Sind Atombomben eine Bedrohung oder ein Friedensgarant?

Mimi77

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Wir haben in Geschichte gerade das Thema Krieg und dabei kam die Frage auf. Ich denke man kann dies von zwei Seiten betrachten. Entweder als Bedrohung, weil alle sterben werden oder als Friedensgarant, wenn man sie als Druckmittel zur Beendigung von Krieg einsetzt.

Über weitere Meinungen wäre ich sehr dankbar.
 
Wir haben in Geschichte gerade das Thema Krieg und dabei kam die Frage auf. Ich denke man kann dies von zwei Seiten betrachten. Entweder als Bedrohung, weil alle sterben werden oder als Friedensgarant, wenn man sie als Druckmittel zur Beendigung von Krieg einsetzt.

Über weitere Meinungen wäre ich sehr dankbar.

Sie waren beides! Ein Atomkrieg hätte das Ende jeder menschlichen Zivilisation bedeutet. Die atomare Aufrüstung der beiden Supermächte erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass womöglich mal durch ein Missverständnis, einen Zufall es zu einem atomaren Erstschlag kommen könnte. Andererseits waren Atomwaffen so schrecklich, dass selbst noch der abgebrühteste Politiker vor ihrem Einsatz zurückschrecken musste.

Dem atomaren Patt verdankte Europa paradoxerweise eine der längsten Friedensperioden seiner Geschichte.
 
Dem atomaren Patt verdankte Europa paradoxerweise eine der längsten Friedensperioden seiner Geschichte.
Ja - aber um einen sehr hohen Preis...
In der Heldensage glaubt man den Zauberwaffen, in der Realität muss eine gräßliche Bombe erst mal detonieren und Verwüstungen anrichten, damit man ihre "Tüchtigkeit" realisiert. Hiroshima und Nagasaki sind kein Ruhmesblatt!!...
 
Sind Atombomben eine Bedrohung oder ein Friedensgarant?

Diese Frage werden die Historiker erst dann beantworten können, wenn es sie nicht mehr gibt.
 
Ja - aber um einen sehr hohen Preis...
In der Heldensage glaubt man den Zauberwaffen, in der Realität muss eine gräßliche Bombe erst mal detonieren und Verwüstungen anrichten, damit man ihre "Tüchtigkeit" realisiert. Hiroshima und Nagasaki sind kein Ruhmesblatt!!...

Nicht nur das, Atommüll strahlt erheblich länger, als Ruhm braucht, um zu verblassen.
 
Diese Frage werden die Historiker erst dann beantworten können, wenn es sie nicht mehr gibt.
Das ist im methodischen Sinne richtig, dennoch erlaubt der Blick in die Geschichte interessante Rückschlüsse.

Der österreichische Kanzler Nehammer sagte mit Blick auf den Ukraine-Krieg kürzlich, dieser zeige, dass das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den Atommächten nicht mehr funktioniere. Ähnlich äußerten sich z.B. auch der linke französische Präsidentschaftskandidat Mélenchon und SPD-Fraktionschef Mützenich.

Alle blieben Argumente für ihre Aussagen schuldig.

Massenvernichtungswaffen sind moralisch indiskutabel, und nicht umsonst litt Einstein bis an sein Lebensende sogar unter seinem Minimalbeitrag, der amerikanischen Regierung den Bau der Atombombe vorgeschlagen zu haben. Davon zu trennen ist jedoch die Frage, ob die Doktrin der nuklearen Abschreckung in sich schlüssig ist.

Ich sehe keine Anhaltspunkte dafür, dass sie es nicht ist.

Hätte die Ukraine nicht wegen des Budapester Memorandums im Tausch gegen russische Sicherheitsgarantien (!) ihre Nuklearwaffen abgegeben, hätte Russland schwerlich den Angriff auf das Land wagen können.

Außerdem lohnt es sich, an die Wortwahl von Kanzler Scholz zu denken, der sich in seiner Regierungserklärung Ende Februar durch Präsident Putins Handeln ins 19. Jahrhundert zurückversetzt wähnte. Denn befänden wir uns im 19. Jahrhundert, so wäre die Situation sehr wahrscheinlich eine andere.

Viele historische Beispiele sprechen dafür. Die westlichen Garantiemächte des Budapester Memorandums hätten Russland längst den Krieg erklärt, um das Mächtegleichgewicht in Europa wiederherzustellen, und Russland würde sie seinerseits bekriegen, um die Ukraine von ihrer Unterstützung abzuschneiden.

Dazu ist es nicht gekommen, und es ist weiterhin äußerst unwahrscheinlich, dass es dazu kommt.

