Siegfried´s Xanten

pan narrans schrieb:
... Ich denke, dass Wissenslücken zu Lücken in Erzählungen wurden. Dort, wo Anachronismen eingefügt wurden, geschah es mit anderer Absicht, als der bloßen Verlegenheit, Lücken schließen zu müssen.
Dem kann ich nur zustimmen.
Im übrigen sind die verarbeiteten Sagen zwar älter, aber wie alt sie sind, weiß niemand, denn die Handschriften stammen ja alle aus der Zeit um oder nach 1000. Die Ausnahme ist ein König Gundobar, zuerst in der Lex Burgundorum um 500 fassbar. Da aber Vornamen gleich Leitnamen sind, die vom Vater auf den Sohn gehen, ist es überhaupt nicht ausgemacht, dass dieser König das Vorbild für den König Gunter ist. Die Tatsache, dass das Burgundenreich zu dieser Zeit schwer angeschlagen wurde, wird traditionell ohne weiteres mit der Vernichtung der Hochzeitsgäste am Hofe Etzels gleichgesetzt, obgleich die Parallelen - außer dass es Tote gab - mehr als dürftig sind und auch unter Außerachtlassung, dass die Burgunden nach dem Geleit der Hochzeitsgäste bis an die Donau umgekehrt waren und nach Hause an den Rhein ritten, also das Reich der Burgonden keineswegs entvölkert war.
Natürlich lagen dem Verfasser ältere Geschichten vor, und er hat sicher andere Sagen gelesen, bevor er sein Werk schrieb; das ist ja unbestritten. Da gibt's den Hürnen Seyfried, der Vorbild für durchs Dranchenblut verhornte Haut des Siegfried ist, da gibt's die Brynhildsagen, die Dietrichsage, auch Saxo Grammaticus erwähnt ein Lied über Krimhild, das 1131 vorgetragen sein soll. Auch ganz andere Geschichten mit anderen Personen haben sicher Material beigetragen - unbestritten (Reginsmál und Fáfnirsmál, um nur zwei zu nennen, wo Drachenkampf und Schatzerwerb zusammengestellt werden, und Sigdrífumál). Nur sind diese Geschichten alle ganz anders aufgebaut und konstruiert. Die Personen haben andere Rollen und andere Bedeutung in dortigen Kontext. In nordischem Erzählzusammenhang erschlägt Siegfried seinen Mörder - im Nibelungenlied muss Hagen für die Handlung noch weiter leben.
Da hat also ein bestens belesener Autor aus den vielen ihm vorliegenden Geschichten (von denen heute die Mehrzahl nicht mehr in die Völkerwanderungszeit verlegt wird; das war die in der Romantik vorherrschende Theorie, die vor allem die Autorität eines Andreas Heusler lange Zeit unangreifbar gemacht hat) Elemente herausgenommen und zu einer neuen Geschichte als Großepos zusammengefügt. Und die große Zahl der Abschriften zeigt, welchen erfolg es hatte. Da drängt sich doch die Frage der Aussageabsicht und nach dem Interesse der an den Abschriften interessierten Kreise geradezu auf.
 
El Quijote schrieb:
Könntest Du bitte erklären, wie jetzt Aetius in die Figur Etzel mit einfließt? Falls Du das klangliche Etz/Ätz meinst, welches in der lateinischen Schreibung -tiu- seinen Ausdruck findet - nur so kann ich mir Deine Vermutung über die Figurenmischung erklären - dann muss ich Dir mitteilen, dass Etzel(a) die logische Konsequenz aus Attila nach der Zweiten germanischen bzw. Hochdeutschen Lautverschiebung ist. Es hätte demnach dann keine Mischung der Antagonisten gegeben. Solltest Du aber nicht phonologisch argumentiert haben, neige ich meinen Kopf in Demut und harre der Antwort, die da kommen wird ;)
Anders als Fingalo datiere ich die Sage ins 5. Jhd. Wie gesagt, ich halte schon Einflüsse aus dem 12. Jhd für wahrscheinlich, die Grundlage bildet meiner Meinung die Sage über den Untergang der Burgunder. Diese wurden nicht von den Hunnen besiegt, schon gar nicht von den Hunnen Attilas, sondern von hunnischen Truppen des römischen Feldherrn Aetius. daher vermute ich, daß der Etzel der Ursprungsgeschichte Aetius war, der im Laufe der Jahrhunderte hinter Attilas zurücktrat und ihm letztlich in der Sage weichen mußte.
 
Beim Nibelungenlied muß man sich auch immer die Zeit denken, in der sie enstand. Warum wurde sie niedergeschrieben, vor wem wurde sie erzählt/gesungen? Es ist gut möglich, daß Verbindungen hergestellt wurden zwischen lebenden Herrschaften und vergangenen Sagengestalten. Daher kann ich dir, Fingalo, in einigen Punkten durchaus folgen. Es sind also mehr als nur eine Geschichte in das Nibelungenlied eingeflossen. Nur im Ursprung des eigentlichen Sagenstoffes scheinen wir nicht übereinzukommen.
 
beorna schrieb:
Nur im Ursprung des eigentlichen Sagenstoffes scheinen wir nicht übereinzukommen.
Ich denke, hinsichtlich der Quellen schon. Allenfalls in der Frage, wie alt diese Quellen wirklich sind, vielleicht nicht, also ob z.B. die Sagas, die unbestritten verarbeitet worden sind, wirklich aus dem 5. Jh. stammen und nach langer mündlicher Tradition aufgeschrieben worden sind, oder ob sie mehr oder weniger im 10. und 11. Jh. originär entstanden sind, wobei hie und da auch mal was älteres Verwendung gefunden hat. Letzteres gilt vor allem für Namen.
Aber es ist überhaupt eine Frage, was man als "Entstehungszeitpunkt" einer Geschichte betrachtet. Denn eine Geschichte entsteht ja nie aus dem Nichts. Der, der sie erfindet und gestaltet, verwendet immer etwas bereits bekanntes. Nur wird der Traditionsfaden in die Vergangenheit immer dünner, je weiter man zurückgeht. Schließlich bleiben noch beteiltigte Personen übrig, weiter zurück wechseln sie möglicherweise ihren Charakter und sogar ihr Geschlecht, schließlich bleibt nur noch eine Konsonantenfolge ihres Namens übrig, und die fassbare Figur hat mit der ursprünglichen Figur außer dieser Konsonantenfolge im Namen nichts mehr gemeinsam. Wo setzte ich dann den "Anfang" der Geschichte auf dem Zeitstrahl an?
Nehmen wir mal ein anderes Beispiel: Der Psalmist sagt im AT: "Der Herr ist mein Hirte, er weidet mich auf grüner Au..." Dem liegt die ältere Vorstellung von einer Verbindung von (Königs-)herrschaft mit Hirtenamt bezogen auf das beherrschte Volk zu Grunde, die hier individualisiert ist. Diese Vorstellung findet sich bereits in den Einleitungssätzen der Stele des Hammurapi, kommt also aus Babylon. Aber auch der hat sie sicher nicht in einer schlaflosen Nacht erfunden. Vielmehr ist das Alpha-Tier bereits im Tierreich für das Wohlergehen seines Rudels verantwortlich. Kann man nun wirklich sagen, der Psalm sei nichts anderes als Primaten-Tradition? Wird man damit dem Kunstwerk gerecht?
Auch im NT werden bei der Geschichte von Jesu Gang über das Wasser uralte Mythen von der sicheren Beherrschung der Urflut (schon in der Genesis bemüht) und des Chaosdrachens verarbeitet. Lässt sich die Geschichte aber darauf reduzieren, dass hier Urmythen aufbewahrt werden?

