Sicht der Zeitgenossen auf das HRR im 17./18. Jh.

Wie wohl die Geschichte Europas verlaufen wäre, wenn in der Mitte in der selben Zeitspanne ein aggressiver Nationalstaat (wie die anderen) existiert hätte?


Vermutlich hätte dieses Gebilde mit einer absolutistischen Kaisergewalt an der Spitze und ohne halbsouveräne Gliedstaaten etwas länger Bestand gehabt und vielleicht sogar Napoleon überlebt. Die Zeit des Imperialismus und der Weltkriege hätte es wohl nicht überstanden und wäre ähnlich wie die Donaumonarchie und das Osmanische Reich in seine nationalen Bestandteile zerlegt worden.
 
Immerhin eine Stimme aus dem 18.Jh., auch wenn wohl eher zu den Grabträgern des Alten Reiches zu rechnen, habe ich in Joseph von Görres gefunden.

Joseph von Görres 18.01.1798:
"Am 30.Dezember 1797, am Tage des Übergangs von Mainz, nachmittags um 3 Uhr, starb zu Regensburg in dem blühenden Alter von 955 Jahren, 5 Monaten, 28 Tagen sanft und selig an einer gänzlichen Entkräftung und hinzugekommenen Schlagflusse, bei völligem Bewusstsein und mit allen heiligen Sakramenten versehen, das heilige Römische Reich, schwerfälligen Angedenkens."
Rede "auf den Untergang des heiligen Römischen Reiches deutscher Nation" gehalten vor der patriotischen Gesellschaft in Koblenz.
Zitiert nach: "Heiliges Römisches Reich deutscher Nation - Altes Reich und neue Staaten..." Band 1 - Katalog - Sansteinverlag, Dresden, 2006


Auffällig ist der grelle Gegensatz zwischen der traurigen Stimmung von Goethes Mutter über das Ende des Reiches und die fast ätzende Häme, die aus Görres Worten spricht. Natürlich könnte man seine Rede als eine Prophezeiung werten, sie verdeutlicht zumindest, dass Johann Wolfgang von Goethes Ansicht über die Gelassenheit betreffend dem Ende des Reiches nicht ganz von der Hand zu weisen ist...:fs:
 
Chr. Martin Wieland 1793
Befände sich Teutschland in ebendenselben Umständen in denen sich Frankreich vor 4 Jahren befand - hätten wir nicht eine Verfassung, deren wohlthätige Wirkungen die nachtheiligen noch immer überwiegen, befänden wir uns nicht bereits im wirklichen Besitz eines großen Theils der Freyheit, die unsere westlichen Nachbarn erst erobern mußten - genössen wir nicht größentheils milder gesetzmäßiger und auf das Wohl der Unterthanen (mehr oder weniger) aufmerksamen Regierungen... so würden, anstatt daß es bloß bey Disposizionen zur Ansteckung blieb, die Symptome des Fiebers selbst ausgebrochen und das teutsche Volk aus einem bloßen theilnehmenden Zuschauer, schon lange handelnde Personen geworden seyn.
aus "Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlandes. 1793"
Quelle: Die großen Revolutionen im Südwesten Band 27 der Schriften zur politischen Landeskunde der Landeszentrale fpB BW


Die Freyheit der Deutschen als Muster für die Franzosen....

Irgendwie scheint mir, dass der übliche Blick auf die letzten Tages des HRR auch etwas ungerecht und falsch ist.
 
Eine ganz interessante und diesmal sogar ausländische Sicht auf das HRR fand ich jüngst in einem Buch, welches mit mir von Regensburg zurück kam. ;)

Es ist diesmal ein Franzose, der 1765 über das Heilige Römische Reich formulierte:

"Die feudale Regierung Deutschlands hat die weiseste angenommen, die möglich war. Man muß eine Verfassung von den Zielen her beurteilen, die sich die Menschen vornehmen müssen, wenn sie sich durch die Bindung der Gesellschaft miteinander vereinigen; wenn es das Ziel ist, alle Teile der Gesellschaft in dem Streben für die Erhaltung des Friedens, der Ordnung, der Freiheit, des Gehorsams und der Grenzen zu vereinen, dann wird man ohne Zweifel Nachteile der deutschen Regierungsform feststellen. Aber wenn man alle Mitglieder des Reiches betrachtet, die einander durch Verträge gebunden und durch permanente Verhandlungen in der Art des immerwährenden Kongresses miteinander verbunden sind, dann wird man sehen, daß diese freien und unabhängigen Mächte gar keine bessere Form hätten finden können, um den Frieden untereinander zu wahren und ihren Untergang zu verhindern."
(Hervorhebungen von mir.)

