Sollten Nazi-Verbrecher heute noch verurteilt werden??

Obwohl ich die Verurteilung von Nazi-Verbrechern eigentlich unabhängig vom Alter befürworte, halte ich das aktuelle Prozessieren gegen die Nazi-Seniorin für ein verspätetes Treiben. Nachdem die meisten Verbrecher gestorben sind und sich das Problem der Verurteilung einer großen Gruppe gelöst hat, wirkt die Verfolgung der nunmehr einzelnen Verbliebenen eher sensationsgierig als wahrlich gerechtigkeitlieb.
So ähnlich kommt mir das auch vor. Nachdem jahrzehntelang in Deutschland (und auch Österreich) die Verfolgung von NS-Verbrechern recht halbherzig (oder auch gar nicht) betrieben wurde, versucht man jetzt, nachdem die echten Schwergewichte weggestorben sind, anscheinend die Versäumnisse der Vergangenheit "gut zu machen", indem man die letzten noch lebenden Personen, bei denen man wenigstens irgendeine Verbindung zu Verbrechen herstellen kann, vor Gericht stellt.

Um eines klarzustellen: Weder dass seit Kriegsende 76 Jahre vergangen sind, noch dass die jetzt Angeklagten zur Zeit der ihnen vorgeworfenen Taten noch jung waren, noch dass andere Personen, die in wesentlich massiverer Weise tatsächlich unmittelbar und eigenverantwortlich an Verbrechen beteiligt waren, in der Vergangenheit nicht oder nicht angemessen belangt oder bestraft wurden, darf ein Grund sein, noch lebende mögliche Täter auch nicht zu belangen. Wer sich tatsächlich des Mordes oder der Bestimmung oder Beitragstäterschaft zum Mord schuldig gemacht hat, soll und muss dafür auch heute noch belangt, verurteilt und bestraft werden. Nur vor einem sollte man sich dabei hüten: Jetzt extra die Kriterien einer Tatbestandsmäßigkeit so auszudehnen, dass man die letzten noch lebenden potentiellen Angeklagten auch noch darin unterbringen kann.
 
Hat das Gericht Oskar Gröning nicht geglaubt ?
"Nach eigenen Angaben stellte er insgesamt drei Versetzungsgesuche an die Front, um der ihm unangenehmen Tätigkeit im Vernichtungslager Auschwitz zu entkommen."
Ein eher linker Rechtsanwalt meinte damals, mehr haette er nicht tun koennen.


Ob die Aussage, dass jemand mehrfach um Versetzung ersucht habe, plausibel ist oder ob es sich um eine reine Schutzbehauptung handelt, muss das Gericht anhand von Dokumenteu und überlieferten Egozeugnissen bewerten, entweder weil die Gesuche noch im Archiv lagerten, z.B. in einer Personalakte (sofern noch vorhanden; dass das in Auschwitz der Fall ist, weiß ich, nur nicht, wie vollständig), oder aber anhand offizieller oder inoffizieller Äußerungen, die der jeweilige Beschuldigte bis 1945 tätigte, die ein Licht auf seine damalige Haltung warfen.

Zu den Versetzungsanträgen gibt es einen Artikel in der Welt:

So wankt Grönings Behauptung, er sei vom Geschehen im Vernichtungslager persönlich so angewidert gewesen, dass er es unbedingt wieder verlassen wollte. Mehrere Versetzungsanträge habe er gestellt, sagt er aus, die aber im Papierkorb verschwunden seien. Der Experte Bajohr zweifelt diese Angabe an. „Wenn sich nichts in der Personalakte findet, ist in der Regel auch nichts gestellt worden“, sagte er bereits am Dienstag.​

Prozess in Lüneburg: SS-Mann Gröning wollte nicht aus Auschwitz weg - WELT
 
Es gibt aber umgekehrt Belege dafür, dass Leute, die sich weigerten, an Mordaktionen teilzunehmen, andere Aufgaben erhielten. Z.B. Schreibarbeiten. Das war in den Befehlen für die Mordaktionen bereits mit eingepreist.
Das gilt für diejenigen, denen Mordaktionen zugeteilt wurden (Soldaten, Wachleute, Aufseher u.a.) - aber was war "eingepreist" bei Berufen, die nicht zu Mordaktionen eingeteilt wurden, z.B. Büroarbeit in Behörden, Sekretärinnen, Schreibkräfte, sofern diese die ihnen zugeteilten Arbeiten nicht hätten erledigen wollen?
Damit wieder die Frage: welche Pflichten, Rechte, Befugnisse, Spielräume hatte eine "Sekretärin" des Lagerkommandanten (insbesondere eine noch minderjährige solche) ?
 