Es gibt natürlich keinen unwiderleglichen Beweis, dass diese (zum Glück!) geringe Eskalationsbereitschaft allein der nuklearen Abschreckung geschuldet ist. Gewiss spielen auch andere Faktoren eine wichtige Rolle, etwa ganz gewöhnliche Verlustängste im Zusammenhang mit der allgemeineren Verbreitung von Wohlstand.

Dennoch lässt sich konstatieren, dass diese 77 Friedensjahre zwischen den potentesten Militärmächten eine absolute historische Anomalie darstellen, und es nicht nur nahe liegt, sondern auch wohl begründet ist, einen Zusammenhang herzustellen zu jener entscheidenden Neuerung, die 1945 Einzug in die Arsenale hielt.

Bis weit in die Neuzeit hinein mussten die Eliten, denen ein Krieg regelmäßig am meisten nützt*, in eigener Person daran teilnehmen, sich selbst in Lebensgefahr bringen. Veränderte gesellschaftliche Strukturen, neue Kommunikationsmittel und Neuerungen wie die Wehrpflicht befreiten sie allmählich von dieser Pflicht.

Ich würde meinen, dass infolgedessen die Hemmschwelle, einen großen Krieg loszutreten, immer weiter sank, und dass die Weltkriege schwerlich möglich gewesen wären, hätten ihre größten Nutznießer sie nicht beginnen können, ohne sich persönlich einer Lebensgefahr auszusetzen. Die Atombombe kehrte den Trend um.

*) In diesen Tagen machen wieder viele Allgemeinplätze die Runde, etwa Adaptionen von Churchills Bonmot: "Old men make war, young men fight an die". Der Tenor: Regierungen zwängen ihren Ländern ständig Kriege auf, die diese nicht wollten. Ich halte das für unehrlich. Ich glaube, dass selbst ein totalitäres Regime ohne die zumindest stillschweigende Zustimmung seiner Untertanen keinen Krieg beginnen kann.

In diesem Sinne möchte ich meinen Gebrauch des Wortes "Eliten" verstanden wissen.
 
Das ist im methodischen Sinne richtig, dennoch erlaubt der Blick in die Geschichte interessante Rückschlüsse.

Der österreichische Kanzler Nehammer sagte mit Blick auf den Ukraine-Krieg kürzlich, dieser zeige, dass das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den Atommächten nicht mehr funktioniere. Ähnlich äußerten sich z.B. auch der linke französische Präsidentschaftskandidat Mélenchon und SPD-Fraktionschef Mützenich.

Alle blieben Argumente für ihre Aussagen schuldig.

Massenvernichtungswaffen sind moralisch indiskutabel, und nicht umsonst litt Einstein bis an sein Lebensende sogar unter seinem Minimalbeitrag, der amerikanischen Regierung den Bau der Atombombe vorgeschlagen zu haben. Davon zu trennen ist jedoch die Frage, ob die Doktrin der nuklearen Abschreckung in sich schlüssig ist.

Ich sehe keine Anhaltspunkte dafür, dass sie es nicht ist.

Hätte die Ukraine nicht wegen des Budapester Memorandums im Tausch gegen russische Sicherheitsgarantien (!) ihre Nuklearwaffen abgegeben, hätte Russland schwerlich den Angriff auf das Land wagen können.

Außerdem lohnt es sich, an die Wortwahl von Kanzler Scholz zu denken, der sich in seiner Regierungserklärung Ende Februar durch Präsident Putins Handeln ins 19. Jahrhundert zurückversetzt wähnte. Denn befänden wir uns im 19. Jahrhundert, so wäre die Situation sehr wahrscheinlich eine andere.

Viele historische Beispiele sprechen dafür. Die westlichen Garantiemächte des Budapester Memorandums hätten Russland längst den Krieg erklärt, um das Mächtegleichgewicht in Europa wiederherzustellen, und Russland würde sie seinerseits bekriegen, um die Ukraine von ihrer Unterstützung abzuschneiden.

Dazu ist es nicht gekommen, und es ist weiterhin äußerst unwahrscheinlich, dass es dazu kommt.

Es gibt natürlich keinen unwiderleglichen Beweis, dass diese (zum Glück!) geringe Eskalationsbereitschaft allein der nuklearen Abschreckung geschuldet ist. Gewiss spielen auch andere Faktoren eine wichtige Rolle, etwa ganz gewöhnliche Verlustängste im Zusammenhang mit der allgemeineren Verbreitung von Wohlstand.