Dies formulierte der französische Schriftsteller Abbé Gabriel Bonnot de Mably.

Aus: "Reichsstadt und immerwährender Reichstag" Hrsg.: Martin Dallmeier - Fürst Thrun und Taxis Hofbibliothek - Zentralarchiv, Verlag Michael Lassleben, Kallmünz, 2001
Hier: Albrecht P. Luttenberger "Der immerwährende Reichstag zu Regensburg, das europäsische Mächtesystem und die politische Ordnung des Reiches" S. 11-12
 
Vorpommern ging nicht "langsam" in den Besitz eines anderen Staates über, sondern wurde von den Schweden während des 30-jährigen Krieges annektiert, weil das Reich zu schwach war, Schweden daran zu hindern. Gleiches galt für die schwedische Annexion der Gebiete zwischen Weser und Elbe (Hzm. Bremen, Fsm. Verden), die ebenfalls 1648 an Schweden fielen. Metz, Toul und Verdun wurden 1648 von Frankreich annektiert, das diese Gebietsteile wegen der Schwäche des Reichs schon 1552 besetzt hatte.
Zumindest Schweden wuchs damit aber ins Reich und löste diese Gebiete nicht aus dem Reichsverband herraus. Vielleicht liegt das schlicht daran, weil dann Schweden seit der 2. Hälfte des 17.Jh. die Siegesstraße verließ... ;)
 
goethe, zur auflösung des hrrdn 1806:

Dieses Zitat wird so ziemlich in jedem Buch über das HRR genannt. Ich kann es schon nicht mehr sehen. Die Frage jedenfalls, wie die Menschen die Auflösung des HRR annahmen, kann man sagen: die Hälfte war schockiert und trauerte dem Reich nach, der anderen Hälfte ging es wie Goethe.

Der bayerische Gesandte von Rechberg bspw. erklärte am 1. August 1806, er sei "erzürnt, dass er habe hier reisen müssen, um die Vernichtung des deutschen Namens zu unterzeichnen" (zit. n. Haas, HHStA Wien, Reichskanzlei, Akten der Prinzipalkommission, Fasz. 182d).

Der königlich preußische Gesandte, Graf von Goertz, der 1792 als kurbrandenburgischer Wahlgesandter an der Wahl des Kaisers teilgenommen hatte, sagte am Abend, als das Reich aufgelöst wurde: "Es war also der letzte Kaiser, der, den ich wählen half! – Erwarten konnte man diesen Schritt wohl, allein die Wirklichkeit ist darum nicht minder ergreifend und niederbeugend; sie schneidet die letzten Fäden der Hoffnung ab, an welche man sich zu halten suchte."

Die Jahrhunderte davor gab es zwei verschiedene Konzepte, mit denen man das HRR betrachtete: Die einen hielten es hoch, weil es schließlich als Römisches Reich die Herrin der Welt sei. Diese Ansicht hielt sich bis ins 17. Jh. hinein. Ein Reichsjurist formulierte sogar noch im 18. Jh., dass "das deutsche Reich" wegen dieser römischen Kaiserwürde "den Vorzug vor allen andern erlangte". (Zschackwitz 1748, 312).

Die anderen kritisierten es, weil es schwach war und die kaiserliche Zentralgewalt immer schwächer wurde. Man kritisierte den Egoismus der einzelnen Reichsstände. Dafür wurden hier ja schon mehrere Zitate genannt.
 
Schon in den 1780ern gab es Stimmen, die ganz ähnlich denen klangen, welche ein Reich in altem Glanze wiederauferstehen sehen wollten, wie es dann nach 1806 der Fall war.

