Statistik - Quelle oder Darstellung

FlaviusJosephus

Neues Mitglied
Liebe Leute,

ich beschäftige mich derzeit mit der Frage, ob Statistiken Quellen oder Darstellungen sind. Meine Recherche hat ergeben, dass Statistiken gemeinhin als Quellenart verstanden werden. Mein Einwand ist allerdings, dass die Daten häufig aktiv nachträglich zusammengestellt werden, was ja im Verhältnis zum "Rohmaterial" (die Daten, so wie sie in geschichtlichen Zeugnissen vorgefunden werden) bereits einen ziemlich deutlich Eingriff bedeutet. Hinter der Art und Weise, welche Daten wie zusammengestellt werden, steht ja i. d. R. eine darstellende Absicht. Mir ist klar, dass auch sonstige Quellenarten Eingriffen unterliegen (Übersetzungen, Auslassungen, Kürzungen etc.), doch finde ich es noch einen Unterschied, ob man einen Text aus einem zusammenhängenden Fundort kürzt oder Daten aus verschiedenen Fundorten in einer Tabelle (bzw. Grafik) zusammenstellt.
Wie ist Eure Meinung?
Bin gespannt auf Eure Antworten...
 
Es kommt darauf an, wer die statistischen Daten erhoben hat. Wenn ich als Historiker in ein Archiv gehe und dort Schatzungslisten oder die Aufstellungen der Firma XY hebe, sind das Quellen. Wenn man aus Quellen Daten extrahiert und diese in einer Übersicht neu zusammenstellt, dann erstellt man selbstverständlich keine neue Quelle. Man kann also nicht sagen, dass eine statistische Erhebung immer bzw. nie eine Quelle ist.
 
nun ich würde Statistiken wegen der oben geschilderten Dualität sogar als eine eigene Art der Erkenntnisgrundlage ansehen.

Einerseits werden dort objektive Daten/Zahlen gesammelt, andererseits unterliegt die Datenerhebung ,-selektion und -zusammenstellung subjektiven und meistensteils auch wertenden, ergebnisorientierten Kriterien des Erstellers . Darin unterscheiden sich Statistiken von reinen Auflistungen (die ich den Quellen zuordnen würde)
Die Lohnliste einer Firma ist eine reine Auflistung von Ausgaben (und somit Quelle)
Die Aufstellung von Löhnen,aus denen hervorgeht,daß die leitenden Angestellten 30 % der gezahlten Löhne verdienen und bei der z.B.Boni und Nebenleistungen weggelassen oder mit einberechnet wurden, sind Statistiken und hängen von einer subjektiven, ergebnisorientierten Wertung des Erstellers ab.
Noch wertender wird es bei Statistiken die auf Befragungen beruhen, wie sie seit Beginn der Meinungs-und Konsumforschung ja gang und gäbe sind.
Der Unterschied zur Darstellung liegt jedoch m.E. in der immer noch objektivierbaren Datenbasis.
 
nun ich würde Statistiken wegen der oben geschilderten Dualität sogar als eine eigene Art der Erkenntnisgrundlage ansehen.

Einspruch! Es kommt, wie El Q. schon sagte, auf die Art an, wie die Daten zustande kommen.

So ist, um bei deinem Beispiel zu bleiben

Die Aufstellung von Löhnen,aus denen hervorgeht,daß die leitenden Angestellten 30 % der gezahlten Löhne verdienen und bei der z.B.Boni und Nebenleistungen weggelassen oder mit einberechnet wurden

eine Quelle, mit der ein Historiker sich beschäftigen kann (z. B., wenn diese Aufstellung aus dem Jahr 1953 stammt und er sich für ein Thema wie etwa "Die Geschichte des Statistischen Bundesamtes in den 1950er Jahren und die Westintegration der Bundesrepublik" interessiert, um das mal weiterzuspinnen).

Sie kann aber auch Darstellung sein (etwa wenn ein Historiker selbst aus historischen Daten - den eigentlichen Quellen - selbst eigene statistische Daten ableitet).
 
Sie kann aber auch Darstellung sein (etwa wenn ein Historiker selbst aus historischen Daten - den eigentlichen Quellen - selbst eigene statistische Daten ableitet).

Meinerseits Einspruch-da wirfst Du Quelle und Methode durcheinander..
Es geht aber m.E. nicht um die Anwendung statistischer Methoden durch den Historiker sondern um die Einruppierung der Erkenntnisgrundlage Statistik.