Dennoch lässt sich konstatieren, dass diese 77 Friedensjahre zwischen den potentesten Militärmächten eine absolute historische Anomalie darstellen, und es nicht nur nahe liegt, sondern auch wohl begründet ist, einen Zusammenhang herzustellen zu jener entscheidenden Neuerung, die 1945 Einzug in die Arsenale hielt.

Bis weit in die Neuzeit hinein mussten die Eliten, denen ein Krieg regelmäßig am meisten nützt*, in eigener Person daran teilnehmen, sich selbst in Lebensgefahr bringen. Veränderte gesellschaftliche Strukturen, neue Kommunikationsmittel und Neuerungen wie die Wehrpflicht befreiten sie allmählich von dieser Pflicht.

Ich würde meinen, dass infolgedessen die Hemmschwelle, einen großen Krieg loszutreten, immer weiter sank, und dass die Weltkriege schwerlich möglich gewesen wären, hätten ihre größten Nutznießer sie nicht beginnen können, ohne sich persönlich einer Lebensgefahr auszusetzen. Die Atombombe kehrte den Trend um.

*) In diesen Tagen machen wieder viele Allgemeinplätze die Runde, etwa Adaptionen von Churchills Bonmot: "Old men make war, young men fight an die". Der Tenor: Regierungen zwängen ihren Ländern ständig Kriege auf, die diese nicht wollten. Ich halte das für unehrlich. Ich glaube, dass selbst ein totalitäres Regime ohne die zumindest stillschweigende Zustimmung seiner Untertanen keinen Krieg beginnen kann.

In diesem Sinne möchte ich meinen Gebrauch des Wortes "Eliten" verstanden wissen.
Herzlichen Dank für die ausführliche Einschätzung
 
Davon zu trennen ist jedoch die Frage, ob die Doktrin der nuklearen Abschreckung in sich schlüssig ist.
Das dürfte sie auf jeden Fall sein, wie man am Beispiel Nordkoreas sieht, das dank seiner Atomwaffen unantastbar wurde. Es hat schon seinen Grund, weshalb Machthaber so gerne nach Atomwaffen streben. Hätte Gaddafi Atomwaffen besessen, hätte sich der "Westen" gehütet, ihn wegzubomben. Hätte Saddam Hussein Atomwaffen besessen, würde er heute noch sein Land tyrannisieren (falls er nicht im "Arabischen Frühling" gestürzt worden wäre).

Es gibt natürlich keinen unwiderleglichen Beweis, dass diese (zum Glück!) geringe Eskalationsbereitschaft allein der nuklearen Abschreckung geschuldet ist. Gewiss spielen auch andere Faktoren eine wichtige Rolle, etwa ganz gewöhnliche Verlustängste im Zusammenhang mit der allgemeineren Verbreitung von Wohlstand.
An Kriegsbereitschaft scheint es heute vor allem in einigermaßen wohlhabenden demokratischen Staaten zu fehlen, nämlich zumindest an der Bereitschaft, einen Krieg zu führen, der hohe Verluste unter den eigenen Leuten verursacht und der ins eigene Land getragen werden könnte. Dazu ist die Masse der Bürger einfach nicht bereit. (Solange bloß fremde Länder, die nicht zurückschlagen können, bombardiert werden, ist das etwas anderes.) Regierungen, die wiedergewählt werden wollen, schrecken davor zurück.

Dennoch lässt sich konstatieren, dass diese 77 Friedensjahre zwischen den potentesten Militärmächten eine absolute historische Anomalie darstellen, und es nicht nur nahe liegt, sondern auch wohl begründet ist, einen Zusammenhang herzustellen zu jener entscheidenden Neuerung, die 1945 Einzug in die Arsenale hielt.

Bis weit in die Neuzeit hinein mussten die Eliten, denen ein Krieg regelmäßig am meisten nützt*, in eigener Person daran teilnehmen, sich selbst in Lebensgefahr bringen. Veränderte gesellschaftliche Strukturen, neue Kommunikationsmittel und Neuerungen wie die Wehrpflicht befreiten sie allmählich von dieser Pflicht.

Ich würde meinen, dass infolgedessen die Hemmschwelle, einen großen Krieg loszutreten, immer weiter sank, und dass die Weltkriege schwerlich möglich gewesen wären, hätten ihre größten Nutznießer sie nicht beginnen können, ohne sich persönlich einer Lebensgefahr auszusetzen. Die Atombombe kehrte den Trend um.
Allerdings gab es zwischen 1871 und 1914 in Europa, vom Balkan abgesehen, keinen größeren Krieg. Das waren immerhin 43 Jahre Frieden, und das in einer Zeit des Revanchismus, Militarismus und Säbelrasselns, als die Entscheidungsträger nicht mehr ihr eigenes Leben riskierten und es noch keine atomare Abschreckung gab.