Heute ist man nicht mehr davon überzeugt, dass die Eddalieder so alt sind, wie man früher dachte. Es handelt sich eher um die Kunstdichtung einer höfischen Kriegerkaste, die hohes Alter als Attitüde und Assessoir verwendete, möglicherweise, weil sie durch die Verbindung zum Festland über Handelsbeziehungen von dem Eindruckschinden mit hohem Alter fasziniert war. Man kann zwar den Namen hohes Alter bescheinigen, aber nicht den erzählten Ereignissen. Andererseits lassen sich kaum archäologische Funde aus der Zeit vor 800 mit irgendwelchen Edda-Geschichten sicher verbinden. Darüberhinaus kommt man immer mehr dazu, dass die Reihenfolge von Geschichte und Bild keineswegs ausgemacht ist. Wir heute sehen es als selbstverständlich an, dass erst die Geschichte da ist und dann die Illustration. Möglicherweise ist aber das Bild aus zu Attributen geronnenen Lebensabschnitten der dargestellten Person entstanden (Drachentöter; auch der einäugige Thor) und die zusammenhängende Geschichte als Epos aus der Beschreibung eines Umbehangs oder eines anderen Bildprogramms sekundär erstellt. So wie bei der Aitiologie erst das Bild da ist und dann erst die Erklärung entsteht. Da ist in der neuesten Forschung alles in Bewegung geraten und im Fluss.
Und diese Entwicklungen will ich hier auch zur Sprache bringen.
Und da ist das Herbeten der zementierten und bekannten Auffassungen des 19. Jh. und von Andreas Heusler nicht besonders spannend.:fs:
 
fingalo schrieb:
Allenfalls in der Frage, wie alt diese Quellen wirklich sind, vielleicht nicht, also ob z.B. die Sagas, die unbestritten verarbeitet worden sind, wirklich aus dem 5. Jh. stammen und nach langer mündlicher Tradition aufgeschrieben worden sind, oder ob sie mehr oder weniger im 10. und 11. Jh. originär entstanden sind, wobei hie und da auch mal was älteres Verwendung gefunden hat.

So, so ! Im Beitrag #6 vom 25.09.2005, 22:33 hattest du noch geschrieben:
fingalo schrieb:
Man wird also den historischen Ereignisrahmen im 12. Jh. anzusetzen haben. Der germanistische Ansatz, ihn in der Völkerwanderungszeit zu suchen, darf als überholt gelten.

Du ruderst also schon langsam zurück. Nicht mehr 12.Jh., sondern jetzt schon 10. Jh.! Nach meinen Berechnungen müsstest Du, vorausgesetzt die Diskussion wird fortgestetzt, noch etwa sieben Tage brauchen, um auch im 5.Jh. anzukommen. :yes:

Aber Spaß beiseite. Anhand des obigen Beispiels wirst Du selber gemerkt haben, dass deine Spekulationen auf tönernen Füßen stehen. Da nützt es auch nichts mehr, auf Bibelstellen zurückzugreifen, die nun wirklich aus einem gänzlich anderen Zusammenhang stammen. :autsch: Die nordischen Sagen der Edda wurden von einem christlichen Chronisten aufgezeichnet und hatten in keiner Hinsicht religiöse Bedeutung.

fingalo schrieb:
Heute ist man nicht mehr davon überzeugt, dass die Eddalieder so alt sind, wie man früher dachte.
Wen bezeichnest du mit "man"? Quantitative Beweisführungen, zumal sie nicht einmal zutreffend sind, sind absolut aussagelos. Du stelltst hier Hypothesen auf, die nicht mit dem derzeitigen wissenschaftlichen Forschungsstand in Einklang zu bringen sind. :(


fingalo schrieb:
Und da ist das Herbeten der zementierten und bekannten Auffassungen des 19. Jh. und von Andreas Heusler nicht besonders spannend.:fs:
Und genau hier liegt dein eigentliches Problem. Es geht im wissenschaftlichen Diskurs nicht um "spannend" oder "aufregend", sondern um das schlüssige Zusammentragen von Erkenntnissen. Diese Erkenntnisse können leider manchmal, in den Augen vieler Laien, ziemlich "langweilig" erscheinen. Damit musst du dich, lieber fingalo, aber abfinden. :winke:
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Cato schrieb:
So, so ! Im Beitrag #6 vom 25.09.2005, 22:33 hattest du noch geschrieben:


Du ruderst also schon langsam zurück. Nicht mehr 12.Jh., sondern jetzt schon 10. Jh.! Nach meinen Berechnungen müsstest Du, vorausgesetzt die Diskussion wird fortgestetzt, noch etwa sieben Tage brauchen, um auch im 5.Jh. anzukommen. :yes:

Ich schrieb von "Ereignisrahmen", nicht von den alten Versatzstücken. Mit dem Ereignisrahmen meinte (und meine ich noch immer) die politischen Ereignisse aus der Zeit der Abfassung, wie sie sich im Nibelungenlied wiederfinden.

Cato schrieb:
Aber Spaß beiseite. Anhand des obigen Beispiels wirst Du selber gemerkt haben, dass deine Spekulationen auf tönernen Füßen stehen.
Bislang sehe ich nur, Dass deine Zitierweise auf solchen Füßen steht.
Cato schrieb:
Da nützt es auch nichts mehr, auf Bibelstellen zurückzugreifen, die nun wirklich aus einem gänzlich anderen Zusammenhang stammen. :autsch: Die nordischen Sagen der Edda wurden von einem christlichen Chronisten aufgezeichnet und hatten in keiner Hinsicht religiöse Bedeutung.
Da solltest Du vielleich auf den Vergleichspunkt achten. Es ging gar nicht um Religion.