Tatsächlich muß man zunächst differenzieren,und zwar ob es sich um eine deskriptive,induktive oder explorative Statistik handelt und ob primär-, sekundär- oder tertiär- estatische, Datenerhebungen zu Grunde liegen.
Je nachdem,welche Methoden angewendet wurden variiert das subjektiv-wertende Element und nähert sich eher den Maximen von Quelle oder Darstellung an.
Da jede Statistik aber immer Elemente von Beidem enthält würde ich sie nach wie vor als eine Erkenntnisgrundlage sui generis ansehen.
 
Je nachdem,welche Methoden angewendet wurden variiert das subjektiv-wertende Element und nähert sich eher den Maximen von Quelle oder Darstellung an.

Eben damit, dass Du die Frage an der Subjektivität festmachst, habe ich aber so meine Probleme. Inwiefern die statistisch erfassten Daten valide, spekulativ, deutend oder eben auch nicht sind, ist völlig egal. Wenn der Historiker anhand von historischen Quellen Statistiken erstellt, haben wir es bereits mit einem ersten Schritt der Quellenanalyse und damit einem Deutungsversuch zu tun, der einer bestimmten Fragestellung folgt, auch wenn die statistische Erhebung selbst oft nur einen Zwischenschritt der historischen Forschung darstellt.
 
Da jede Statistik aber immer Elemente von Beidem enthält würde ich sie nach wie vor als eine Erkenntnisgrundlage sui generis ansehen.

Ich habe schon beim ersten Mal lesen ein Problem mit dem Wort "Erkenntnisgrundlage" gehabt - da du jetzt noch "sui generis" hinzufügst, weist darauf hin, daß du dieses Wort bewußt gewählt hast. Aber was soll es bedeuten?

Präziser fände ich persönlich das Wort "Erkenntnisart", was eben stärker auf den Aspekt hin abhebt, daß es eine Methode ist, mit der man sich Datenmaterialien nähert. Je nach dem, wie diese Methode eingesetzt wird, also bestimmte Fragestellungen verfolgt, kann es auch eine objektivierende Wirkung haben, aber letztendlich bleiben Statistiken im Kontext von Fragestellungen und Interpretationen. Und aufgrund dieser Abhängigkeit kann es keine Erkenntnisgrundlage sui generis sein.
 
Meine Recherche hat ergeben, dass Statistiken gemeinhin als Quellenart verstanden werden.

Hast du dafür auch ein Beispiel, wo eine Statistik als Quelle angesehen, obwohl sie Darstellung angesehen werden müßte?
Statistiken wären eigentlich eher eine spezielle Methode, es sei denn sie dienen - wie sich in der Diskussion von Floxx und zaphob zeigt, als Quelle:

floxx78 schrieb:
So ist, um bei deinem Beispiel zu bleiben

zaphodB. schrieb:
Die Aufstellung von Löhnen,aus denen hervorgeht,daß die leitenden Angestellten 30 % der gezahlten Löhne verdienen und bei der z.B.Boni und Nebenleistungen weggelassen oder mit einberechnet wurden
eine Quelle, mit der ein Historiker sich beschäftigen kann (z. B., wenn diese Aufstellung aus dem Jahr 1953 stammt und er sich für ein Thema wie etwa "Die Geschichte des Statistischen Bundesamtes in den 1950er Jahren und die Westintegration der Bundesrepublik" interessiert, um das mal weiterzuspinnen).

Aber um diesen Sonderfall geht es doch nicht, oder?
 
Müßte man aber nicht präzisierend hinzufügen, daß eine statistische Auswertung definitiv keine Quelle sein kann, sondern nur Darstellung?
Erlaube mir, die Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten:
Kann eine Stadtverwaltung 1853 oder ein Unternehmen 1901 keine Statistik erstellt haben, die auf uns gekommen ist?
 
Müßte man aber nicht prüzisierend hinzufügen, daß eine statistische Auswertung definitiv keine Quelle sein kann, sondern nur Darstellung?

Das sehe ich nicht so.

Ich versuche mich da mal an einem Beispiel. Wenn ich den Zeitraum 1940 erforsche und eine Statistik aus dem Jahr 1940 benutze ist das, je nach meiner Forschungsfrage, für mich eine Quelle. Sie wurde in der zu erforschten Zeit erfasst und wird somit zur Quelle.
 
Das sehe ich nicht so.

Ich versuche mich da mal an einem Beispiel. Wenn ich den Zeitraum 1940 erforsche und eine Statistik aus dem Jahr 1940 benutze ist das, je nach meiner Forschungsfrage, für mich eine Quelle. Sie wurde in der zu erforschten Zeit erfasst und wird somit zur Quelle.

Erlaube mir, die Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten:
Kann eine Stadtverwaltung 1853 oder ein Unternehmen 1901 keine Statistik erstellt haben, die auf uns gekommen ist?