"O Kaiser, Du von neunundneunzig Fürsten
Und Ständen wie des Meeres Sand
Das Oberhaupt, gib nur, wonach wir dürsten:
Ein deutsches Vaterland."
J.G.Herder: "An den Kaiser", Dezember 1780
*

In der Tat herrschte offensichtlich 1780 mit dem Tode Maria Theresias eine Art Aufbruchstimmung, da man von Kaiser Joseph II. einen kompletten Politikwechsel und Auswirkungen seiner aufklärerischen Auffassungen für ganz Deutschland erhoffte. Die hohen Erwartungen überwogen auch bei Nicolai, Wieland, Klopstock und Lessing - also einem großen Teil der intelletuellen Aufklärung.

*
Prof. Dr. Achim Aurnhammer (Uni Freiburg) und Prof. Dr. Barbara Beßlich (Uni Heidelberg): "Freiburg als Zentrum der süddeutschen katholischen Aufklärung zwischen Josephinismus und Frühliberalismus"
S.1
 
Das HRR als Anachronismus

Hallo alle zusammen,
ich habe eure Diskussion mit Spannung verfolgt und hoffe dass mir jemand mit folgender Frage weiterhelfen kann.

Ich lerne gerade über den jungen Goethe und seine Kritik an seiner eigenen Zeit um 1770 herum! Das Sinnbild des letzten Drittels des 18 Jh. ist laut Goethe ein extrem unfreies, unnatürliches und untätiges Dasein, das er nicht mehr ertragen konnte (und daher auch den diese Zeit kritisch darstellenden Götz von Berlichingen schrieb). Götz, die kämpferische Persönlichkeit aus der Vergangenheit sollte die Philister aus Goethes Zeit, die unter dem Druck des feudalen Staates ihre individuellen Freiheitsrechte aufgegeben haben, beschämen.

Jetzt blick ich hier nicht ganz durch und frage ich mich folgendes: Was war an der Gesellschaft um 1770 herum so unfrei und vor allem untätig und schläfrig? WER war (aus eigener Schuld) unfrei und von wem hat sich Goethe mehr Tatkraft gewünscht? Was war genau das Problem? Wer ist mit diesen Philistern gemeint, die auf ihre Freiheitsrechte verzichtet haben und um welche Art von individuellen Freiheitsrechten handelte es sich?

Es sind viele Fragen, die sich alle um den einen Punkt drehen.... Ich hoffe sehr, ihr könnt mir weiterhelfen! :) Vielen Dank schonmal!
LG, Ancita
 
Zuletzt bearbeitet:
@ Ancita

Ich verstehe nicht ganz, was Deine Fragen zur Unfreiheit mit Deinem Beitragstitel "Das HRR als Anachronismus" zu tun haben.

Ich hatte bis jetzt primär gedacht, dass Goethe seinen eigenen Lebensweg, wie er ihm mehr oder minder von seinem Vater nahegelegt wurde, als Unfreiheit empfand. Die Juristerei wurde ja zusehends weniger sein Hauptinteresse, sondern von seiner Dichtkunst verdrängt.

Als wichtige Familie in einer Reichsstadt, welche schonmal Ratsherren gestellt hatte, war eine juristische Laufbahn für die Karriere in der Heimatstadt sicherlich sinnvoll. Vielleicht mochte eben diesen Weg Goethe garnicht (auch wenn dann Weimar sogar noch provinzieller als die wichtige Reichsstadt Frankfurt war).

Doch hat das leider nichts mit diesem Thread hier zu tun.

Magst Du nicht Deinen Beitrag z.B. ins Unterforum "Kultur- und Philosophiegeschichte" verschieben und einen eigenen Thread daraus machen?

Untätigkeit und Unfreiheit ist für mich schwer greifbar. Wen meint er damit? Wer soll z.B. untätig gewesen sein? Meint er damit nicht vielleicht seine Unfähigkeit etwas an der Gesellschaft zu verändern? (Später als Minister saß er ja mit am Steuerrad eines Staates.)
 