Cato schrieb:
Wen bezeichnest du mit "man"? Quantitative Beweisführungen, zumal sie nicht einmal zutreffend sind, sind absolut aussagelos. Du stelltst hier Hypothesen auf, die nicht mit dem derzeitigen wissenschaftlichen Forschungsstand in Einklang zu bringen sind. :(
Mir fehlt immer noch für die klassische Behauptung die Beweisführung. Wo finde ich im Nibelungenlied Hunnenhorden im Burgondenland?

Cato schrieb:
Und genau hier liegt dein eigentliches Problem. Es geht im wissenschaftlichen Diskurs nicht um "spannend" oder "aufregend", sondern um das schlüssige Zusammentragen von Erkenntnissen. Diese Erkenntnisse können leider manchmal, in den Augen vieler Laien, ziemlich "langweilig" erscheinen. Damit musst du dich, lieber fingalo, aber abfinden. :winke:
Nun, das mit dem "spannend" ist natürlich für Dich ein Aufhänger. Klar. Je weiter die Kontroverse geht, desto schärfer achtet jeder auf irgendeinen (offensichtlich) etwas saloppen Ausdruck, um diesen dann auf der Goldwage zurückzuweisen.
Oder, ein kleiner Fehler in einem anderen Zusammenhang ist eine gute Gelegenheit, die Diskussion abzubrechen, ohne das Gesicht zu verlieren.

Aber bitte: Ich stimme Dir zu, und ich habe alles mögliche zusammengetragen in den vorigen Postings, habe Strophen aus dem Lied wörtlich zitiert und mit konkreten Ereignissen zusammengestellt, genau, wie von Dir verlangt. Eben die von Dir als "langweilig" apostrophierte Arbeit, die ich nun gar nicht langweilig finde. Langweilig finde ich nicht das Zusammentragen von Erkenntnissen, sondern das Herbeten von Lehrbuch-Weisheiten aus dem 19. Jh. Aber dies aus meinem Posting zu entnehmen ist wohl eine Überforderung.:rolleyes:

Demgegenüber kam von der anderen Seite nichts vergleichbares.

Ich warte wie gesagt auf die Hunnen im Burgondenland, auf die Aufklärung, warum die Burgonden als Volk vernichtet sein sollen, wenn der Großteil nach dem Geleit zur Donau umgekehrt ist, wieso Krimhild die Burgunden als "Nibelungen" erwartet, wenn doch die Nibelungen gerade nicht die Burgunden, sondern ein mythisches Volk aus der Völkerwanderungszeit sein sollen, ich warte auf Belege dafür, dass diese alten Bruchstücke längere Zeit vor 800 entstanden sind.
Bitte, ich lausche gespannt den Ausführungen über die Quellen aus der Völkerwanderungszeit!:fs:
 
pan narrans schrieb:
Bei den aufgeschriebenen Versionen der Artussagen kenne ich mich nicht so aus, bin aber bisher davon ausgegangen, dass die Autoren die Geschichte mit voller Absicht in ihre Zeit transportierten, um der höfischen Gesellschaft ein zeitgenössisches Ideal von Ritterlichkeit vor Augen zu führen.

@pan narrans
Die Überlieferung der Artussage ist durchaus vergleichbar. Hier lässt sich ebenfalls von der mythischen Verklärung der Erzählungen Aneirins bis zur höfischen Rittergesellschaft in den Geschichten von G. of Monmouth eine deutliche Entwicklung, aber auch Verfremdung der wahrscheinlich ursprünglich historischen Personen und Ereignisse nachvollziehen. Die neuere Artusforschung weist zwar zum Teil auch skurrile Züge auf, niemand käme jedoch ernsthaft auf den Gedanken, die historische Figur eines König Artus in das Hochmittelalter zu verlegen.
 
Cato schrieb:
Die neuere Artusforschung weist zwar zum Teil auch skurrile Züge auf, niemand käme jedoch ernsthaft auf den Gedanken, die historische Figur eines König Artus in das Hochmittelalter zu verlegen.

Klar. Da gibt's nämlich keine Parallelen. Und darin liegt eben die Unvergleichbarkeit! Dort treten keine Personen auf, die sich in Urkunden- und Verbrüderungsbüchern wiederfinden!

Gleichwohl kann man durchaus sinnvoll nach Parallelen zu Eleonore von Aquitanien forschen.:)
 
fingalo schrieb:
Aber bitte: Ich stimme Dir zu, und ich habe alles mögliche zusammengetragen in den vorigen Postings, habe Strophen aus dem Lied wörtlich zitiert und mit konkreten Ereignissen zusammengestellt, genau, wie von Dir verlangt. Eben die von Dir als "langweilig" apostrophierte Arbeit, die ich nun gar nicht langweilig finde. Langweilig finde ich nicht das Zusammentragen von Erkenntnissen, sondern das Herbeten von Lehrbuch-Weisheiten aus dem 19. Jh. Aber dies aus meinem Posting zu entnehmen ist wohl eine Überforderung.:rolleyes:

Demgegenüber kam von der anderen Seite nichts vergleichbares.

Ich warte wie gesagt auf die Hunnen im Burgondenland, auf die Aufklärung, warum die Burgonden als Volk vernichtet sein sollen, wenn der Großteil nach dem Geleit zur Donau umgekehrt ist, wieso Krimhild die Burgunden als "Nibelungen" erwartet, wenn doch die Nibelungen gerade nicht die Burgunden, sondern ein mythisches Volk aus der Völkerwanderungszeit sein sollen, ich warte auf Belege dafür, dass diese alten Bruchstücke längere Zeit vor 800 entstanden sind.
Bitte, ich lausche gespannt den Ausführungen über die Quellen aus der Völkerwanderungszeit!:fs:

Anscheinend hast Du Dich doch nicht mit allen Theorien befaßt! :grübel: :winke:

Was ist denn das Nibelungenlied? Es ist ein weitläufiges Heldengedicht von der Burgunderin Kriemhild und eine Beschreibung vom Leben am Königshof zu Worms. Im zweiten Teil erscheint ein König Etzel aus dem Ungarland.
Die erste Veröffentlichung des Nibelungenlieds wurde aus 2 verschiedenen Handschriften erstellt. Man fand in der Folgezeit mehrere Versionen des Nibelungenliedes (Haupthandschriften A, B und C).
Bald stellte man jedoch Mängel fest: kürzere ereignisreiche Abschnitte stehen langen Abschnitten leeren Geschehens gegenüber. So gibt es endlose Aufzählungen von modischen Kleidern, Schmuck und Waffen, sowie prahlerische Übertreibungen und märchenhafte Begebenheiten. Auch wird es als wenig glaubhaft empfunden, daß ein ganzes Heer nur zu einem Besuch der Schwester loszieht. Von den realen Burgundern wird nur in Chroniken berichtet, daß sie 436 irgendwo im Westen zum großen Teil von den Hunnen vernichtet wurden. Aber mit Sicherheit nicht in Ungarn!