Damit wieder die Frage: welche Pflichten, Rechte, Befugnisse, Spielräume hatte eine "Sekretärin" des Lagerkommandanten (insbesondere eine noch minderjährige solche) ?
Wieso sollte das die Frage sein?
Ist es nicht vielmehr die Frage welche Rolle sie spielte?
Die Definition von 'Pflichten, Rechte, Befugnissen' kann ja nicht einfach übertragen werden auf Rollen in einem sehr ungewöhnlichen und dynamischen Umfeld.

Aber wie auch immer, freut es mich, dass Du wieder da bist!
(....Strafverteidiger in Pension? :D)
 
Das gilt für diejenigen, denen Mordaktionen zugeteilt wurden (Soldaten, Wachleute, Aufseher u.a.) - aber was war "eingepreist" bei Berufen, die nicht zu Mordaktionen eingeteilt wurden, z.B. Büroarbeit in Behörden, Sekretärinnen, Schreibkräfte, sofern diese die ihnen zugeteilten Arbeiten nicht hätten erledigen wollen?
Es ging in meinem Beitrag nicht um die Sekretärin, sondern um den alten Mythos, man sei selbst an die Wand gestellt worden, wenn man nicht mitgemacht hätte.
Auch der Sekretärin wäre das nicht passiert, wenn sie ihren Dienst als Sekretärin des Lagerkommandanten quittiert hätte.
 
Zunächst einmal ist es nicht so einfach zu entscheiden, ob es sich um eine Schutzbehauptung handelt, oder nicht. Gröning hat zugegeben was er getan hat und (vermutlich ehrliche) Reue gezeigt. Das ist aber kein Grund für einen Freispruch. Seine Geständigkeit ist ihm aber positiv ausgelegt worden.
3 Versetzungsgesuche haetten fuer einen Freispruch nicht gereicht ?

Was soll das sein? Ein Argumentum ad verecundiam? Wenn sogar ein 'eher linker' Anwalt das behauptet, dann ist der olle Ex-SS-Mann entlastet?
Die Aufgabe eines Anwalts in unserem Rechtssystem ist es, seinen Mandanten bestmöglich zu verteidigen. Symapthie und Antipathie sind da unerheblich.
Er hatte beruflich mit dem Fall nichts zu tun. Er hat es in sein Blog geschrieben.
 
3 Versetzungsgesuche haetten fuer einen Freispruch nicht gereicht ?

Habe ich das geschrieben?

Nein, habe ich nicht.

Ich habe geschrieben, dass eine Schutzbehauptung, man habe etwas unternommen oder zumindest zu unternehmen versucht, alleine nicht hinreichend ist.
Sonst würde z.B. die Polizei nicht Alibis überprüfen. (< Das habe ich nicht geschrieben, ich ergänze es hier.)

Ich schlug vor (und ging dabei implizit davon aus, dass sowohl Kläger als auch Verteidiger schlau genug waren, das zu tun), die Personalakte zu überprüfen, sowie weitere offizielle und inoffizielle Egozeugnisse, sofern (noch) vorhanden.
Frank Bajohr, der offensichtlich als Sachverständiger im Prozess gehört wurde, hat - siehe Beitrag von Carolus - genau das getan und in der Personalakte keinen der Versetzungsanträge gefunden.
 
Er hatte beruflich mit dem Fall nichts zu tun. Er hat es in sein Blog geschrieben.
Also... ein angeblich "linker" aber für uns anonymer Anwalt hat angeblich in seinem Blog Gröning aufgrund seiner mündlich behaupteten Versetzungsanträge "freigesprochen" (hier in Anführungszeichen, weil freisprechen nur der Richter kann).
Darin steckt die Behauptung: "Wenn sogar ein Linker einen SS-Mann 'freispricht', dann MUSS der ja unschuldig sein."

So etwas nennt man ein Argumentum ad verecundiam. Nicht der Inhalt ist das Argument, sondern die Person - eben ein für uns anonymer, angeblich "linker" Anwalt.