Hey, danke für deine Antwort!

ich formuliere meine Frage nochmal um - es geht mir nämlich nicht um Goethe, der sich aus den Zwängen befreite, die ihm sein Vater auferlegt hatte. Er hat es immer ganz gut selbst hinbekommen, durchzusetzen, was er eigentlich wollte. Es geht darum dass Goethe Kritik an seinen Zeitgenossen geübt hat. Er hat sie als untätig und unfrei bezeichnet und gesagt, sie hätten unter dem Druck des feudalen Staates auf ihre Freiheitsrechte verzichtet. Was er damit meint, will ich ja gerade wissen! Das impliziert eine Kritik an den Zuständen im HRR (deshalb hab ich diese Frage auch hier gepostet...) und ich kann mir nicht erklären was mit diesen Formulierungen gemeint ist - da hast du vollkommen recht: sie sind schwer greifbar! Ich hoffe es gibt jemanden hier, der das irgendwie entschlüsseln kann....
 
Ich lese mich, wenn ich wieder Zeit habe nochmal juristisch ein.

Ich bin auf ein Werk von einem der ersten deutschen Archäologen gestoßen, welches sich wahrscheinlich recht anschaulich mit dem Thema der Landeshoheit im HRR beschäftigt:

Christian Ernst Hansel"Beleuchtung des von Herrn David Georg Struben ... herausgegebenen sogenannten vernichtigten Beweises der Teutschen Reichs=Stände völligen Landes=Hoheit vor dem sogenannten Interregno ... zu mehrerer Bevestigung ... und vertheydigten Landes=Hoheit des Hauses Hohenlohe" Nürnberg, Jonathan Felßeckers seel. Erben, 1762.

(gibt es digitalisiert - vielleicht was für Meister Repo :yes::winke:)
 
Jetzt blick ich hier nicht ganz durch und frage ich mich folgendes: Was war an der Gesellschaft um 1770 herum so unfrei und vor allem untätig und schläfrig? WER war (aus eigener Schuld) unfrei und von wem hat sich Goethe mehr Tatkraft gewünscht? Was war genau das Problem? Wer ist mit diesen Philistern gemeint, die auf ihre Freiheitsrechte verzichtet haben und um welche Art von individuellen Freiheitsrechten handelte es sich?

Viele Zeitgenossen im 18. Jh. betrachteten das Heilige Römische Reich als Anachronismus, ein lebender Leichnam, der sich überlebt hatte. Das gilt besonders für die liberalen Kräfte im Reich, die Ende des 18. Jh. stärker wurden, und einen Nationalstaat anstrebten, der ein politisch geeintes Volk umfassen sollte. Immerhin bestand das Reich vor der Französischen Revolution aus über 300 selbstständigen Territorien (ohne die Gebiete der Reichsritterschaft), was den Eindruck eines kaum überschaubaren Gebildes noch verstärkte. Auch geistliche Füstentümer wie Erz- und Hochstifte oder Reichsabteien waren in anderen Staaten völlig unbekannt und förderten den Eindruck der Fremdheit.
 
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Viele Zeitgenossen im 18. Jh. betrachteten das Heilige Römische Reich als Anachronismus, ein lebender Leichnam, der sich überlebt hatte.
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Das gilt besonders für die liberalen Kräfte im Reich, die Ende des 18. Jh. stärker wurden, und einen Nationalstaat anstrebten, der ein politisch geeintes Volk umfassen sollte.
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Besonders stark scheint mir der Anteil an der Bildungselite in Norddeutschland gewesen zu sein. Aber auch da muss man noch bis ins 18.Jh. natürlich aufpassen, dass man nicht von einer zu absoluten Haltung spricht. So findet man in Westfalen z.T. einen Adel, welcher durchaus die komplizierte territoriale Lage auszunutzen verstand.
In Süddeutschland war das Bewusstsein ein anderes. Hier haben wir entweder Regionen, welche absolut hinter dem Reich standen, v.a. was die Oberschicht anbelangt, und andere, wo die Haltung geteilt war.

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Gerade die liberalen Kräfte waren ja in einem Dilemma. Auf der einen Seite verurteilten Leute wie Görres das HRR. Auf der anderen Seite wurde "des Reiches Herrlichkeit" nachgetrauert und beides - Verklärung des HRR und Verteufelung - fielen zusammen.


Hast Du schon einmal Kotzebues "Geschichte des deutschen Reichs" gelesen? Weißt Du, welche Haltung er einnahm?
Daraus, dass die Burschenschaftler es verbrannten, kann man ja kaum entnehmen, ob es nun verbrannt wurde, weil es das Reich positiv oder weil es dasselbe negativ darstellte. Als Jurist und Sohn eines Legationsrates wird er in die Verfassungsgeschichte wahrscheinlich einen guten Einblick gehabt haben. Wie Hanßelmanns Werk beschäftigten sich ja für mein Dafürhalten unzählige mit dem verfassungsmäßigen Zustand des Reiches.
 
Besonders stark scheint mir der Anteil an der Bildungselite in Norddeutschland gewesen zu sein ... In Süddeutschland war das Bewusstsein ein anderes. Hier haben wir entweder Regionen, welche absolut hinter dem Reich standen, v.a. was die Oberschicht anbelangt, und andere, wo die Haltung geteilt war.

Ob die Einstellung der Bevölkerung zum Heiligen Römischen Reich des 18. Jh. zwischen Nord und Süd so stark differierte, möchte ich bezweifeln.

Gerade die liberalen Kräfte waren ja in einem Dilemma. Auf der einen Seite verurteilten Leute wie Görres das HRR. Auf der anderen Seite wurde "des Reiches Herrlichkeit" nachgetrauert und beides - Verklärung des HRR und Verteufelung - fielen zusammen.

Das "Dilemma" sehe ich nicht. Es sollte starkes und einiges (!) Heiliges Römisches Reich sein, dabei geprägt vom deutschen Volk - denn "deutscher Nation" war das Reich des 18. Jh. ohnehin, da vom europäischen Zuschnitt mit Burgund und Italien nichts geblieben war. Allerdings war die Kleinstaaterei den liberalen Kräften meist ein Dorn im Auge, aber ich bezweifle, ob sie sich unisono einen zentralistischen Einheitsstaat ohne politisch umrissene Länder vorstellen konnten oder wollten.

Der Entwurf der Reichsverfassung von 1849, den die Nationalversammlung erarbeitet hatte, zeigte dann ja auch einen Reichstag mit "Staatenhaus", das von den Regierungen der "Länder" und den "Landtagen" gewählt wurde, und ein "Volkshaus", in das das "Deutsche Volk" seine Abgeordneten nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht schickte.

Hast Du schon einmal Kotzebues "Geschichte des deutschen Reichs" gelesen? Weißt Du, welche Haltung er einnahm?

August von Kotzebue
war der liberalen und nationalen Bewegung verhasst, weil er als Gegner der deutschen Einheit und "russischer Spion und Vaterlandsverräter" galt. Das war der zentrale Grund dafür, dass er von Carl Ludwig Sand 1819 erstochen wurde.
 
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Ob die Einstellung der Bevölkerung zum Heiligen Römischen Reich des 18. Jh. zwischen Nord und Süd so stark differierte, möchte ich bezweifeln.


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Das "Dilemma" sehe ich nicht. Es sollte starkes und einiges (!) Heiliges Römisches Reich sein, dabei geprägt vom deutschen Volk - denn "deutscher Nation" war das Reich des 18. Jh. ohnehin, da vom europäischen Zuschnitt mit Burgund und Italien nichts geblieben war. Allerdings war die Kleinstaaterei den liberalen Kräften meist ein Dorn im Auge, aber ich bezweifle, ob sie sich unisono einen zentralistischen Einheitsstaat ohne politisch umrissene Länder vorstellen konnten oder wollten.

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Der Entwurf der Reichsverfassung von 1849, den die Nationalversammlung erarbeitet hatte, zeigte dann ja auch einen Reichstag mit "Staatenhaus", das von den Regierungen der "Länder" und den "Landtagen" gewählt wurde, und ein "Volkshaus", in das das "Deutsche Volk" seine Abgeordneten nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht schickte.


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August von Kotzebue war der liberalen und nationalen Bewegung verhasst, weil er als Gegner der deutschen Einheit und "russischer Spion und Vaterlandsverräter" galt. Das war der zentrale Grund dafür, dass er von Carl Ludwig Sand 1819 erstochen wurde.
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Warum?
Mir fällt nur schlicht und ergreifend auf, dass die meisten positiven Wortmeldungen zum HRR aus Süddeutschland stammten (Moser z.B.).