Auch war Theoderich der Große von Ravenna (allgemein als Dietrich von Bern angesehen) kein Zeitzeuge des Hunnenkönigs Etzel (Attila). Und Island, wo Königin Brünhild auf dem "Isenstein" gesessen haben soll, war vor dem 9.Jh. nicht besiedelt und kannte auch später keine Könige oder Königinnen. War es dann überhaupt Island?
Ferner findet man einen Widerspruch zwischen der heidnischen Grundhaltung der Burgunderkönige und dem christlichen Rahmen des Nibelungenlieds.
So hat sich aus den vielen Handschriften des Nibelungenlieds kein Original herausfinden lassen. ;)

Es gibt aber auch noch andere Sagen, die das Thema behandeln! So gibt es das "Lied vom Hürnen Seyfried", mehrere Lieder der Edda, die Völsungensaga und die Thidreksaga.
Diese anderen Überlieferungen schildern die Sage nach den selben Begebenheiten, aber mit abgewandelten Namen und in einer anderen Umwelt und Örtlichkeit.
Die Thidreksaga ist die umfassendste Sammlung von niederdeutschen Überlieferungen in nordischer Sprache.
Der verstorbene Dr.phil. Heinz Ritter-Schaumburg hat sich mit der Thidreksaga befaßt und festgestellt, daß in ihr alte heidnische Begebenheiten verarbeitet wurden, die nicht in christlicher Zeit spielen konnten.
Er hat auch eine logische Erklärung dafür gefunden, daß geschrieben stand, daß die "Donau in den Rhein fließt". Ferner fand er auch in der Wielanderzählung Tatsachen (die Schwertschmiedung) wieder, die ein Erzähler aus dem 13.Jh. nicht erfinden konnte.
So bezweifelt er auch die These vom belgischen Forscher Henri Gregoire an, die behauptete, daß es einen Zusammenhang zwischen der alten Burg Nivelles (Südbelgien) und den Nibelungen gab.
Dr. Ritter-Schaumburg zweifelt auch an, daß der Untergang der Burgunder (aus der Chronicon des Prosper Aquitanus und des Cassiodor) dasselbe Ereignis war, wie der Untergang der Niflungen (=Nibelungen) unter ihrem König Gunter. Da die Thidreksaga keine Burgunder kennt, sondern nur Niflungen, die im norddeutschen Raum leben und dort ihr Schicksal erleiden (aus der niederrheinischen Heimat ins niederdeutsche Soest ziehen und dort zugrundegehen. Für ihn gibt es keine Hunnen mit Attila, sondern einen König Attala aus dem Hünenland.
Jetzt kann man der Ansicht sein, daß das alles Quatsch ist, aber dafür hat er sein Buch umfangreich recherchiert.
 
Cherusker schrieb:
Anscheinend hast Du Dich doch nicht mit allen Theorien befaßt! :grübel:
Diesen Einleitungssatz Deines Postings verstehe ich nicht ganz; denn du bringst im Folgenden lauter Gesichtspunkte, die ich bereits vorgetragen hatte. Die ganzen Widersprüche hatte ich in früheren Postings bereits aufgezählt und auch die Steinbrüche einschließlich des Hürnen Seyfried, der Edda und der Thidrekssaga, aus denen sich der Dichter bedient hat.
Allerdings haben die Zeitgenossen wohl die aufgezählten "Mängel" nicht als Mängel empfunden - sonst gäbe es nicht so viele Abschriften.
Es könnte ja sein, dass diese "Mängel" nur dann als Mängel erscheinen, wenn wir die Aussageabsicht ignorieren und das Gedicht so lesen, wie wir es gerne sozusagen als Arthus-Sage Nr. 2 gerne hätten. In meiner Lesart haben die "Mängel" eine wohlkalkulierte Funktion, die ich in früheren Postings hier bereits dargelegt habe. Da will ich mich nicht wiederholen.
Der Dichter könnte ja den Leser mit Hilfe bestimmter Brüche zwingen wollen, die Einheit auf einer anderen Sinnebene zu suchen.
Im übrigen sind auch die Unterschiede der 3 Handschriften A, B und C und weiteren interessant, weil sie dokumentieren, wie sich das Interesse an der Aussageabsicht verschoben hat.
Noch ein Drittes habe ich noch nicht erwähnt, weil es unmittelbar nichts zur Frage beiträgt, aber mittelbar schon. Wenn ich recht informiert bin, taucht der Name "Nibelungenlied" erst im 18. Jh. auf und wurde von der letzten Zeile abgeleitet, die in der Fassung C "Das ist der Nibelunge Lied" lautet (erste Ausgabe von Christoph Heinrich Myller 1782).
In den frühen Werkverzeichnissen taucht der Titel nicht auf (Gottfried von Straßburg, Rudolf von Ems). Stattdessen wird ein Großepos "Der Umbehanc" aus dieser Zeit gelobt, von dem sich keine Spur erhalten hat. Ein angeblich bedeutungsloses Gedicht, das keiner Erwähnung wert ist, bleibt in vielen Abschriften erhalten, ein rühmenswertes Gedicht verschwindet spurlos. Wer das glaubt ...
Da drängt sich schon die Vermutung auf, dass der "Umbehanc" und das "Nibelungenlied" dasselbe Gedicht sind. Diese Spekulation (zweifelsohne) würde jedenfalls dem Urteil widersprechen, dass hier schwere Mängel zu finden wären. Das gilt übrigens auch für die an das Nibelungenlied angefügte Klage. Sie wurde in der Neuzeit als literarisch minderwertig betrachtet. Gleichwohl hat sie sich in den Abschriften erhalten, was darauf hindeutet, dass die Leser damals in der Klage eine wichtige Ergänzung zum Nibelungenlied sahen, was bei einem reinen Unterhaltungsstoff aus alten Zeiten wohl kaum dazu geführt hätte, "minderwertige Dichtung" beizubehalten.
 
