungshoheit über seine Leistungen zu behalten und die Zeitgenossen/Nachwelt in der Deutung der Leistungen zu beeinflussen. Von daher wird man höchst selten, insbesondere nicht aus den Reihen der Politik, echte Selbstkritik finden (allenfalls mit einem dicken ABER versehene).
Ich habe einige Memoiren aus der Politik der napoleonischen Zeit gelesen. Wirkliche Selbstkritik ist kaum vernehmbar. Das kann aber auch gar nicht anders sein, die Zeit des Umbruchs - Revolution, Konsulat, Kaiserreich, Restauration - hat so manche Gestalt der Geschichte vor vielfältige Herausforderungen gestellt.

Nehmen wir den großen Korsen selbst. Er wusste, dass das, was er Las Cases, Montholon und Co. auf St. Helena in die Feder diktierte, veröffentlicht wurde. Neben massivsten Schuldzuweisungen an andere, auch ganz nahe Mitstreiter wird auch Selbstkritik deutlich: Ja, er hätte besser den oder den General verwenden, besser Narbonne statt Caulaincourt als Minister einsetzen sollen ... Was bringt diese Selbstkritik? Nichts, da er in der Summe alles richtig gemacht, nur widrige Umstände (Wetter), die Engländer und jede Menge Verräter oder unfähige Berater alles vergeigt haben. Der Zweck wird damit überdeutlich.

Und der Zweck ist es, der politische Menschen zur Feder greifen ließ/läßt. Unterschieden werden muss, ob das Geschriebene noch zu Lebzeiten erschien, oder z.B. auf 30 Jahre nach dem Tod des Schreibers oder gar nicht zur Veröffenlichung bestimmt war.

Nehmen wir Polizeiminister Savary und Polizeipräfekt Pasquier, die sich beide 1812 beim versuchten Staatsstreich von General Malet verhaften ließen. Eigentlich - möchte man meinen - ein Unding und der Herzog von Otranto wird sich sicherlich auf die Schenkel geklopft und köstlich amüsiert haben, dennoch, ist diese Tatsache Grund, dass beide sich in ihren Memoiren zerfleischen?

Bleiben wir bei Savary. Er geriet in der Restauration unter Druck, durfte gar die Tuilerien nicht betreten. Seine Memoiren erschienen noch zu Lebzeiten. Kann es wundern, dass er wortreich auf mehren Seiten zur Kenntnis gibt, warum er den Fürsten von Bénévent Ende März 1814 nicht zur Abreise aus Paris zwang?

Oder nehmen wir Metternichs Darstellung des Gesprächs mit Napoleon vom 26. Juni 1813. Sein Zeugnis steht als Teilnehmer des Gesprächs gegen die Darstellung von Fain und Caulaincourt, die nur informiert wurden. Damit besitzt Metternich Deutungshoheit, egal was er dem Kaiser möglicherweise in den Mund gelegt hat.

Deutungshoheit besitzt auch Caulaincourt, der in vielen Szenen, in denen er vom Kaiser berichtet einziger Zeuge war. Seine Memoiren sind erst im 20. Jahrhundert erschienen. Dennoch gibt es auch hier Fragen z.B. um das Fürstentreffen von Erfurt. Seine Rolle ist zwiespältig, als Berater des Kaisers und dennoch Wissender um die Vorgänge im Salon der Fürstin von Turn und Taxis, in dem sich Alexander I. und Talleyrand allabendlich trafen, weil er als Botschafter in Russland zugegen war. Damit wird die ganze Wahrheit (Rolle) nicht abgebildet.

Mein Fazit aus der Lektüre von Memoiren ist, dass man generell vorsichtig mit zweifellos - schon menschlich begründet - subjektiver Darstellung von historischen Vorgängen sein muss. Erst der Vergleich mit anderen Zeugnissen/Quellen ergibt ein möglicherweise richtiges Bild. Im Fall - wie zu Metternich geschildert - bleibt es dem Leser überlassen, zu glauben, was er liest.

Grüße
excideuil
 
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