Doch, das ist mir mittlerweile auch klar geworden, und dahingenhend wollte ich auch nicht widersprechen; nur dachte ich in der Tat, daß es darum bei der Ausgangfrage nicht geht und habe daher die Frage auch explizit an Flavius Josephus gestellt.
 
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Wenn Quellen das Roh-/Primärmaterial des Historikers sind, können daraus abgeleitete Statistiken nur Sekundärmaterial sein, da sie in Folge einer den Historiker aktuell beschäftigenden Frage entstanden sein müssen.

Hast du dafür auch ein Beispiel, wo eine Statistik als Quelle angesehen, obwohl sie Darstellung angesehen werden müßte?

So etwas passiert dauernd im aktuellen Geschichtsunterricht. In den meisten Unterrichtswerken wird nur noch zwischen Autorentext (der allerdings nie als solcher ausgewiesen wird) und Materialteil unterschieden, wobei unter "Material" dann eben leider auch unterschiedslos Auszüge aus Originalquellen und nachträglich erstellte Statistiken fallen.
 
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Ich habe schon beim ersten Mal lesen ein Problem mit dem Wort "Erkenntnisgrundlage" gehabt - da du jetzt noch "sui generis" hinzufügst, weist darauf hin, daß du dieses Wort bewußt gewählt hast. Aber was soll es bedeuten?

Nun ,ich habe einen Oberbegriff gesucht,der Quelle und Darstellung unter einen Hut bringt und da ist mir kein gescheiterer eingefallen

Wenn der Historiker anhand von historischen Quellen Statistiken erstellt...

..dann ist das weder Quelle noch Darstellung ,sondern eine Methode um Einzelinformationen zu bündeln.
Die Einordnung in Richtung Quelle oder Darstellung zielt aber nicht auf die Methodenauswahl sondern auf die von historischen Personen erstellte Statistik ab,die ein Historiker auswerten und als Erkenntnisgrundlage benutzen kann.

Das Problem bei Statistiken als Erkenntnisgrundlage ist jedoch,daß sie zwar vorgeben,aufgrund objektiver Basisdaten als Quelle zu taugen, aber aufgrund der Auswahl und Gewichtung der Datenerhebung eine subjektiv-wertende Aussage treffen, also je nachdem ,wie stark dieses subjektive Element ist, eher in Richtung Darstellung gehen.
 
Das Problem bei Statistiken als Erkenntnisgrundlage ist jedoch,daß sie zwar vorgeben,aufgrund objektiver Basisdaten als Quelle zu taugen, aber aufgrund der Auswahl und Gewichtung der Datenerhebung eine subjektiv-wertende Aussage treffen, also je nachdem ,wie stark dieses subjektive Element ist, eher in Richtung Darstellung gehen.

Die Diskussion und die Einschätzung des Informationswert einer Quelle, hier einer Statistik, nennt man Quellenkritik. Ich muss also, um bei meinem Beispiel zu bleiben, die Statistik aus dem Jahr 1940 einer kritischen Quellenkritik unterziehen, sprich eine äussere und eine innere Quellenkritik durchführen. Erst danach kann ich die Quelle interpretieren, sie also in den historischen Kontext einordnen und auswerten.
 
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Das ist zweifellos richtig,Ursi. Aber wenn ich das richtig sehe unterscheiden sich Quelle und Darstellung doch im wesentlichen dadurch,daß Quellen ggf. auch mit Hilfe der kritischen Quellenkritik objektivierbare Fakten wiedergeben , während Darstellungen einen Sachverhalt subjektiv-wertend beschreiben.
Statistiken können,je nachdem wie ergebnisorientiert oder ergebnisoffen sie angelegt sind,sowohl das eine als auch das andere sein.
 
Statistiken können,je nachdem wie ergebnisorientiert oder ergebnisoffen sie angelegt sind,sowohl das eine als auch das andere sein.

Es geht aber wie oben geschildert nicht darum, wie ergebnisoffen die Statistiken angelegt sind (ganz abgesehen von der Frage, ob es tatsächlich Statistiken gibt, deren Zustandekommen keiner wie auch immer geratenen Fragestellung geschuldet ist und die damit nicht bereits selbst subjektiv wertende Elemente enthalten). Wenn ein Historiker im Rahmen seiner Forschung Statistiken erstellt, stellt er das, was er in seinen Quellen vorfindet, statistisch dar, so dass wir es mit einer Darstellung zu tun haben.

Anders gewendet: Ein Historiker kann Quellen erschließen, die Relevanz für sein Thema haben, aber er kann diese nicht selbst produzieren.
 