Cato schrieb:
@pan narrans
Die Überlieferung der Artussage ist durchaus vergleichbar. Hier lässt sich ebenfalls von der mythischen Verklärung der Erzählungen Aneirins bis zur höfischen Rittergesellschaft in den Geschichten von G. of Monmouth eine deutliche Entwicklung, aber auch Verfremdung der wahrscheinlich ursprünglich historischen Personen und Ereignisse nachvollziehen. Die neuere Artusforschung weist zwar zum Teil auch skurrile Züge auf, niemand käme jedoch ernsthaft auf den Gedanken, die historische Figur eines König Artus in das Hochmittelalter zu verlegen.
@ Cato

Da wir mit dem Nibelungenlied vom eigentlichen Thema des Pfades schon ein Stück weit abgerückt sind, möchte ich jetzt nicht auch noch die verschiedenen Versionen der Artussage hier breit treten. Daher nur eine kurze Anmerkung.

Ich wollte mit meinen Zeilen keineswegs die historische Figur eines König Artus, wenn es sie denn gegeben hat, in das Hochmittelalter verlegen. Es ging mir nur um ein Beispiel dafür, dass Änderungen in einem Stoff nicht durch Unwissenheit geschehen müssen, sondern der Autor damit eine Absicht verfolgt.
 
fingalo schrieb:
Noch ein Drittes habe ich noch nicht erwähnt, weil es unmittelbar nichts zur Frage beiträgt, aber mittelbar schon. Wenn ich recht informiert bin, taucht der Name "Nibelungenlied" erst im 18. Jh. auf und wurde von der letzten Zeile abgeleitet, die in der Fassung C "Das ist der Nibelunge Lied" lautet (erste Ausgabe von Christoph Heinrich Myller 1782).
In den frühen Werkverzeichnissen taucht der Titel nicht auf (Gottfried von Straßburg, Rudolf von Ems). Stattdessen wird ein Großepos "Der Umbehanc" aus dieser Zeit gelobt, von dem sich keine Spur erhalten hat. Ein angeblich bedeutungsloses Gedicht, das keiner Erwähnung wert ist, bleibt in vielen Abschriften erhalten, ein rühmenswertes Gedicht verschwindet spurlos. Wer das glaubt ...
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Zur Entdeckung des "Nibelungenliedes":
2 Schweizer Gelehrte (Johann Jakob Bodmer und Johann Jacob Breitinger) waren um die Mitte des 18.Jh. auf die Spur der "mitteldeutschen Dichtung" gekommen und hatten sie als "Altschwäbische Dichtung" bezeichnet. Ferner hat Bodmer in Paris einen kostbaren Minnesinger-Codex entdeckt, aber ohne Erfolg bekannt gemacht. Nur von einem Studenten aus Berlin Jacob Hermann Obereit bekam er einen begeisteren Hymnus darüber.

Bodmer suchte weiter und hatte hier das Schloß Hohenems als Ziel ausgemacht (aber er hat es nicht aufgesucht). Jahre später war aus dem Studenten Obereit ein Arzt geworden, der sich in Lindau (Bodensee) niedergelassen hatte. Er zog am 29.Juni 1755 zum Schloß Hohenems und fand dort 2 alte Handschriften, die eine davon war das Nibelungenlied und sie hieß: "Aventiure von den Nibelungen" (später als C bezeichnet). Der Arzt Obereit informiert Bodmer über seinen Fund und am 24.März 1756 gibt es eine erste öffentliche Nachricht über die Nibelungen in einer schweizerischen Wochenzeitschrift. Bodmer hat dann den Anspruch für die Entdeckung auf sich gemünzt.
Christoph Heinrich Myller (geb. 1744 (!) in Zürich, Professor für Philosophie und Geschichte in Berlin) hat den ersten vollständigen Abdruck des Nibelungenliedes herausgegeben. Aber Friedrich der Große hielt das Werk nur für "elendes Zeug", daß er aus seiner Bücher-Sammlung herausschmeißen würde.

Im Bodmer Codex endet das Werk mit:"... daz ist der Nibelunge Liet".
Dagegen gab es bei weiteren Handschriften einen etwas anderen Schluß, der ursprünglicher erschien: "....daz ist der Nibelunge not".
Daher hätte das Werk eigentlich "Die Nibelungen-Not" heißen müssen, aber der Name "Nibelungenlied" hatte sich bereits eingebürgert.

P.S.
Aufgrund der Kritik am Nibelungenlied sollte Ausschau nach einer einfacheren, gradlinigeren und geschichtlich realeren Erzählung des Themas ausgehalten werden und das ist die Thidreksaga! :winke:
 
Cherusker schrieb:
P.S.
Aufgrund der Kritik am Nibelungenlied sollte Ausschau nach einer einfacheren, gradlinigeren und geschichtlich realeren Erzählung des Themas ausgehalten werden und das ist die Thidreksaga! :winke:
Das hab' ich nun nicht so ganz verstanden. Welche Kritik?
 
fingalo schrieb:
Das hab' ich nun nicht so ganz verstanden. Welche Kritik?

Na, in meinem Beitrag #49 habe ich doch einige Mängel des Nibelungenliedes aufgeführt.
Das Nibelungenlied eignet sich nicht besonders gut um geschichtliche Anlässe darzustellen.
Die Thidreksaga ist da viel ausführlicher und eindeutiger. Hier können auch Begebenheiten festgestellt werden, die man auch geographisch und geschichtlich einordnen kann.
Ein Beispiel: angeblich fließt die Donau in den Rhein. Von den Namen her ein geographischer Blödsinn. In der Thidreksaga wird von einer Duna oder Dyna gesprochen, die in den Rhein floß. Dr. Ritter-Schaumburg hat sich aufgemacht, um für diese Beschreibung eine Erklärung zu finden. So findet er die Dhün, die einst ein Nebenfluß des Rheins war und 1117 und 1189 als Dune bezeichnet wurde. Diese Dhün hatte früher eine selbständige Einmündung in den Rhein. Erst 1840 wurde sie in die Wuppermündung umgeleitet.
Die Dhün ist ein zwar kurzer Fluß (nur 30km), kommt aber aus einer Höhe von 300m herunter. Das bedeutet sie hat immer viel Sand und Geröll in den Rhein gespült, sodaß dort eine Untiefe entstand, die sonst nirgendswo am Rhein entstand (Info vom Wasserwirtschaftsamt Duisburg). Es gab somit früher eine natürliche Furt durch den Rhein, die bei Wasserarmut bequem zu durchqueren war (1130 soll man sogar trockenen Fußes über den Rhein gelangt sein).
Anhand der Thidreksaga konnte man also eine Erklärung für diesen sinnlosen Satz finden.