Dass es naiv ist, eine Schutzbehauptung einfach so zu glauben, sollte wohl offensichtlich sein.
Nun gut, unsere Rechtssystem will, dass im Zweifelsfall, der Angeklagte Recht bekommt. Und das ist auch gut so.

Also muss der Zweifel ausgeräumt werden. Entweder zu Gunsten des Angeklagten, damit beim Freispruch kein bitterer Nachgeschmack bleibt oder zu Ungunsten des Angeklagten, damit man ihn verurteilen kann.

Dafür zieht man Sachverständige heran, in diesem Fall den Historiker Bajohr, die sich z.B. mit der Aktenführung der Personalkartei der SS (im Lager-Komplex Auschwitz) auskennen. Und wenn die wissen, dass Versetzungsgesuche normalerweise in den Akten zu finden sind, bei Gröning dies aber trotz erhaltener Personalakte nicht der Fall war - und wenn dieser Überlieferungsmangel gleich drei Mal auftritt, das schon ein sehr merkwürdiger Zufall wäre.

Stattdessen haben wir aber Egozeugnisse, wie z.B. folgendes:

Bereits am ersten Abend [in Auschwitz] kamen Speck, Ölsardinen und „Wodka, Wodka, Wodka“ auf den Tisch, alles Dinge, die der Angeklagten „seit Monaten nicht gesehen hatte“. Diese Dinge stammten aus dem geplünderten Gepäck der Deportierten, was den Angeklagten indes nicht störte, weil diese sie „ja nicht mehr brauchten“.
Oder das Eingeständnis, dass er für einen reibungslosen Ablauf der Vernichtung mitverantwortlich war:

Mit den Worten des Angeklagten ausgedrückt ging es darum, alles zu verhindern, „was Panik auslöst und denen die Augen öffnet, alles sollte so ruhig wie möglich ablaufen.“ [...]
Durch seine Tätigkeit beim „Rampendienst“ half der Angeklagte wissentlich und willentlich dabei, durch die Bewachung des Gepäcks die Arglosigkeit der Deportierten aufrechtzuerhalten und gleichzeitig durch seine uniformierte und bewaffnete Anwesenheit auf der Rampe etwaige Widerstände oder Fluchtgedanken gar nicht erst aufkommen zu lassen und somit die schnelle und reibungslose Durchführung des eigentlichen Tötungsvorgangs in den Gaskammern zu ermöglichen.
[...]
Dem Angeklagten war bewusst, dass er die SS und die von ihr in Auschwitz betriebene Tötungsmaschinerie unterstützte, indem er ihr das von ihm verwaltete Geld zur Verfügung stellte.​

Bezgl. seiner angeblichen Versetzungsgesuche hat er sich zudem nicht ganz widerspruchsfrei geäußert:

Binnen weniger Wochen erfuhr der Angeklagte, teils aus Gesprächen mit anderen SS-Angehörigen, überwiegend aus eigener Wahrnehmung, immer mehr Einzelheiten über die Abläufe und den Umfang der massenhaften Tötung von Menschen. Er versah eine nicht näher aufklärbare Zahl von Rampendiensten, sah die Berge von Gepäck, die auf der Rampe lagen und zählte Geld in allen möglichen Währungen. Er beteiligte sich an der Suche nach Flüchtigen, hörte die Menschen in der Gaskammer schreien, sah tagsüber den Rauch aus den Schornsteinen der Krematorien aufsteigen und nachts die Flammen aus den Verbrennungsgruben schlagen. Er beobachtete, wie ein SS-Wachmann ein an der Rampe zurückgelassenes Baby an den Füßen packte und an einem LKW totschlug. Obwohl er weiterhin der Überzeugung war, dass die „Entsorgung“ nicht arbeitsfähiger Juden notwendig war („Das Töten hielt ich grundsätzlich für o.k.!“), wandte er sich wegen der aus seiner Sicht überflüssigen Brutalität der Tötung des Babys an seinen Vorgesetzten. Dieser äußerte Verständnis, wies ihn aber gleichzeitig nachdrücklich darauf hin, dass er - der Angeklagte - als SS-Angehöriger seine Pflicht zu tun habe. Dabei ließ es der Angeklagte bewenden. Obwohl in ihm der Gedanke aufkam, „im falschen Boot zu sitzen“, fügte er sich, wie er es ausdrückte, „in die Bequemlichkeit des Gehorsams“, weil er wusste, dass die einzige Möglichkeit, Auschwitz zu verlassen, für ihn darin bestand, sich zu den kämpfenden SS-Einheiten („Feldeinheiten“) an die Front versetzen zu lassen. Weil er als „kriegsverwendungsfähig“ („k.v.“) und „abkömmlich“ galt, wäre ihm dies auch ohne weiteres - insbesondere ohne dienstliche Nachteile befürchten zu müssen - möglich gewesen. Für ihn war dies indes keine ernsthafte Option („Ich hatte Angst vor der Front, ich war ja kein doofer Vierzehnjähriger mehr!“). Spätestens als er Ende 1942 erfuhr er, dass sein Bruder G. vor Stalingrad gefallen war, kam eine freiwillige Meldung zur Front für ihn nicht mehr in Betracht, zumal er sich wenig später mit der Frau verlobte, mit der zuvor sein Bruder verlobt gewesen war. Der Angeklagte sah sich in der Pflicht, nunmehr anstelle seines Bruders mit ihr „die Blutlinie aufrechtzuerhalten“, was einen Fronteinsatz aus seiner Sicht ausschloss. In seinem „Verlobungs- und Heiratsgesuch“, das er 1943 an das „Rasse- und Siedlungshauptamt-SS“ richtete, bat er um „bevorzugte Bearbeitung“ seines Antrags und begründete dies wie folgt: „Ich bin letzter Sohn, da mein Bruder 1942 vor Stalingrad fiel. Da ich k.v. bin und mit einer Versetzung zu einer Feldeinheit in Kürze rechnen muss, bitte ich mein Gesuch bevorzugt zu bearbeiten und mir die Heiratsgenehmigung bis zum XX 1943 zu erteilen.“ Der Angeklagte erhielt die beantragte Genehmigung, heiratete und arrangierte sich mit den Verhältnissen in Auschwitz. Er vertrieb sich die Zeit nach Dienstschluss mit Leichtathletik und war froh, als Angehöriger der Häftlingsgeldverwaltung „unmittelbar mit diesen Morden nichts zu tun zu haben“, wenngleich ihm klar war, dass er durch seine Tätigkeit dazu beitrug, dass „das Lager Auschwitz funktionierte“ und er dies um seiner eigenen Sicherheit willen auch zumindest billigend in Kauf nahm.
Ein Versetzungsgesuch erfolgte aus anderen Gründen:

Nach dem Ende der „Ungarn-Aktion“ - zu diesem Zeitpunkt waren die Alliierten bereits in Frankreich gelandet und die Rote Armee weit nach Westen vorgestoßen - erkannte der Angeklagte, dass Auschwitz für ihn kein sicherer Ort mehr war. Er wusste, dass die russischen Truppen Auschwitz früher oder später erreichen würden und hatte nicht die Absicht, ausgerechnet dort als SS-Angehöriger in Kriegsgefangenschaft zu gehen. Entgegen seiner ursprünglichen Hoffnung, den Krieg dort überdauern zu können, sah er sich gezwungen, sich nunmehr doch zu einer SS-Feldeinheit an die Front versetzen zu lassen, zumal ohnehin vorgesehen war, alle abkömmlichen und kriegsverwendungsfähigen („k.v.-fähigen“) SS-Männer aus Auschwitz abzuziehen und an die Front zu schicken, und stellte ein entsprechendes Gesuch. Im Rahmen einer „k.v.-Austauschaktion“ wurde er im Oktober 1944 gemeinsam mit 500 anderen SS-Männern aus Auschwitz abgezogen. Er wurde in der Folge bei der sog. „Ardennenoffensive“ eingesetzt und verwundet.
Quelle: Urteilsbegründung vom 15.7.2015
 
So ähnlich kommt mir das auch vor. Nachdem jahrzehntelang in Deutschland (und auch Österreich) die Verfolgung von NS-Verbrechern recht halbherzig (oder auch gar nicht) betrieben wurde, versucht man jetzt, nachdem die echten Schwergewichte weggestorben sind, anscheinend die Versäumnisse der Vergangenheit "gut zu machen", indem man die letzten noch lebenden Personen, bei denen man wenigstens irgendeine Verbindung zu Verbrechen herstellen kann, vor Gericht stellt.

Ist es nicht möglich, das heute in Justiz eine andere Einstellung zu der Verfolgung von Nazi-Verbrechern vorherrscht?