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Mir klingt zumindest Görres danach, als ob er das Reich nicht reformiert sehen wollte, sondern zerschlagen.
Den Revolutionären schwebten auch i.d.R. kleinen Republiken vor. Auch von einem süddeutschen Staat habe ich mal was gelesen.
Über ein widererstarktes HRR oder nur Deutsches Reich scheinen sich mir nur die ultranationalen Kräfte ab ca. 1809 (Jahn, Körner u.Co.) gefreut zu haben.

3.
Der Vergleich hinkt m.E.. Das wäre die Geschichte von hinten zurück betrachtet.
1848 war ja der Ausgangspunkt ein anderer. Schon über vierzig Jahre war auch die schwache formaljuristische Klammer HRR gesprengt.

4.
Das sagt aber doch garnichts über sein Werk aus.
Heißt also, Du hast es noch nicht gelesen?

Also mir scheint Kotzebue ein humorvoller Kritiker an der deutschen Kleinstaaterei.
Dass dies nicht begriffen wurde und dass sich auf ihn ein Zorn vereinigte, hat ja auch Goethe schon ein bisschen bedauert, auch wenn er den ungleich erfolgreicheren Dramatiker persönlich nicht mochte.

Mir geht es nicht um die Ansichten, die man über Kotzebue hatte, sondern über Kotzebues Ansichten über das Deutsche Reich. :fs:

Wenn ich mal Zeit finde, sein Buch zu lesen, stelle ich eh eine Rezension ein.
 
Der Vergleich hinkt m.E.. Das wäre die Geschichte von hinten zurück betrachtet.
1848 war ja der Ausgangspunkt ein anderer. Schon über vierzig Jahre war auch die schwache formaljuristische Klammer HRR gesprengt.

Was sich 1848 Bahn brach, war 50 Jahre zuvor bereits angelegt. Und daher geben die Pläne der in der Frankfurter Nationalversammlung versammelten Abgeordneten zentrale Hinweise auf die Wünsche des deutschen Bürgertums.

Dort hatte das liberale "Zentrum" mit 220 Abgeordneten die Mehrheit und die wünschte sich einen monarchischen Bundesstaat und ein Kleindeutschland unter preußischer Vorherrschaft. Die demokratische "Linke" wünschte mit rund 140 Abgeordneten einen republikanischen Zentralstaat, wobei Uneinigkeit herrschte über eine klein- oder großdeutsche Struktur. Die konservative Rechte war für einen monarchischen Staatenbund mit großdeutscher Struktur.

Die Mehrheit des Bürgertums votierte demnach für eine Monarchie mit einzelnen Bundesstaaten und einer eingeschränkten Herrschaft des Volks, eine Minderheit für eine zentralistische Republik. Entsprechend fiel der Verfassungsentwurf der Nationalversammlung von 1849 aus.

Man kann davon ausgehen, dass sich diese Wunschvorstellungen des Bürgertums zwischen 1790 und 1845 nicht entscheidend bzw. nur partiell änderten.
 
Das HRR als Staat

Offenbar wurde zumindest von führenden Juristen im 18.Jh. das Reich als ein Staat begriffen.

So wurde es vom Juraprofessor C. H. von Beck folgendermaßen beschrieben:
"Nichtsdestoweniger ist das Deutsche Reich noch in kein Systema Civitatum zerfallen, sondern nur ein einziger Staat, dessen Oberhaupt der Kaiser allein, die Mitglieder aber die gesamten Reichsstände, Vasallen und Untertanen sind."
*
Die Bezeichnung "Mitglieder" klingt freilich seltsam. Hat ein Staat "Mitglieder"?

Auch J.J. Moser scheint mir das Reich als Staat gesehen zu haben.
"Teutschland wird auf teutsch regiert, und zwar so, daß sich kein Schulwort oder wenige Wort oder die Regierung anderer Staaten dazu schicken, unsere Regierungsart begreiflich zu machen."
**

Während Samuel Pufendorf das Reich als "einem Monstrum ähnlich" bezeichnete, wählte von Beck den Ausdruck "Mißgeburt" im Zusammenhang mit der Anschauung in Europa über die Verfassung des Reiches.