Meiner Ansicht nach haben alle diese Sagen ein heidnisches Grundthema, das sich aus mehreren Geschichten zusammensetzt. Die Verfasser haben diese einzelnen Geschichten zu einer Sage verbunden und so kommen einige merkwürdige Ereignisse zusammen.
 
Cherusker schrieb:
Na, in meinem Beitrag #49 habe ich doch einige Mängel des Nibelungenliedes aufgeführt.
Ach so.

Cherusker schrieb:
Das Nibelungenlied eignet sich nicht besonders gut um geschichtliche Anlässe darzustellen.
Richtig. Keiner behauptet, dass es sich um eine "Darstellung geschichtlicher Ereignisse" handele, sondern dass es sich um ein Epos mit zeitgeschichtlichen Bezügen handelt. Die Kenntnis der Zeitgeschichte wird bei den Adressaten vorausgesetzt. Daher kann man auch Assoziationen und Brüche im grundgelegten Material durchaus akzeptieren. Die Kritik, die Du angeführt hast, rührt meines Erachtens von einem falschen Erwartungshorizont her.

Cherusker schrieb:
Die Thidreksaga ist da viel ausführlicher und eindeutiger. Hier können auch Begebenheiten festgestellt werden, die man auch geographisch und geschichtlich einordnen kann.
Ein Beispiel: angeblich fließt die Donau in den Rhein.
Um dazu Stellung nehmen zu können, wüsste ich gern die Stelle und die Handschrift, wo gesagt wird, dass die Donau in den Rhein mündet.

Cherusker schrieb:
Meiner Ansicht nach haben alle diese Sagen ein heidnisches Grundthema, das sich aus mehreren Geschichten zusammensetzt. Die Verfasser haben diese einzelnen Geschichten zu einer Sage verbunden und so kommen einige merkwürdige Ereignisse zusammen.
Ja, einfach so? So aus Jux? Weil sie die Geschichten gerade mal so parat hatten? Und dann jede Menge überflüssigen Kram noch mit reingestrickt? Ohne Not einfach so?

Ich pflege beim Studium eines Textes davon auszugehen, dass der Verfasser sich bei jedem Satz etwas gedacht hat und dass jeder Satz sinnvoll ins Ganze passt, bevor ich ihm Stümperei vorhalte. Erst, wenn das unter keinem Gesichtspunkt möglich ist, dann erwäge ich handwerkliche Mängel.
Karl Kraus sagte einmal: Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen, und es klingt hohl, dann muss es nicht am Buch gelegen haben.=)
 
fingalo schrieb:
Ja, einfach so? So aus Jux? Weil sie die Geschichten gerade mal so parat hatten? Und dann jede Menge überflüssigen Kram noch mit reingestrickt? Ohne Not einfach so?

@fingalo
Versuch einmal die Illias wörtlich zu nehmen. Homer stellte die Kämpfe vor Illion in den Rüstungen/Kleidungen seiner Zeit dar, weil es damals noch keine Archäologie gab, die ihm Aufschluss über die Zeit um 1200 v.Chr. hätte geben können. Es gab aber die mündliche Überlieferung einer großen Auseinandersetzung, die er in seinem Epos verarbeitete. Die genaue Beschreibung der Rüstungen (des Achilleus, Hektor, Ajax, Agamemnon etc.) war seine eigene reine ERFINDUNG ! Bis Schliemann ging man davon aus, die gesamte Geschichte sei reine Erfindung gewesen, da man ihre Existenz historiographisch nicht nachweisen konnte. Erst die archäologischen Entdeckungen auf dem Hügel von Hissarlik ließen das Bild verändern. Derartige Entdeckungen sind in Bezug auf die Nibelungensage nicht zu erwarten (es sei denn, du erwartest ein Saurierskelett mit deutlichen Schwertspuren in der Umgebung von Xanten :D :D :D ).


PS: Auch Herodot war kein Geschichtsschreiber. Seine Historien sind durchsetzt von wahren Begebenheiten, Ausschmückung und Phantasie. Thukydides dagegen gilt als einer der ersten, die sich offensichtlich bemühten, eine sich an den Tatsachen orientierende Geschichtsschreibung zu verfolgen.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Cato schrieb:
Versuch einmal die Illias wörtlich zu nehmen.
Ich kann in der Ilias keine Zeitbezüge zu Homers Zeiten mehr entdecken. Wenn es welche gab, so sind die Bezugspunkte unter- und verlorengegangen.
Daher ist ein Vergleich zwischen Ilias und Nibelungenlied eben unfruchtbar, es sei denn, man bleibt auf der vordergründigen Erzählebene stehen. Dann kann man solche Vergleiche durchaus anstellen. Man kann ja auch das Versmaß vergleichen.
Wenn Homer nun die Kleidung und Rüstung aus seiner Gegenwart übernommen hat, könnte er noch mehr Bezüge aus seiner Gegenwart eingebaut haben, die wir heute nicht mehr nachvollziehen können, weil wir die Verhältnisse, auf die er gegebenenfalls angespielt hätte, nicht mehr kennen. Und? Was ergibt sich daraus für das Nibelungenlied?

Cato schrieb:
PS: Auch Herodot war kein Geschichtsschreiber. Seine Historien sind durchsetzt von wahren Begebenheiten, Ausschmückung und Phantasie. Thukydides dagegen gilt als einer der ersten, die sich offensichtlich bemühten, eine sich an den Tatsachen orientierende Geschichtsschreibung zu verfolgen.
Wie kommst Du nun auf diese Schiene? Wer sagt denn, dass das Nibelungenlied etwas mit Geschichtsschreibung zu tun habe?
Bezüge und Assotiationen zu zeitgenössischen politischen Verhältnissen machen doch aus einem Epos keine Geschichtsschreibung.
Ich meine, man sollte nicht Dinge widerlegen, die niemand behauptet.
Aber darf ich Dich jetzt so verstehen, dass das Nibelungenlied reine Erfindung ist? So wie Du es von der Ilias abgesehen davon, dass eine Stadt Troja tatsächlich gegeben hat, wohl meinst? (Schliemanns Ausgrabungen und die seiner Nachfolger haben eine Reihe von Städten übereinander und einen Schatz zu Tage gefördert. Von Achill, Hektor, Patroklos, Priamos usw. keine sicher zuordenbare Spur, schon gar nicht von einem Holzpferd.).
Das würde Dich ja von der Beibringung von Belegen aus dem 5. und 6. Jh., auf die ich ja sehnlichst warte, entheben.:rolleyes:
 
