Theorien Karl Marx in Russland 1917?

la lune

Neues Mitglied
Hallo ihr Retter,
bald haben wir wiedereinmal eine Geschichtsprüfung. Weil Geschichte nicht gerade mein bestes Fach ist, bin ich auf eure Hilfe angewiesen.

Eine Frage lautet:

Nehmen Sie zu folgender Behauptung Stellung: "Karl Marx hätte sich ziemlich gewundert, wenn er gewusst hätte, dass 1917 in Russland erstmals eine erfolgreiche Revolution unter Berufung aus seinen Theorien stattfand."

Was will der Lehrer wohl von mir hören?:confused:

Merci vielmals für eure Antworten.

la lune
 
Was will der Lehrer wohl von mir hören?:confused:
Das weiß wohl keiner so genau, höchstens dein Lehrer selbst, aber auch da bin ich mir nicht völlig sicher.

Was deine Frage angeht, kann ich mir höchstens folgendes vorstellen:
Marx hatte bei seinen Theorien England als "Industrienation" vor Augen. Rußland hingegen war ein agrarisch geprägter Staat, auf den diese Theorien eigentlich nicht zutrafen und wohl nicht hätten angewandt werden sollen.
 
Vielen Dank für deine Antwort.
Hey, da bin ich aber froh, dass nicht nur ich seinen Prüfungsstil eigenartig finde. Er stellt andauernd solche komische Fragen, bei denen ich nie weiss, was er überhaupt hören will. Nun habe ich eine alte Prüfung und grüble zu Hause über die wirren Fragen...

Eventuell sind noch weitere Ideen?
 
Mal so aus dem Ärmel:
Marx hielt Rußland für eine (halb)asiatische Despotie, die noch nicht reif war für eine kommunistische Revolution. Eine Gesellschaft muss erst durch die Phase des Kapitalismus hindurchgegangen sein, um für den Kommunismus reif zu sein. Rußland war noch weitgehend ein Agrarstaat.
Obwohl du wahrscheinlich nicht viel damit anfangen kannst, wenn du mit dem Thema bzw. dem Marxismus nicht schon etwas vertraut bist, ein Link:
Johanneum Lüneburg K.A. Wittfogel - politischer Werdegang

Noch ein Link, mit dem du vielleicht mehr anfangen kannst. Es ist von Peter Brandt (dem Sohn von Willy Brandt)
Peter Brandt: Das deutsche Bild Russlands und der Russen in der modernen Geschichte In: Iablis 2002
 
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Pfeifferhans
Ui, das ist aber viel Text... Soviel Zeit hab ich leider nicht. Mache eben die Zweiwegmatura (in der CH) und habe daneben noch drei Kinder...

Gibt es auch noch kürzere Fassungen?
 
Auf die Schnelle habe ich folgendes gefunden:

"Bis jetzt hat sie (die soziale Revolution) ihre Kräfte nur konzentriert auf den Süden Europas: Italien, Spanien, Frankreich; aber bald, hoffen wir, werden unter ihrer Fahne aufstehn auch die nordwestlichen Völker: Belgien, Holland und hauptsächlich England, und dann endlich auch alle slawischen Stämme."

Letzteres meint insbesondere Rußland: Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie. Mit dem Werk setzte sich Marx auseinander:
Karl Marx, Konspekt von Bakunins Buch "Staatlichkeit und Anarchie", Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. Berlin 1973, Band 18, S. 642.

Hier nachzulesen:
http://www.mlwerke.de/me/me18/me18_597.htm
 
Ich habe mal das Wichtigste herauskopiert:
[FONT=Verdana, Arial, Helvetica, sans-serif]also Liberale und, mehr noch, radikale Demokraten. Diese sahen im Zarenreich eine halbasiatische Despotie, deren Bestreben darin bestehe, in dauernder Expansion das zivilisierte Europa zu unterjochen, so wie sie die freiheitsliebende, edle polnische Nation immer wieder in den Zustand der Knechtschaft zurückgestoßen habe. (Der Strom polnischer Emigranten, der sich nach dem Aufstand von 1830/31 nach Westen ergoss, trug wie in anderen europäischen Ländern so auch in Deutschland erheblich zur Verdüsterung des Russlandbildes bei.) Das russische Volk schien verdorben durch jahrhundertelange Fremdherrschaft, dann Staatssklaverei mit dem typischen Staatskirchentum, ein bedauernswerter, primitiver Menschenschlag: maßlos, triebhaft, trunksüchtig, grausam - alles Charakterisierungen, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in die bürgerliche Gesellschaft getragen wurden und dort, weit über die politische Sphäre hinaus, geradezu als Negativfolie für deren auf die Autonomie des Individuums und dessen Selbstdisziplinierung gerichtete Bestrebungen dienen konnten. Angst- und Überlegenheitsvorstellungen verbanden sich schon zu dieser Zeit in einer charakteristischen Weise. [/FONT][FONT=Verdana, Arial, Helvetica, sans-serif]Als Mann des Fortschritts und der Freiheit wie auch als deutscher Patriot stand man in der Regel im Lager der Feinde Russlands, und zwar desto entschiedener, je radikaler man in Deutschland dafür eintrat. Die jungen Kommunisten Karl Marx und Friedrich Engels propagierten 1848 gegen Russland, die Garantiemacht der reaktionären Kräfte in ganz Europa, den revolutionären Krieg. Sie nahmen an, dieser würde analog der französischen Levée en masse von 1793 das größte Hindernis für eine Entwicklung in ihrem Sinn aus dem Weg räumen. Auch später blieben Marx und Engels (und nicht sie allein) in kriegerischem Geist auf die russische Außenpolitik fixiert, die sie des »Mongolismus« und des Strebens nach Weltherrschaft ziehen. Der Briefwechsel von Marx und Engels enthält, darüber hinaus, wiederholt russenfeindliche Äußerungen regelrecht chauvinistischer Art.
[/FONT]

Marx dachte ähnlich wie die radikalen Demokraten.
Ansonsten musst du vielleicht mit der Einleitung in meinem ersten Posting auskommen. Ob das allerdings deinem Lehrer reicht, weiß ich nicht.
 
Eine proletarische Revolution findet nach Marx in industrialisierten Ballungsräumen statt.
Die Arbeiterschaft die auf engstem Raum nicht nur zusammenarbeiteten sondern auch zusammenlebten (in Mietskasernen) sollte der Schmelztiegel für die Revolution gegen Ausbeutung und Unterdrückung sein.
In ländlich geprägten Gegenden ist der Informationsaustausch über Ausbeutung und Unterdrückung eingeschränkt und ehe das Fanal über die Dörfer zieht, ist an anderer Stelle der Aufstand schon wieder zu Ende.

Man darf auch nicht vergessen, dass die Oktoberrevolution mitten im 1. Weltkrieg stattfand. Sowas hatte Marx weder vorhergesehen noch eingeplant.
 
Eine proletarische Revolution findet nach Marx in industrialisierten Ballungsräumen statt.

Ein vielleicht ganz interessanter Querverweis:

Nestor Juan D'Alessio: Arbeiterbewegung und Volksbewegung. Untersuchungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung in einem rückständigen Land: Chile 1891 - 1958.
Dissertation Göttingen, 1982
 
:grübel:Blöde Frage , aber welche Neuerungen hat eigentlich Lenin genau in die Marxsche Ideologie eingebracht? Weshalb die "neue"
Bezeichnung "Marxismus-Leninismus"?
 
´... welche Neuerungen hat eigentlich Lenin genau in die Marxsche Ideologie eingebracht?

Hier
http://www.ddr-wissen.de/wiki/ddr.pl?Marxismus-Leninismus

wird das so erklärt:
"Die konkreten theoretischen Grundlagen für die Durchführung der Revolution und die Rahmenforderungen für den anschließenden Aufbau des Sozialismus stammten von Lenin. Sie bildeten "Fortentwicklungen" oder Präzisierungen von Marx' Ideen z.B. zur Diktatur des Proletariats."


ähnlich:
http://www.im.nrw.de/sch/402.htm

"Der Marxismus wurde durch die so Bolschewiki unter Führung von Wladimir Iljitsch Uljanow, späterer Name: Lenin (1870 - 1924) zu einer Staatsdoktrin und theoretischen Vorgabe für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft und für den internationalen Klassenkampf weiterentwickelt."
 
Eine proletarische Revolution findet nach Marx in industrialisierten Ballungsräumen statt.
Die Arbeiterschaft die auf engstem Raum nicht nur zusammenarbeiteten sondern auch zusammenlebten (in Mietskasernen) sollte der Schmelztiegel für die Revolution gegen Ausbeutung und Unterdrückung sein.
In ländlich geprägten Gegenden ist der Informationsaustausch über Ausbeutung und Unterdrückung eingeschränkt und ehe das Fanal über die Dörfer zieht, ist an anderer Stelle der Aufstand schon wieder zu Ende.

Man darf auch nicht vergessen, dass die Oktoberrevolution mitten im 1. Weltkrieg stattfand. Sowas hatte Marx weder vorhergesehen noch eingeplant.
Genau das ist es. Nach der marxschen Theorie hätte der Umsturz im entwickelten (und nun sterbenden) Kapitalismus stattfinden sollen. Nun fand er im bäuerlichen Rußland statt, also dort - um ein Metapher Stalins zu verwenden - wo die Kette des Kapitalismus am schwächsten ist. Die bürgerliche (Februar-) Revolution war gerade ein halbes Jahr alt, da folgte schon die proletarische Oktoberrevolution nach. Ich glaube, das hätte Marx nicht verstanden. Lenin, der wie wir nun wissen, von der deutschen Monarchie bezahlt, gefördert und transportiert wurde, nutzte geschickt die politischen Umstände im Kriegsrußland um den Krieg zu beenden und stürzte es nach der Machtübernahme in den Bürgerkrieg, in der Hoffnung auf die Weltrevolution. Spätestens hier hätte Marx sich die Augen gerieben, denn nach seiner Theorie muss sich die Revolution aus wirtschaftlichen und technologischen Erfordernissen ZWINGEND ergeben und einen Fortschritt für die Menschheitsgeschichte bedeuten. Wenn eine Revolution nach diesen Bedingungen verläuft, dann braucht es nur Gewalt gegen die gestrige Bourgeoisie und keinen Bürgerkrieg und schon gar keinen Stacheldraht und Mauer gegen das eigene Volk.
 
:grübel:Blöde Frage , aber welche Neuerungen hat eigentlich Lenin genau in die Marxsche Ideologie eingebracht? Weshalb die "neue"
Bezeichnung "Marxismus-Leninismus"?
Während Marx (und Engels) die philosophischen, witschaftlichen und theoretischen Vorausetzungen für die "historische Mission der Arbeiterklasse" entwickelten, finden wir bei Lenin die praktische Anleitung für einen politischen Umsturz und Durchführung einer Revolution, sowie erste Ansätze für den Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft, NÖP, Elektrifizierung des ganzen Landes usw. (Werke wie "Staat und Revolution", "Was tun?", Aprilthesen). Die Revolution (es war eine Revolte, Die eigentliche Revolution bestand ihre Feuertaufe im Bürgerkrieg) wurde auf das bäuerliche Rußland zunächst erfolgversprechend angewendet, ging aber durch das Ausbleiben der Weltrevolution den russischen nationalen Weg und blieb schließlich im Administrieren stecken. Lenins Verdienst war die praktische Umsetzung und Verwirklichung der Entmachtung der russischen Monarchie, der Bodenaufteilung und Verstaatlichung der Banken, sowie die Enteignung der Industriellen.

Man kann sagen, Lenin hat den Marxismus um ein (hinkendes) praktisches Beispiel bereichert, wobei davon zu viel verallgemeinert und als Strickmuster für andere Länder empfohlen wurde. Dadurch wurde sicher auch die Weltrevolution verspielt.
 
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Noch eins habe ich vergessen - