Sprachwandel

Carolus

Aktives Mitglied
Eigentlich wollte ich keinen Extra-Thread dafür aufmachen, aber da ich keinen entsprechenden gefunden, mache ich es trotzdem. :) Aber deswegen ist der Threadtitel so allgemein wie möglich gehalten.

Zum Entlehnungszeitpunkt des Wortes wīla aus lat. villa lässt sich nur sagen, dass es zu den frühesten Entlehnungen gehören muss, bei denen lateinisches v- als deutsches w- erscheint:
lat. vallum - ahd. wal 'Wall'
lat. villa - ahd. wīla

Bei den späteren Entlehnungen ins Althochdeutsche wird das lateinische v- zu deutschem f-:
lat. viola - ahd. fīol 'Veilchen' (auch heute noch mit f- gesprochen, nicht wie "Weilchen")
lat. versus - ahd. fers 'Vers'

Dieser Wandel muss spätestens um 700 eingetreten sein, denn aus der Zeit 735/37 ist sich eine sehr interessante Schreibung für den heutigen Ort Delémont überliefert:
in figo DelomonzeNamenpaare an der Sprachgrenze

Hier sehen wir eine Zweisprachigkeit am Werk: Das lateinische vico (aus vicus) hat sich im Mund der romanischen Bevölkerung zu vigo gewandelt; dies wird von einem deutschsprachigen Schreiber als "figo" geschrieben.

Verstehe ich das richtig:

Im Romanischen (zumindest im Romanischen im Kontaktbereich mit dem Deutschen) hat sich die Aussprache des v zu f gewandelt?

(Ich bin ein wenig überrascht, weil im Italienischen, Französischen und Spanischen das v nicht wie ein f ausgesprochen wird.)
 
Im Romanischen (zumindest im Romanischen im Kontaktbereich mit dem Deutschen) hat sich die Aussprache des v zu f gewandelt?

Nicht ganz - die romanische Aussprache des v hat sich von einem bilabialen w (ähnlich dem englischen w) zu einem labiodentalen w (ähnlich dem heutigen deutschen w) gewandel.
Das althochdeutsche w war aber noch bilabial. Deutschsprachige ersetzten daher das labiodentale w (das es im Althochdeutschen nicht gab) durch den labiodentalen Reibelaut, der ihnen vertraut war, nämlich das f.
 
Das altordische Þiðreks-Lied macht aus Verona Bern aber aus Venedig Fenedi:

Einn hertugi reð firir borg þeirri er heitir Fenedi. Hans synir voru þeir Boltram ok Reginballdr. Er siðan voru hertugar i Fenedi ok Svava.

Ein Herzog regierte über eine Stadt, die Venedig hieß. Der hatte Söhne welche Boltram und Reginbald waren, die waren Herzöge von Venedig und Schwaben.
 
Das altordische Þiðreks-Lied macht aus Verona Bern aber aus Venedig Fenedi:
Eine völlig andere Frage noch dazu:

Noch in den 1980er Jahren sprachen die damaligen Älteren und Alten stets von 'Calb' - gemeint war 'Calw'. Mir war das damals ein Rätsel, erst verstand ich nicht, was sie meinten, dann war mir ein Rätsel, wie die tradierte Aussprache zustande gekommen sein konnte.
 
Es gibt auch die sachsen-anhaltinische Stadt Calbe, die genauso "kahle Stelle" bedeutet und sich aus dem ahd. kalo entwickelt hat. Zum Vergleich kann man auch die Entwicklung der Farbbezeichnung ahd. gelo zu nhd. gelb betrachten.
 
Noch in den 1980er Jahren sprachen die damaligen Älteren und Alten stets von 'Calb' - gemeint war 'Calw'. Mir war das damals ein Rätsel, erst verstand ich nicht, was sie meinten, dann war mir ein Rätsel, wie die tradierte Aussprache zustande gekommen sein konnte.
Mir hat noch eine in den 1960ern geborene Calwerin die korrekte Aussprache "Kalb" beigebracht.
Die mündliche Form ist lautgesetzlich:
mittelhochdeutsch swalwe > neuhochdeutsch Schwalbe
mittelhochdeutsch milwe > neuhochdeutsch Milbe
mittelhochdeutsch vergelwen/vergilwen > neuhochdeutsch vergilben

In der Schriftform hat man die alte Form beibehalten, deshalb wurde es von Nicht-Eingeweihten immer als "Kalw" gesprochen. Irgendwann haben die Einheimischen dann angefangen, den Unsinn mitzumachen.

Solche Fälle gibt es bei Ortsnamen öfters:

Ortsnamenkunde
 
Das altordische Þiðreks-Lied macht aus Verona Bern aber aus Venedig Fenedi:

Einn hertugi reð firir borg þeirri er heitir Fenedi. Hans synir voru þeir Boltram ok Reginballdr. Er siðan voru hertugar i Fenedi ok Svava.

Ein Herzog regierte über eine Stadt, die Venedig hieß. Der hatte Söhne welche Boltram und Reginbald waren, die waren Herzöge von Venedig und Schwaben.

Also bei Venedig/Fenedi würde die von Sepiola genannte Regel romanisches v > germanisches f zutreffen. Bei Verona würde man bei einer späteren (nach 700 n.Chr. ) Entlehnung so etwas wie Fern erwarten, bei einer früheren (vor 700 n. Chr.) so etwas wie Wern.

Die https://de.wikipedia.org/wiki/Thidrekssaga wird aus skandinavischen Schriften des 13. Jhdts. überliefert. Die mutmaßlichen historischen Ereignisse fanden in der Spätantike statt. D. h. wir sind in Skandinavien des 13. Jhdts. von Norditalien des 6. Jhdts. sowohl zeitlich als auch örtlich relativ weit entfernt. Wäre es da denkbar, dass bei der Überlieferung des Textes eine Art "Stille-Post-Effekt" eingetreten ist?

Ich habe jetzt allerdings nicht nachgeschaut, wie die Entstehungsgeschichte der Thidrekssaga ist. Aber vermutlich wird sie auf eine gemeinsame Grundlage mit dem Nibelungenlied zurückgehen.


Nicht ganz - die romanische Aussprache des v hat sich von einem bilabialen w (ähnlich dem englischen w) zu einem labiodentalen w (ähnlich dem heutigen deutschen w) gewandel.
Das althochdeutsche w war aber noch bilabial. Deutschsprachige ersetzten daher das labiodentale w (das es im Althochdeutschen nicht gab) durch den labiodentalen Reibelaut, der ihnen vertraut war, nämlich das f.


Liege ich mit den folgenden Beispielen richtig?

wie - labiodental
oui (frz.) - bilabialen
Vieh - labiodental
 
Liege ich mit den folgenden Beispielen richtig?

wie - labiodental
oui (frz.) - bilabialen
Vieh - labiodental
Ja.


Bei Verona würde man bei einer späteren (nach 700 n.Chr. ) Entlehnung so etwas wie Fern erwarten, bei einer früheren (vor 700 n. Chr.) so etwas wie Wern.
Ich würde hier eine mittelalterliche dialektale Entwicklung nicht ausschließen.
Mir ist das vom Zimbrischen bekannt, hier ist teilweise auch der stimmlose Reibelaut betroffen:


Maria de biil tzarte

Maria de biil raine,
se hatte grosse paine
um ünsarn Heere Jesum Christ,
bo allar belt an tröstar ist.

Se ghinghent allar vrüghe
un khèerten met dar meere
dass Christ arstannet bäre,
bo allar belt an braitar ist.

Interlinearversion:

Maria, die viel zarte
Maria, die viel reine,
sie hatte große Pein
um unsern Herrn Jesum Christum,
wo aller Welt ein Tröster ist.

Sie gingen [in] aller Frühe
und kehrten [zurück] mit der Mär,
daß Christus [auf]erstanden wäre,
wo aller Welt ein Befreier ist.

Remigius Geisers Zimbrischkurs
 
Die https://de.wikipedia.org/wiki/Thidrekssaga wird aus skandinavischen Schriften des 13. Jhdts. überliefert. Die mutmaßlichen historischen Ereignisse fanden in der Spätantike statt. D. h. wir sind in Skandinavien des 13. Jhdts. von Norditalien des 6. Jhdts. sowohl zeitlich als auch örtlich relativ weit entfernt. Wäre es da denkbar, dass bei der Überlieferung des Textes eine Art "Stille-Post-Effekt" eingetreten ist?

Ich würde annehmen, dass bei der späthochmittelalterlichen skandinavischen Fassung der Þiðreks-Saga eine veränderte Landkarte eine Rolle spielte als bei der frühmittelalterlichen althochdeutschen Fassung des Dietrichsagenskreises, wie etwa dem Hildebrandslied. Will sagen: Venedig ist wahrscheinlich erst in den nordischen Dietrichs-Sagenkreis eingegangen und fand sich im deutschen Dietrichs-Sagenkreis noch gar nicht. Aber das ist nur eine Idee von mir, die nicht stimmen muss.
oui (frz.) - bilabialen
Ich spitze/runde bei oui die Lippen, der Laut wird nicht durch die Lippen gerpresst, wie bei -b- oder -p-. Aber Phonetik und Phonologie sind echt nicht mein Gebiete.
 
Ich spitze/runde bei oui die Lippen, der Laut wird nicht durch die Lippen gerpresst, wie bei -b- oder -p-. Aber Phonetik und Phonologie sind echt nicht mein Gebiete.

Zumindest in der Lautschrift wird bei dem französischen oui und dem englischen why das gleiche Symbol /w/ benutzt.

oui \wi\

Why /waɪ/

Erstaunlicherweise wird das englische Wort we genauso in der Lautschrift dargestellt, aber mit einem langen i , wie französisch oui. Wenn ich aber oui ausspreche, höre ich immer noch ein u dazwischen. Vielleicht mache ich aber auch etwas falsch...:(
 
... englischen "double-u"

Hier sieht man das althochdeutsche "Doppel-u" (Althochdeutscher Tatian, Weihnachtsgeschichte)

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e-codices – Virtuelle Handschriftenbibliothek der Schweiz

Uuard thô gitân in then tagun
framquam gibot fon ðemo aluualten keisure
thaz gibrieuit vvurdi al these umbiuuerft.

Da ward getan in den Tagen,
es kam ein Gebot von dem allwaltenden Kaiser,
daß aufgeschrieben werde alle diese Umwelt.
TITUS Didactica: Bible Gothic Sample Text
 

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