fingalo schrieb:
Dem kann ich nur zustimmen.
Im übrigen sind die verarbeiteten Sagen zwar älter, aber wie alt sie sind, weiß niemand, denn die Handschriften stammen ja alle aus der Zeit um oder nach 1000. ...Natürlich lagen dem Verfasser ältere Geschichten vor, und er hat sicher andere Sagen gelesen, bevor er sein Werk schrieb; das ist ja unbestritten. ...Da hat also ein bestens belesener Autor aus den vielen ihm vorliegenden Geschichten (von denen heute die Mehrzahl nicht mehr in die Völkerwanderungszeit verlegt wird; das war die in der Romantik vorherrschende Theorie, die vor allem die Autorität eines Andreas Heusler lange Zeit unangreifbar gemacht hat) Elemente herausgenommen und zu einer neuen Geschichte als Großepos zusammengefügt. Und die große Zahl der Abschriften zeigt, welchen erfolg es hatte. Da drängt sich doch die Frage der Aussageabsicht und nach dem Interesse der an den Abschriften interessierten Kreise geradezu auf.

Das sieht Dr. phil. Ritter-Schaumburg in seinem Buch ganz anders. Er kommt zu dem Schluß, daß die Thidreksaga (das gleiche Thema wie im Nibelungenlied) in ihrem Inhalt nicht aus ihrem aufgeschriebenen Zeitraum (13.Jh.) bezogen hat, sondern nur in der vorchristlichen Zeit der Völkerwanderungszeit im norddeutschen Raum enstanden sein kann.

So ist sie ganz heidnisch und christliche Element kommen nur in Randgeschichten vor (der Name "Christus" wird überhaupt nicht erwähnt). Auch gibt es keine rechtsrheinische Städte (außer Soest) und nur wenige Burgen. Städte wie Minden, Hildesheim, Paderborn, Detmold und auch Burgen wie die Eresburg und die Sigiburg werden nicht erwähnt. Auch ziehen die Akteure über einsame Höhenwege durch ein teilweise schwach bevölkertes Land.

Auch haben die Ortsnamen sehr alte Namensformen, wie -borg, -stein, -fils -gard,
-saela, -lar, -port und -heim.
Aber keine Ortsnamen mit -hausen, -ingen, -rode, -bach, -tal, -scheid, -hoven, -weiler, -hagen, -feld usw.. , d.h. die Thidreksaga hat einen ganz alten Ortsnamenbestand, der nicht in Norwegen entstanden sein kann (dort sind diese Namen unbekannt), sondern nur in Niederdeutschland vorkommt. So soll die Saga vom 8.Jh.an aus früheren Manuskripten und wortgetreuen mündlichen Überlieferungen entstanden sein.

Das sind die Vermutungen von Dr. Ritter-Schaumburg. Da Deine Ansichten aber auch nur Spekulation sind und genauso wenig glaubhaft sind, ist es nur Auslegungssache des jeweiligen Betrachters. Ich gehe davon aus, daß die Sagen einen alten Kern besitzen, der aus der Völkerwanderungszeit und davor ("römische Drache") stammt.
Aber grundlegend zu sagen, daß es nur ein Zeitgeschehen des 12.Jh. darstellt, das halte ich auch für reine Spekulation und ziemlich vermessen. ;)
 
Cherusker schrieb:
Aber grundlegend zu sagen, daß es nur ein Zeitgeschehen des 12.Jh. darstellt, das halte ich auch für reine Spekulation und ziemlich vermessen. ;)
Das habe ich auch nirgends behauptet. Ich habe 10. und 11. Jh. als Entstehungszeitraum für die Sagen mal als ziemlich gewiss angenommen, wobei auch dort ältere Versatzstücke (Namen) aufgenommen worden sind (Posting #44). Nicht dass sie nicht auch älter sein könnten. Aber je weiter man zurückgeht, desto spekulativer wird das ganze.
Auch ich denke, dass insbesondere die Namen sehr alt sind.
Die Einsamkeit verweist keineswegs in die Völkerwanderungszeit, weil sich noch die Missionare zur Zeit des Bonifatius über die Menschenleere auf dem Festland wunderten. Und das Heidentum war bis ins 8. Jh. ziemlich vorherrschend. In Island wurde um 1000 das Christentum Staatsreligion. Um 1300 wurden Laxdæla und Njálssaga geschrieben, die in Aufbau und Stil nicht vor das 12. Jh. gelegt werden. Rein heidnisch. Da kommt auch kein Christus vor.
Und auch nach dem 8. Jh. war das Christentum im wesentlichen eine Stadtreligion, so dass noch Jahrhunderte Heidentum und Christentum parallell existierten, was sich auch in der literarischen Produktion niederschlagen müsste, d. h. dass christliche und heidnische Literatur nebeneinander entstehen können.
Ich will damit Deine Theorie (oder die von Dr. Ritter) nicht ausschließen oder als widerlegt betrachten. Geht natürlich nicht. Der Unterschied liegt eher in der Methode der Problemlösung: Ich gehe vom schriftlichen Befund aus, der datierbar ist. Dann gehe ich zurück bis zu dem Zeitpunkt, nach welchem die Abfassung eines solchen Textes eigentlich nicht mehr in Frage kommt. Auch dafür habe ich einigermaßen sicheren Boden unter den Füßen. Je weiter ich zurückgehe, desto problematischer wird die orale Überlieferung von Prosatexten. Das bedeutet, dass bei den älteren Schichten mit starken Änderungen zu rechnen ist (es handelt sich ja nicht um religiöse Texte, bei denen sich eine Veränderung aus Pietät und frommer Scheu von vornherein verbietet.) Dass es solche Änderungen gegeben hat, wissen wir aus den verschiedenen Versionen, in der eine bestimmte Geschichte überliefert ist. Ich brachte bereits, dass im nordischen Sagenkreis Siegfried seinen Mörder auf der Stelle erschlägt, bevor er selbst stirbt. Wenn dies schon in der verschriftlichten Überlieferung greifbar wird, ist dies erst recht bei der oralen Überlieferung anzunehmen.
Das bedeutet, dass die Mosaiksteine, aus denen eine Geschichte aufgebaut ist, vorher teilweise zu ganz anderen Mustern oder im ähnlichen Mustern mit ganz anderen Farben versehen sein können. Angesichts dieser nachweisbaren Tatsache ist die Behauptung kühn, einer Saga, deren ältester Text aus dem 13. Jh. stammt, eine unbekannte Überlieferung von fast 1000 Jahren anzuhängen. Da bin ich, denke ich, auf besserem Boden.
Aber dass die Namen und die eine oder andere Story innerhalb der Sage wesentlich älter sein können, will ich gar nicht bestreiten. Nur ist außer den Namen nichts identifizierbar. Drum ist der Erkenntnisgewinn einer solchen Feststellung sehr gering.
Aber es gibt natürlich in bestimmten Kreisen einen Trend, bestimmte Texte möglichst alt zu machen (Weihrauch),
So wie es auch die gegenteiligen Tendenzen gibt, am liebsten die Antike zu einer Fälschung der Renaissance zu machen.=)
 