* zitiert nach P.C. Hartmann: "Das Heilige Römische Reich deutscher Nation in der Neuzeit 1486-1806" Reclam, Stuttgart, 2007
S. 39-40
** ebenda
S. 39
 
Ich würde das HRRdN als Staatenbund sehen bei dem sowohl die Einzelstaaten als auch der Gesamtstaat Staatsqualität haben. Nun muss man natürlich aufpassen, da das eine Kategorisierung des 19. Jhds ist. Grundsätzlich würde es aber zu den zitierten Abschnitten passen.
 
Ich würde das HRRdN als Staatenbund sehen bei dem sowohl die Einzelstaaten als auch der Gesamtstaat Staatsqualität haben.
Ich denke, dass in dieser Kontroverse zwischen Gesamtstaat und Staatenbund die Problematik der Zeitgenossen und heutigen Historiker mit der Einordnung des HRR begründet liegt.

Eine ähnliche Aufweichung der Zentralgewalt hatte sich allerdings sowohl in Frankreich im 16. Jh. und in der Hälfte des 17. Jh. angedeutet. Wenn man sich zu der Zeit die inneren Kriege Frankreichs und die Macht des Hochadels gegenüber dem König anschaut, findet man schon Parallelen zu den deutschen Problemen im gleichen Zeitalter. Der Unterschied lag eben in der Überwindung des innerfranzösischen Konfliktes unter Henri IV, Richelieu und letztlich Mazarin/Louis XIV (Niederlage der Fronde), während im HRR der Hochadel seine Position weiter ausbauen konnte.

Polen ist auch ganz interessant zu einem Vergleich. Hier erreichten zwar die Hochadeligen nicht, dass sie eigene Staaten ausbilden konnten, aber deren Konflikte mit der Königsmacht waren beinahe ähnlich konstant wie im HRR. Mir scheint sogar der König von Polen teilweise noch stärker als Marionette des polnischen Adels, vor allem der Magnaten. Das ging soweit, dass der König nichtmal ohne Genehmigung das Land verlassen durfte, wenn ich mich recht entsinne. Ähnlich dem HRR ist in der Geschichte Polens zu entdecken, dass die innere Zerrissenheit den politischen Bedeutungsverlust und letztlich auch den territorialen Verlust begünstigte bis hin zum Untergang der Staatsgebilde. In beiden Fällen lief ein bedeutender Teil des Adels zu den Gegnern des Staates über. Die Sanktionierung dieses Verrats gelang durch die Lähmung der Zentralgewalt in beiden Fällen nicht.
 
Während Samuel Pufendorf das Reich als "einem Monstrum ähnlich" bezeichnete, wählte von Beck den Ausdruck "Mißgeburt" im Zusammenhang mit der Anschauung in Europa über die Verfassung des Reiches.
Pufendorf verglich das Reich mit den Staatsformen der Staatsformenlehre und dem Souveränitätsbegriff von Bodin. Dabei wies er nach, dass sich das Reich keiner Staatsform zuordnen liess und auch mit der Souveränitätslehre von Bodin (es kann nur einen Souverän geben) nicht vereinbar war. Mit der Bezeichnung "irreguläres Monstrum" ist im Grunde nur die andere Seite von Einzigartigkeit/Staat sui generis/ etc. umschrieben. Aber der polemische Begriff liess sich eben auch als einen Angriff auf die Legitimtät des Reiches verstehen und so zog sich Pufendorf den Zorn der Wiener Hofkanzlei zu.
Die Bezeichnung "Mitglieder" klingt freilich seltsam. Hat ein Staat "Mitglieder"?
Im Reich wurde die Souveränität gemeinsam vom Kaiser und den Ständen ausgeübt. Wahrscheinlich ist das mit "Mitglied" gemeint.

Montesquieu sah hierin ein Prinzip der vertikalen Gewaltenteilung verwirklicht. Im Esprit des Lois bezeichnet er das Reich ausdrücklich als République fédérative d’Allemagne. Als sich die USA von der losen Konföderation zum Bundesstaat entwickelten, las James Madison im Esprit des Lois die Passagen über die deutsche Reichsverfassung mit besonderem Interesse: das Alte Reich inspirierte die junge Union.
 
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