Ich kann mich noch zur Genüge an Aussagen älterer Nachbarn usw. erinnern, die davon einfach nicht hören und und sehen wollten. Frei nach dem Motto, der Krieg sei so lange her und die anderen haben auch Dreck am Stecken.
 
Ja sicher. (Allerdings nicht nur dort, sondern auch in der Politik. In Österreich sorgte u. a. Justizminister Christian Broda lange Zeit dafür, dass nicht allzu intensiv ermittelt und angeklagt wurde.)

Und das ist grundsätzlich natürlich gut so. Das darf allerdings nicht dazu führen, dass die letzten noch lebenden Beteiligten gewissermaßen stellvertretend für alle jene mittlerweile verstorbenen mutmaßlichen Verbrecher, die nicht gehörig belangt wurden, verurteilt werden. Ausschlaggebend für eine Verfolgung und mögliche Verurteilung darf nur die individuelle Schuld sein und nicht irgendwelche allfälligen Erwägungen, noch schnell (ehe es endgültig zu spät ist, weil alle gestorben sind) durch ein paar Verurteilungen die Versäumnisse der Vergangenheit gutmachen zu wollen.
 
Ist es nicht möglich, das heute in Justiz eine andere Einstellung zu der Verfolgung von Nazi-Verbrechern vorherrscht?

Ja sicher. [...] Das darf allerdings nicht dazu führen, dass die letzten noch lebenden Beteiligten gewissermaßen stellvertretend für alle jene mittlerweile verstorbenen mutmaßlichen Verbrecher, die nicht gehörig belangt wurden, verurteilt werden. Ausschlaggebend für eine Verfolgung und mögliche Verurteilung darf nur die individuelle Schuld sein und nicht irgendwelche allfälligen Erwägungen, noch schnell (ehe es endgültig zu spät ist, weil alle gestorben sind) durch ein paar Verurteilungen die Versäumnisse der Vergangenheit gutmachen zu wollen.

Womit sich die bundesdeutsche Justiz lange schwer getan hat, war, jemandem eine Beteiligung am Holocaust nachzuweisen, der nicht nachweislich jemanden erschossen oder ins Gas gepeitscht hatte.

Man hat eben nicht berücksichtigt, dass es sich um einen arbeitsteiligen Prozess handelte. Gröning, um bei diesem Beispiel zu bleiben, hat sicher niemanden ins Gas geprügelt. Ob er mal jemanden erschossen hat, ist unklar. Aber er hat in dem Wissen, was er tat, an zwei Stellen dazu beigetragen, den Holocaust funktionieren zu machen:

1.) indem er an der Rampe die Illusion aufrecht erhielt, dass jeder sein Gepäck zurückerhalten würde
2.) indem er die Devisen sortierte und regelmäßig auf ein Bankkonto der SS einzahlte.
 
Es ging in meinem Beitrag nicht um die Sekretärin, sondern um den alten Mythos, man sei selbst an die Wand gestellt worden, wenn man nicht mitgemacht hätte.
das hatte ich tatsächlich begriffen - dennoch frage ich weiter nach der "Sekretärin/Stenotypistin des Lagerkommandanten Hoppe 1943-45 in Stutthof"
Auch der Sekretärin wäre das nicht passiert, wenn sie ihren Dienst als Sekretärin des Lagerkommandanten quittiert hätte.
Sie wäre also nicht an die Wand gestellt worden, wenn sie gekündigt hätte.

Das klingt erstmal plausibel, denn heutzutage kann man relativ frei den Job wechseln (insbesondere dann, wenn man einen anderen sicher in Aussicht hat) und man befindet sich innerhalb einer rechtsstaatlichen Ordnung, kann sich auch auf das gültige Arbeitsrecht verlassen. Wir haben da allerlei Errungenschaften wie Arbeitsschutz, Tarifverträge usw. Kurzum fällt es uns leicht, aus unserer Lebenserfahrung gute Tipps in die furchtbare braune Vergangenheit zu richten. Bei einem Arbeitgeber, der samt seiner Branche moralisch nicht integer ist, arbeitet niemand von uns heute ;) denn wir haben einiges gelernt und wissen vieles besser. Kein moralisch integrer heutiger akademischer Arbeitnehmer (Dip.ing., Chemiker etc) arbeitet bei umweltverseuchenden Industriegiganten oder bei Waffenherstellern - ok, ich stoppe diese polemische Kaskade. Und nein: ich will kein KZ mit einem heutigen Rüstungsbetrieb vergleichen*). Ich wollte lediglich polemisch darstellen, dass einfach so "den Dienst quittieren" oder irgendeinen Dienst gar nicht erst annehmen, auch heute gar nicht sooo einfach und selbstverständlich ist.