Ich glaube, ich muss noch einmal in Erinnerung rufen: Ich bestreite nicht, dass im Nibelungelied alte, stückweise uralte Elemente vorliegen. Was mich stört, ist lediglich, dass das Nibelungenlied auf diese uralten Elemente reduziert wird. Wenn ich mich mit dem Lied befasse, dann doch, um dem Dichter zu 'begegnen'. Und da sehe ich, dass er mit uralten Namen, alten Elementen etwas zum Ausdruck gebracht hat, was seine Zeitgenossen fasziniert hat. Daher lautet meine Frage an das Lied eben nicht, wie alt sind die Elemente, die er verwendet hat, sondern was ist es, was die Zeitgenossen an dem Lied so faszinierend fanden.
Meine Fragestellung ist also eine andere. Daher fallen meine Antworten auch anders aus.
Nun vermute ich mal, dass das Zurückgehen in die Völkerwanderungszeit deshalb im Vordergrund steht, weil die davor liegenden Motive sich in einem überschaubaren Quellenmaterial finden. Das lässt sich leichter bewältigen. Dagegen ist die politische Situation zu Beginn des 13. Jh. sehr unübersichtlich. Schon allein die Verwandschaftsverhältnisse und das Beziehungsgeflecht zu Zeiten Barbarossas am Wormser Hof ist nur sehr schwer aufzudecken. Da sind die Zeugenlisten der Urkunden, die Gebetsverbrüderungen usw. zu durchforsten. Der Aufwand, die Anspielungen auf die zeitgenössische Situation zu ermitteln, ist wesentlich schwieriger und für Germanisten kaum zu bewältigen. Einen Namen wie Gundehar in der Lex Burtgundorum zu identifiziren, ist dagegen vergleichsweise einfach. Mit anderen Worten: Man kommt mit sehr geringem Aufwand zu irgendwelchen Erkenntnissen, deren Erkenntniswert mir selbst immer noch nicht klar geworden ist. Dieter hat es in #19 ja dargelegt: Er ist davon fasziniert, dass uralte Elemente bis zur Dichtung des Nibelungenliedes überlebt haben. Ist das nun wirklich das Nibelungenlied? Ist das Lied nicht mehr, als eine literarische Ausgrabungsstätte für Motiv-Fossilien? Dieter antwortet darauf, dass ihn anderes nicht interessiere. Sein gutes Recht. Jeder darf sich für das interessieren, was ihn nun eben interessiert.:rofl:

Ich interessiere mich dafür aber nicht. Ich nehme für mich das Recht in Anspruch zu sagen, mich interessieren die Fossilien nicht, denn sie lassen sich zum einen nicht wirklich als Fossilien zweifelsfrei beweisen, und selbst wenn, könnte ich das nur mit Hilfe anderer Quellen, die zuverlässiger sind - wie die lex Burgundorum (wenn wir mal davon ausgehen, dass der dortige Gundobar mit König Gunther wirklich identisch ist). Das bedeutet, der historische Erkenntnisgewinn ist gleich Null - man erfährt nur, was man bereits wusste. Über das Gedicht selbst erfährt man dadurch nichts. Das ist so fruchtbar, wie die chemische Analyse der Farben bei einem Gemälde Rembrandts. Aber beim Chemiker und bei denen, die die Echtheit von Gemälden prüfen, ist dies von hohem Interesse. Ich möchte lieber wissen, warum hat der Dichter dieses oder jenes in dem Gedicht geschrieben. Welche Bedeutung hat diese oder jene Episode oder Beschreibung. Welche Ober- und Untertöne hörten die zeitgenössischen Leser bei der Lektüre dieses Gedichtes. Wie war das Gedicht in seine Entstehungszeit eingebettet.
Und da ist für mich nicht die Aussage über das Alter der Elemente ein Streitpunkt, sondern die Aussage, der Dichter habe eine alte Geschichte erzählen wollen und, weil er die alten Zustände nicht gekannt habe, habe er die Wissenslücken mit zeitgenössischem Material einfach aufgefüllt. Und hier komme ich mit Cato # 10 tatsächlich überkreuz.
Der Streit über das Alter des einen oder anderen Bausteins ist für mich nur ein Nebenkriegsschaplatz, eigentlich mir ziemlich egal. Nur bei Gelegenheit der kühnen Behauptung Dieters in #9 :Wie ich oben schon ausgeführt habe, geht es in einem Erzählstrang um die Vernichtung der Burgunder unter ihrem König Gunther durch die Hunnen. König Gunther ist eindeutig von allen Forschern als der in den Quellen genannte "König Gundahar" identifiziert worden, in dessen Regierungszeit das Wormser Burgunderreich im Jahr 436 durch Hunnen vernichtet wurde." Und: " Das heißt also, dass zumindest der historische Kern, der Burgunder/Gunther/Hunnen umfasst, ganz zweifelsfrei ermittelt ist." hat mich zu der Bemerkung veranlasst, dass dies keinesfalls "zweifelsfrei" ist, und habe nach Belegen gefragt, die natürlich nicht kamen. Aber das ist eigentlich nicht meine Baustelle. Wenn man das "zweifelsfrei" weglässt und sich darauf beschränkt, dass es nicht auszuschließen ist, dass es sich so verhält, dann zucke ich die Schultern, sage, dass ich eine orale Überlieferung über so lange Zeit für eine zusammenhängende Geschichte zwar für unwahrscheinlich halte, aber seis drum.

Widerstand melde ich nur an, wenn mir jemand einreden will, hier soll mit riesigem Aufwand nur eine alte Geschichte erzählt werden, wobei der Dichter ohne Grund seine Vorlagen auch noch entscheidend verändert und überflüssige Details eingebaut hat, die auch diejenigen Abschreiber, die das Lied gekürzt haben, doch offenbar nicht für so unwesentlich gehalten haben, dass sie diese nicht ebenfalls weggekürzt haben. Und die Parallelen mit der Gegenwart des Dichters seien seiner Unkenntnis der früheren Zustände zuzuschreiben oder Zufall.
 
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