Ist eine Statistik nicht letztlich ein Zeugnis wie andere auch, das notwendigerweise den Autor, seine Zeit und Kultur wiederspiegelt. Ob ich nun einen Bericht des Burgvogts in Händen halte oder eine von ihm angelegte Statistik, werde ich in beiden Fällen nicht darauf vertrauen können, die ganze Wahrheit abgebildet zu bekommen oder auch nur, dass dieses Zeugnis frei von falschen und sogar wissentlich falschen Angaben ist.
Andersherum argumentiert, trifft doch das was gegen eine Statistik als Urquelle anzuführen ist, nämlich der Rückgriff auf andere Quellen, auch auf jeden Bericht zurück, der die Berichte anderer auswertet.
 
Es geht aber wie oben geschildert nicht darum, wie ergebnisoffen die Statistiken angelegt sind (ganz abgesehen von der Frage, ob es tatsächlich Statistiken gibt, deren Zustandekommen keiner wie auch immer geratenen Fragestellung geschuldet ist und die damit nicht bereits selbst subjektiv wertende Elemente enthalten). Wenn ein Historiker im Rahmen seiner Forschung Statistiken erstellt, stellt er das, was er in seinen Quellen vorfindet, statistisch dar, so dass wir es mit einer Darstellung zu tun haben.

Wenn Du Statistiken generell den Quellencharakter absprichst, da es sich hierbei bereits um eine Darstellung durch einen Historiker oder anderen Wissenschaftler handelt, so sprichst Du ihn gleichzeitig auch sämtlichen Editionen ab. Denn diese sich nichts anderes als die "Aufbereitung" text- und bildlicher Quellen, unter einer gewissen Fragestellung.
Eine Statistik stellt nur eine andere Form der Aufbereitung dar, nicht als Fließtext (dessen Ursprung ja Inschriften, Textschnippsel etc. mit zum Teil unlesbaren Abschnitten, bedeutungsunklaren Worten usw. sein können) mit Anmerkungsapparat, sondern eben in tabellarischer, oder sonstiger geeigneter Form.
Man sollte hier die Aufbereitung von der tatsächlichen Interpretation trennen, die Statistik alleine beantwortet noch keine Frage, genausowenig, wie es eine Edition, ein Bildband oder eine Anordnung archäologischer Funde tut. Das keine Form der Aufbereitung objektiv ist und bereits die Auswahl bestimmter Quellen als "Rohmaterial" ein wertendes Element darstellt, ist dabei unvermeidlich, sollte aber für einen Historiker ausgestattet mit dem Handwerkzeug der Quellenkritik kein Problem darstellen. Eine Statistik basierend auf historischen Quellen mit entsprechendem Anmerkungsapparat hat aus meiner Sicht genau den gleichen Stellenwert, wie er einer Quellenedition zugesprochen wird.

Es ist ja bei schriftlichen Quellen nun auch nicht so, dass es hier keine Überlieferung gäbe. Schriftliche Quellen unterliegen genauso der "Aufbereitung" innerhalb gewisser Zwischenschritte, wie dies bei Statistiken der Fall ist. Insbesondere in für weit zurückliegende Epochen ist das beinahe auschließlich der Fall. Nach Deiner Ansicht wären 99% aller mittelalterlichen und antiken Quellen Darstellung von Historikern. Am konkreten Beispiel hieße dies etwa, dass die meisten Quellen zu Aristoteles nichts weiter als Sekundärliteratur arabischer und byzantinischer Historiker wären. Die komplette MGH wäre keine Quelle, da sie eine Darstellung von Historikern des 19. und 20. Jahrhundert ist.

Praktikabler erscheint mir hier tatsächlich die Trennung in Primärquelle und Sekundäquelle. Man sollte sich eben immer bewusst machen, dass man es nicht mit einem Augenzeugenbericht zu tun hat, sondern aufbereitetem Material und daher die Überlieferung im Auge behalten muss.
Dieses alleine aber, beantwortet noch keine Frage. Die Frage die der Historiker an eine Quellen stellt, muss nicht zwangsläufig die Frage sein, unter der die Quelle selbst erstellt wurde. Und dies gilt selbstverständlich auch für Statistiken. Die Frage, die ich an die Statistik stelle, muss nicht die sein, die der Ersteller bei der Erstellung im Sinn hatte. Meine Aufgabe ist es dann historisch-kritisch nachzufragen, ob die Statistik in dieser Form für meine Fragestellung auch eine Antowrt liefern kann und falls ja, was es zu beachten gilt.
Sekundärliteratur aber zeichnet sich dadurch aus, das dieses langwierige Verfahren der Quellenkritik bereits abgeschlossen ist und die Ergebisse in die Analyse und Interpretation der Quelle, unter einer spezifischen Fragestellung, bereits eingearbeitet wurden.
 
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