In früheren Jahrhunderten, in Zeiten, in denen sich die "Eliten" noch selbst in Lebensgefahr begaben, waren Kriege in Europa wesentlich häufiger.
 
"In früheren Jahrhunderten, in Zeiten, in denen sich die "Eliten" noch selbst in Lebensgefahr begaben, waren Kriege in Europa wesentlich häufiger."
Da fallen mir zumindest bis zum 30jährigen Krieg auf Anhieb eigentlich nur Gustav Adolf, und Karl XII ein, der Rest der Herrschaften lies schon damals eher kämpfen bzw trieb sich nur als Tourist auf dem Feldherrnhügel rum.
 
Das dürfte sie auf jeden Fall sein, wie man am Beispiel Nordkoreas sieht, das dank seiner Atomwaffen unantastbar wurde. Es hat schon seinen Grund, weshalb Machthaber so gerne nach Atomwaffen streben. Hätte Gaddafi Atomwaffen besessen, hätte sich der "Westen" gehütet, ihn wegzubomben. Hätte Saddam Hussein Atomwaffen besessen, würde er heute noch sein Land tyrannisieren (falls er nicht im "Arabischen Frühling" gestürzt worden wäre).
Im Prinzip richtig, allerdings ist hier nicht zuletzt die Zahl der verfügbaren Sprengköpfe und die Art der Trägermittel entscheidend, was weitere Aussagen über die Doktrin der nuklearen Abschreckung erlaubt.

Ein Beispiel:

Wäre Libyen jemals Nuklearmacht geworden, so hätte es (wenn man der Wikipedia glauben darf) einige wenige nukleare Freifallbomben besitzen können. Unantastbar gegenüber dem "Westen" wäre es dadurch nicht geworden, allenfalls gegenüber einer landgestützten Invasion hätte dieses Arsenal Schutz geboten.

Libyen verfügte nämlich nur über eine Handvoll taktischer Bomber mit kurzer Reichweite, und hätte mit militärisch wertlosen Terrorangriffen allenfalls Malta oder Lampedusa bedrohen können. Das integrierte Luftabwehr-System der NATO, das täglich dutzende russische Flugzeuge an seinen Grenzen sicher abfängt, hätte – vor allem mit entsprechender Vorbereitung – einen libyschen Angriff leicht vereiteln können.

Kim Jong-un hingegen sitzt sicher unter seinem Nuklearschirm, weil er nicht nur über viele Sprengköpfe verfügt, sondern auch über geeignete Trägersysteme, die Seoul in zwei Minuten erreichen könnten.

Im Gegensatz zu Gaddafi besitzt er damit eine sichere Erstschlagfähigkeit, die Südkorea und die USA davon abhält, Krieg gegen ihn zu führen – was diese übrigens völkerrechtskonform jederzeit tun könnten, da sich Nordkorea nach wie vor in dem von ihm eröffneten Kriegszustand mit beiden Staaten befindet.

Gleichwohl kann Kim einen Erstschlag nicht wagen, da ihm die Zweitschlagfähigkeit fehlt, und er wohl auch nicht mehr unter dem Schutz Chinas steht. Sollte er offensiv Nuklearwaffen gegen Südkorea und/oder die auf Wunsch Südkoreas dort stationierten US-Truppen einsetzen, wäre dies das Ende seines Landes.

Daran kann man die zwei entscheidenden Schwächen der Doktrin der nuklearen Abschreckung ableiten:

Nicht umsonst spricht man von einem "Gleichgewicht des Schreckens", doch eine Balance, soll sie etwas bewirken, muss gehalten werden. Ein Wettrüsten wird damit schier zur Pflicht, da qualitative und quantitative Ungleichgewichte nicht mehr wie bei konventionellen Waffen durch andere Faktoren ausgleichbar sind.

Nicht bei einer etwaigen Aufrüstung des Gegners gleichzuziehen, wäre also noch gefährlicher als selbst aufzurüsten. Besteht nämlich ein Ungleichgewicht und dieses wird dem Gegner bekannt, könnte er versucht sein, den vermeintlichen Vorteil auszunutzen. Eine solche Situation führte zur Oktoberkrise von 1962.

Die Literatur nennt noch zwei andere Probleme, die aber vielleicht mehr Wertungsspielraum lassen:

"Mad man in the loop" bezeichnet die Frage, was passiert, wenn eine entscheidungsbefugte Person in einem nuklear bewaffneten Staat in einer Phase geistiger Verwirrung einen Nuklearschlag befiehlt.

Persönlich sehe ich hier Anlass zur Hoffnung, dass rein gar nichts passieren wird, weil an dem Start selbst einer einzigen Interkontinentalrakete eben nicht nur diese Person, sondern hunderte beteiligt sind, und der Kalte Krieg gezeigt hat, dass diese Personen selbst in Situationen, in denen ihre Vorgesetzten nicht den Verstand verloren haben, noch selber zu denken imstande sind (erinnert sei nur an Stanislaw Petrow).

Relevanter scheint mir die von der Spieltheorie aufgeworfene Frage, ob nicht Bilder wie das vom "nuklearen Holocaust" dermaßen undenkbar sind, dass sie zum "Bluff" verleiten.

Eine militaristische zweitschlagfähige Nuklearmacht wie Russland könnte etwa den Westen angreifen, in dem sicheren Vertrauen darauf, dass die Gegenseite die Niederlage akzeptieren wird, anstatt mit einem nuklearen Erstschlag gegen den Angreifer auch den eigenen Fortbestand zu gefährden.

Nachdem Russland die Krim annektiert und entsprechende Pläne im russischen Staatsfernsehen durchdekliniert hatte, kam in der NATO die Befürchtung auf, der Kreml könnte versuchen, die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen im Sturm zu nehmen, in der Erwartung, dass der Westen wegen ein paar tausend Quadratkilometern Land und ein paar Millionen Menschen keinen nuklearen Winter riskieren wird.

Deshalb rotiert die NATO, auch Deutschland, regelmäßig Truppenkontingente durch diese Länder. Militärisch ist ihre Präsenz bedeutungslos, aber garantiert, dass auch westliche Soldaten einem Angriff zum Opfer fallen würden, was wiederum den Kreml zwingt, nicht darauf zu vertrauen, dass die NATO tatenlos bleiben wird.

Immerhin, im konkreten Fall scheint diese Gefahr einstweilen gebannt; ihre Leistung in der Ukraine zeigt, dass der russischen Armee die logistischen und wohl auch doktrinären Voraussetzungen dafür fehlen, die baltischen Staaten im Handstreich zu nehmen. Trotzdem wird man solche Fälle berücksichtigen müssen.
Allerdings gab es zwischen 1871 und 1914 in Europa, vom Balkan abgesehen, keinen größeren Krieg. Das waren immerhin 43 Jahre Frieden, und das in einer Zeit des Revanchismus, Militarismus und Säbelrasselns, als die Entscheidungsträger nicht mehr ihr eigenes Leben riskierten und es noch keine atomare Abschreckung gab.
Guter Einwand, doch wollte ich mein "schwerlich" nicht so verstanden wissen, als sei die wachsende Entfernung zwischen Front und Etappe bzw. Schlachtfeld und Hauptstadt der einzige Grund gewesen.

Freilich würde ich meinen, dass die genannte Zeitspanne einen Sonderfall darstellt.

Die britische Außenpolitik jener Jahre, die geschickte Diplomatie Bismarcks, aber auch die neue Blockbildung, sowie die vielfältigen technischen und organisatorischen Neuerungen, dehnten diesen scheinbaren Frieden über seine natürliche Lebenserwartung aus.

Niemand hat den Grund für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs je prägnanter formuliert als Rowan Atkinson in seinen Blackadder-Sketches: "Weil es zu anstrengend wurde, weiter Frieden zu halten."

Mir scheint, der erste industrialisierte totale Krieg der Geschichte (in Amerika) sowie der schnelle Sieg Deutschlands über Frankreich 1871 führten zu einer Art Zeit des Atemholens vor dem nächsten Sprung. Die Eisenbahn, die Telegrafie, später das Telefon und neue Waffen mussten erst Verbreitung finden, um die Entscheidungsträger überhaupt aus dem Bereich zu entfernen, wo sie noch Pulvergestank in der Nase hätten.

Im Amerikanischen Bürgerkrieg oder auch den Einigungskriegen fielen durchaus noch viele Mitglieder der Oberschicht. In Frankreich kämpften noch zwei unmittelbare Verwandte des Kaisers – darunter der spätere Friedrich III., der dadurch nachhaltig beeindruckt wurde und den Weltkrieg womöglich verhindert hätte.

Die Zeit zwischen 1871 und 1914 würde ich insgesamt eher als Beispiel dafür werten, wie der Kalte Krieg ohne "mutually assured destruction" sehr wahrscheinlich geendet hätte.
 
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