Der Brockhaus von 1837 soll verdeutlichen, dass die Begriffe wie Türkei und Türke im frühen 19. Jahrhundert, bevor der Nationalismus in Mode kam, noch ganz anders verwendet wurden als im 20. Jahrhundert bzw. nach 1918. Die Bewohner des osmanischen Bosnien mussten sicherlich nicht im Brockhaus nachschlagen, um zu erfahren, dass sie im Eyalat Bosnien und im Sanschak Novi Pasar leben.
Einen gemeinen Bosnier hat es im 19. Jahrhundert und danach sicherlich nie gegeben, allein schon weil Bosnien zu der Zeit mehrsprachig und multireligiös war.
Im 19. Jahrhundert wurde die Begriffe Muslim und Türke durchaus als synonym verwendet und vielfach identifizierten sich Muslime mit slawischer Muttersprache als Türken - teilweise beteiligten sich Muslime vom Balkan trotz albanischer oder slawischer Sprache auch jungtürkischen Nationalismus. Zu beachten ist auch, dass viele slawisch-sprachige Muslime nach der Eroberung Bosnien durch KuK nach Anatolien flohen und sich später an der türkischen Ethnogenese in der heutigen Türkei beteiligten - d.h. Türken wurden oder blieben.
Möglichkeiten zur nationalen Selbstidentifikation gab es natürlich noch andere, z.B. solche modernen Trendnationalismen wie den Jugoslawismus.
Gut, nehmen wir uns das an.
Du unterstellst zum einen dass es nicht ungewöhnlich gewesen wäre, dass sich Bosnier zu dieser Zeit mit der Bezeichnung "Türke" identifiziert hätten um mehr oder minder im Nachsatz hinterher zu werfen, dass es den "gemeinen Bosnier" aber nicht gegeben hat, weil multireligiös und mehrsparchig.
Das nennt sich "contradictio in adiecto", würde ich meinen, denn der Anspruch der allgemeinen Gültigkeit des Narrativs, setzt ja durchaus vorraus, dass es den Normalbosnier eben doch gab und konstituierte er sich nur dadurch, dass er sich in dem Narrativ einig war irgendwie "Türke" zu sein, wenn gleich er wohl kaum hätte erklären können, wie er denn "türkisch" war.
Der Brockhaus von 1837 ist kein Beleg dafür, als was genau sich die bosnische Bevölkerung in nämlichem Zeitrahmen betrachtet oder benannt hat, sondern dafür wie das Konstrukt in Mitteleuropa genannt wurde. Das dabei religiöse und ethnische Konnotationen im 19. Jahrhundert gerne einmal durcheinander gehauen wurden, wundert mich so überhaupt nicht, ist ja etwa ganz das Gleiche bei den Termini "Hindu" und "Inder" und zeugt in diesem Sinne ersmtmal nur von geringer Differenzierungsfähigkeit der Zuschreibenden.
Entsprechend würden mich Quellen interessieren, aus denen hervor geht, dass sich im nämlichen Zeitraum die Bevölkerung Bosniens selbst mehrheitlich für explizite "europäische Türken", wie du schriebst, hielt, nicht etwa für muslimische Slawen oder Untertanen des Osmanischen Sultans oder dergleichen.
Ich halte das nämlich für nachgerade unwahrscheinlich.
Das es, im besonderen unter den intellektuellen Eliten vereinzelt Persönlichkeiten gab, die sich eine entsprechende Identität zulegten, will ich nicht bestreiten, zumal das Osmanische Reich von seinem Aufbau her insgesamt ja auch immer auf Integration der Eliten an der Peripherie ausgelegt war.
Ich will auch nicht bestreiten dass es vereinzelte Bewohner Bosniens gab, die sich eine dezidiert ethnische Identität aus Türken zuzulegen versuchten (das sind ja alles Phänomene, die es im übrigen Europa auch hat) oder dass es nach der Besatzung diverse vormalige Bewohner Bosniens (nämlich vorwiegend diejenigen, die ihre Privilegien dadurch los wurden und sich daher mit der Hohen Pforte einmal besser standen, als mit Wien und Budapest), sich nach Anatolien aufmachten.
Mag alles sein.
Nur wenn du das als Argument heranziehst, um damit nachzuweisen, dass das Narrativ vom "Türkenjoch" für die gesamte Bevölkerung Bosniens absurd gewesen wäre, stilisierst du das damit zum Massenphänomen und das wiederrum möchte ich anzweifeln.
Wie gesagt, mit einem Postulat, nachdem sich ein Großteil der Bevölkerung durch Österreich-Ungarn nicht unbedingt "befreit" fühlte, kann ich durchaus mitgehen.
Völlig klar, dass die muslimischen Bosnier eher Bezugspunkte zum Osmanischen Reich oder zu Serbien und die ortodoxen Bosnier, jedenfalls zu Serbien hatten, als zur Doppelmonarchie.
Das gerade die ortodoxen Bosnier aber das Osmanische Reich so unbedingt vermisst hätten und sich selbst für europäische Türken hielten, halte ich für ein Gerücht.
Wie es mit den abhängigen muslimischen Kleinbauern stand, vermag ich da nicht zu beurteilen, immerhin verhieß die Aufnahme in den mittel-osteuropäischen Kontext im rahmen Österreich-Ungarns ja wenigstens einen perspektivischen Abbau der Feudallasten.