in weniger arbeitsrechtlich und rechtsstaatlich verlässlichen Umständen 1943 - nicht an der Front, aber quasi an der Heimatfront, also mitten im seit rund vier Jahren tobenden Krieg - wenn man in dieser alles andere als erfreulichen Situation einen scheinbar unverfänglichen Beruf**) in Festanstellung hatte, wie leicht fällt es dann, eine solche Lebensgrundlage aufzukündigen, insbesondere mit gerade mal 18 Jahren und nach einer weniger erfreulichen Erfahrung im Berufsleben (die Kündigung seitens der Dresdner Bank) ?

...vielleicht wird die Verteidigung "mildernde Umstände" dieser argumentativen Art anführen, wird vielleicht - je nach Prozessverlauf - auf mangelnde Beweise hinweisen oder Beweise in Zweifel ziehen - - - da wird das geschehen, was in ordentlich geführten Gerichtsprozessen eben geschieht. Die Anklage wird dramatisierend verschärfen in der Darstellung, die Verteidigung wird heruntermarkten - das Gericht hat die Aufgabe, ein Urteil zu finden.

Die Staatsanwaltschaft hat laut Presse einen oder mehrere Historiker als Gutachter herangezogen. Laut Guardian ist Stefan Hördler – Wikipedia der oder einer der Gutachter:
Die Anklage stützte sich weitgehend auf die Arbeit von Historikern, darunter die von Stefan Hördler, einem Experten für die Strukturen der Wehrmacht, der Streitkräfte Nazi-Deutschlands und der SS, der sich speziell auf die Rolle von Funktionären aller Stufen und Ebenen in Konzentrationslagern konzentriert hat.
aus Ex-Nazi-KZ-Sekretärin, 96, nach Flucht vor Prozess | | des Nationalsozialismus Der Wächter (theguardian.com) (mein Notebook hat das automatisch übersetzt)
In Späte Strafverfolgung | Jüdische Allgemeine (juedische-allgemeine.de) wird die Expertise von Hördler präzisiert:
Der Historiker Stefan Hördler, der im Auftrag der Staatsanwaltschaft die Rolle von F. untersuchte, kommt zu dem Schluss, dass die »Zivilangestellte« zum Gefolge der SS im Lager gehörte. F.s Tätigkeit als persönliche Sekretärin des Kommandanten war für die Aufrechterhaltung des KZs Stutthof demnach elementar.
(ich weiß nicht, welche Historiker als Sachverständige noch hinzukommen, The Guardian spicht von mehreren s.o.)

...ein weniger seriöses Presseorgan namens BILD hat am 28.08. einiges zur wie es da heißt "furchtbaren Frau Furchner" geschrieben, sehr polemisierend negativ: man kann dort erfahren, dass ehemalige Nachbarn sie in der Wirtschaftswunderzeit (oder etwas später?) nicht sympathisch fanden, dass sie einen ehemaligen SS-Oberscharführer (laut Guardian SS-Unteroffizier), den sie im KZ Stutthof kennengelernt haben soll, 1954 heiratete.

In den bisherigen Presseartikeln im Vorfeld des anstehenden Prozesses finden sich manche polemische Abschnitte, mich hat das polemisieren auch erwischt (siehe oben) - - ich bin gespannt, welche Argumente Anklage und Verteidigung vorbringen werden und welches Urteil das Gericht finden wird.

__________
*) mal vorsorglich mitgeteilt, ehe im Zorn ein solcher Vorwurf erhoben wird
**) zunächst ist "Sekretärin / Stenotypistin" neutral unverfänglich - das Gericht wird zu klären haben, ob das in diesem Fall tatsächlich so war und wird abwägen müssen, ob besondere individuelle Umstände (Minderjährigkeit) zu berücksichtigen sind oder nicht.
 
"Der Angeklagte sei nur bis zu drei Stunden am Tag verhandlungsfähig. Der Prozess sei auch deshalb von Neuruppin in die Nähe seines Wohnortes in Brandenburg an der Havel verlegt worden"

Der Angeklagte ist bereits 100 Jahre alt, und in den letzten Jahren mußten auch einige Verfahren eingestellt werden, weil die Angeklagten nicht mehr verhandlungsfähig waren oder sogar noch vor Eröffnung des Verfahrens verstorben sind. 76 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs ist die Ermittlung und Anklageerhebung ein Rennen gegen die Zeit.

