Dass sie nicht vorstellig geworden ist, obwohl als verhandlungsfähig geltend, habe ich mitbekommen. Aber dass die Dame auf der Flucht ist. Was denkt die denn, was sie damit erreicht?
Zumindest stellt sich so nicht die Frage nach ihrer Verhandlungsfähigkeit, sehen wir es positiv. Wer es wegzurennen schafft, schafft es auch in den Gerichtssaal.
Nur ein Satz der zum Nachdenken anregen sollte: "Auge um Auge, Zahn um Zahn!"
Sind wir das? Ist das unser Rechtsempfinden unserer Demokratie?
Je älter ich werde und umso mehr ich (aus beruflichen wie philosophischen Gründen) über solche Fragen nachsinne, umso mehr gelange ich zu der Ansicht, dass das Talionische Gesetz zu den tragisch verkannten Errungenschaften der Menschheitsgeschichte gehört und vielleicht rehabilitiert werden sollte.
Was besagt "Auge um Auge, Zahn um Zahn" im Grunde? Ersetzen wir die – vermutlich für den schlechten Ruf verantwortliche – körperliche Metapher durch eine materielle: Stiehlst Du mir 100 Euro, büßt du mit dem Verlust von 100 Euro. Wohlgemerkt: Du büßt nicht mit dem Verlust von 10 oder 1.000 Euro.
"Auge um Auge" meint, dass allein der verursachte Schaden die Strafbemessung beeinflussen sollte. Nicht Sympathie oder Antipathie der Richter, Machthaber, Öffentlichkeit; nicht die Identität von Opfer und Beschuldigtem; nicht parallel verfolgte, z.B. politische oder fiskalische, Ziele; nicht die Ehre.
Das Lex Talionis wird gern als ein archaisches Relikt dargestellt, das wir gottlob überwunden hätten, aber wurde es jemals wirklich angewandt? Rechtssetzung und -sprechung waren seit jeher eine komplexe Gemengelage. Bis heute ist das Unrecht nur ein Gewicht, und oft nicht das schwertste, auf Justitias Wage.
Wer sich mit der Entstehung neuer Strafgesetze befasst, wird etwa feststellen, dass die Kosten der Umsetzung in den Beratungen auf Ämter- und Parlamentsebene mit den breitesten Raum einnehmen. So gesehen könnte uns ein bisschen mehr "Auge um Auge" nicht schaden.
Es hat keinen Sinn, einen dement dahinsiechenden Greis in einen Gerichtssaal zu zerren und quasi in effigie zu bestrafen. Doch leben wir in einer Zeit, in der es möglich ist, bei guter Gesundheit ein biblisches Alter zu erreichen. In Deutschland leben über 20.000 Menschen, die älter als hundert Jahre sind.
Warum sollte jemand, der noch klaren Verstandes ist und für den die Prozessteilnahme nicht gerade körperliche Folter darstellt, nicht für seine Taten belangt werden? Weil er vielleicht noch während der Verhandlung eines natürlichen Todes stirbt? Das kann jedem Angeklagten so ergehen.
Weil 75 Jahre vergangen sind? Zu welchem Zeitpunkt gebietet die Moral aber das Ziehen der Grenze? Verjährungsfristen dienen vor allem der Prozessökonomie, sie sagen nichts darüber aus, ob das begangene Unrecht mit der Zeit seine Strafwürdigkeit verliert. Darum ist Mord auch von Verjährung ausgenommen.
Sollten Nazi-Verbrecher also heute noch verurteilt werden? Aber natürlich!