Ob dieser Bevölkerungsteil deswegen jetzt unbedingt Österreicher oder Ungarn werden wollte, sei mal dahin gestellt, aber für ebenso bezweifelnswert halte ich persönlich die Vorstellung, dass sie der Osmanischen Herrschaft allzu lange nachgetrauert haben.
Denn wenn es sich mit den kleinbäuerlichen Schichten in diesem Gebiet auch nur annähernd so verhält, wie im restlichen Europa, hielten die sich erst für Bauern, dann für Bewohner Bosniens, dann irgendwann man für Muslime und dann am Ende vielleicht noch für Untertanen des Sultans, aber sicherlich nicht für "europäische Türken".
Wie ich das hier sehe (und ich lasse mich gerne durch einschlägige Quellen eines besseren belehren), versuchst du hier die Positionen und Identitäten abseitiger Minderheiten für mehrheitsfähig zu erklären und argumentierst auf dieser Grundlage.
Offensichtlich hat Deutschland die Narrative slowenischer und kroatischer Nationalismen übernommen. Warum derartige Begrifflichkeiten auch im deutschsprachigem Diskurs fast derart omnipräsent sind.
Den Zusatz "westlich" habe ich gewählt, weil ich die Konflikte am Balkan für eine Art Ost-West-Konflikt halte - vor dem Hintergrund, dass Serbien meistens mit Russland verbündet war, während Deutschland und Österreich-Ungarn mit den westlichen Südslawen, namentlich den Kroaten und Slowenen verbündet war.
1914 stehen auf der einen Seite ein serbisch-russisches Bündnis und auf der anderen Seite ein Bündnis bekanntermaßen aus Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich - also die beiden gar nicht der Westen, sondern die Mittelmächte. Die Balkankriege der 1990er sind auch eine Art neuer Ost-West-Konflikt.
Gut, du bist ein Freund offener Worte, ich auch, also Tacheles:
Oben hast du noch postuliert, das "Großserbentum" bzw. "Großserbien" oder "Großserben" seien mehr oder minder reine "westliche Propagandabegriffe" und als Westen definierst du hier Deutschland, Österreich und Ungarn bzw. deren Politik, Presse, veröffentlichte oder öffentliche Meinung oder was auch immer.
Mit einem Blick auf die Landkarte, möchte ich zunächst anmerken, dass mich die Verortung Ungarns im dezidierten Westen, sowohl von diversen Teilen Jugoslawiens aus, als auch im Kontext der frühen 1990er Jahre sehr erheitert hat.
Dann, hast du damit ursprünglich nichts anderes postuliert, als dass es ein Großserbien oder Großserbentum überhaupt nicht gab, bis die westliche Propaganda, also die politik und Presselandschaft Deutschlands, Österreichs und Ungarns diese denkfiguren erfunden und in die Köpfe der Slowenen und Kroaten verpflanzt haben um Serbien zu schaden.
Ich muss dir ganz ehrlich sagen, die Theorie halte ich für aluhut-reif.
Man wird einmal akzeptieren müssen, dass es diese Denkfiguren in Slowenien und Kroatien einmal gegeben hat und gibt.
Mag sein, dass sich diese Auffassungen in Deutschland durchgesetzt haben. Ich frage mich nur, warum das jetzt illegitimer sein soll, als wenn sich eher in Belgrad kursierende Auffassungen durchgesetzt hätten.
Ich würde meinen, dass von Slowenischer und Kroatischer Seite dabei nicht mehr und nicht minder auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker abstellte, als es im Prinzip der ganze südslawische Nationalismus tat, so lange entsprechende Gebiete noch unter osmanischer, österreichisch-ungarischer oder italienischer Kontrolle standen.
Das Jugoslawentum hatte dabei sicherlich eine ganz ähnliche Verklmmerungsfunkion, wie weiland die Monarchie in Österreich-Ungarn, auf die sich alle Völker, die das Länderkonglomerat bewohnten, noch irgendwie als Modus Vivendi verständigen konnten. Aber das war eben offensichtlich in beiden Fällen nicht für die Ewigkeit.
Die Ansicht, die jugoslawischen Zerfallskriege seien eine neue Art Ost-West-Konflikt gewesen, dürftest du exklusiv haben, denn einen größeren, wirklich Handlungsfähigen Block im Osten gab es ja nicht mehr.
Warum man in Deutschland, Österreich oder Ungarn so scharf auf den Zerfall Jugoslawiens gewesen sein sollten, müsstest du mir auch mal erklären.
Auf die zu erwartenden Flüchtlinge war sicherlich niemand scharf, auch nicht auf die zu erwartenden Nachfolgekonflikte, die komplizierte Gestaltung der Beziehungen zu den verschiedenen neu entstehenden Akteuren und in Wien und Budapet hatte man sicher auch besseres zu tun, als sich einen ausgedehnten Bürgerkriegsraum direkt hinter der eigenen Grenze zu wünschen.
Für alle drei Staaten, wäre vom strategischen Standpunkt her ein weiterhin vereinigtes Jugoslawien, mit dem man sich, nachdem Russland als ernsthafte machtpolitische Alternative erstmal ausfiel, sicherlich gut hätte stellen können, wahrscheinlich wünschenserter und von größerem Wert gewesen.