Auch der oben erwähnte Oscar Gröning ist vor Antritt der vierjährigen Haftstrafe im Alter von 96 Jahren verstorben
 
@Carolus Mein Punkt am Rande war eigentlich, dass der Prozess nicht in Neuruppin stattfindet, sondern in Brandenburg a. d. Havel. Die Gründe finde ich nachvollziehbar.
 
Hier noch ein Bericht vom ersten Prozeßtag gegen den ehemaligen Wachmann im KZ Sachsenhausen:

Früherer KZ-Wachmann Josef S.: Ein 100-Jähriger vor Gericht

@Carolus Mein Punkt am Rande war eigentlich, dass der Prozess nicht in Neuruppin stattfindet, sondern in Brandenburg a. d. Havel. Die Gründe finde ich nachvollziehbar.

Kurz noch zur Erläuterung wegen der Orte:

Es ist das Landgericht Neuruppin, das aber in Brandenburg a. d. Havel tagt. Beide Städte sind im Bundesland Brandenburg.
 
Hier noch ein Bericht vom ersten Prozeßtag gegen den ehemaligen Wachmann im KZ Sachsenhausen:

Früherer KZ-Wachmann Josef S.: Ein 100-Jähriger vor Gericht



Kurz noch zur Erläuterung wegen der Orte:

Es ist das Landgericht Neuruppin, das aber in Brandenburg a. d. Havel tagt. Beide Städte sind im Bundesland Brandenburg.

Naja KZ Mann finde ich jetzt wirklich gerechtfertigt, vor allem wenn diese nicht gezwungen wurden, wie bei dem WEißrussen dem man noch den Prozess gemacht hat. Jetzt jede Sekretärin zu verurteilen finde ich schon schräg.

Große Fische werden sowieso kaum noch leben, mit 18 Jahren ist man noch nirgends aufgestiegen.
 
Womit sich die bundesdeutsche Justiz lange schwer getan hat, war, jemandem eine Beteiligung am Holocaust nachzuweisen, der nicht nachweislich jemanden erschossen oder ins Gas gepeitscht hatte.
Die Frankfurter Rundschau anlässlich des Prozesses gegen den Nazi-Senior Oskar Gröning bzgl. »nachweislich«:

Am 28. April 1958 begann der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess gegen zehn Gestapo-, SD- und Ordnungspolizeiangehörige, Teile des Einsatzkommandos Tilsit, das 1941 im litauisch-deutschen Grenzgebiet 5502 jüdische Kinder, Frauen und Männer ermordet hatte. Es war der erste große Prozess gegen NS-Verbrecher vor einem deutschen Gericht. Obwohl die hohe Eigeninitiative der Angeklagten bei den Mordaktionen erwiesen war, wurden sie nicht als Täter, sondern nur als Gehilfen Hitlers, Himmlers und Heydrichs verurteilt, weil sie ohne eigenen Willen gehandelt hätten. Das entsprach zum einen der damals herrschenden Meinung der bundesdeutschen Gesellschaft, wonach die Verantwortung für die NS-Verbrechen ausschließlich im engsten Machtzirkel um Hitler lag. Zum anderen ermöglichte diese für die weitere Rechtsprechung maßgebliche Entscheidung milde Sanktionen. Wären die Angeklagten als Täter verurteilt worden, dann wäre die lebenslange Freiheitsstrafe unvermeidlich gewesen, für Beihilfe stand jedoch ein weiter Ermessensspielraum zur Verfügung bis hinunter zu drei Jahren Freiheitsstrafe.

[…]

Hätte es nicht die Auschwitz-Prozesse und den Majdanek-Prozess vor dem Landgericht Düsseldorf von 1975 bis 1981 gegen 16 ehemalige SS-Angehörige des Lagerpersonals des KZ Majdanek gegeben, müsste die strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Verbrechen durch die bundesdeutsche Justiz als schuldhaftes Totalversagen bewertet werden. Aber auch so zeigt sich hier die Manifestation der „zweiten Schuld“, die der deutsch-jüdische Autor Ralph Giordano den Nachkriegsdeutschen im Umgang mit dem Holocaust bescheinigt hatte.
 
Zurück
Oben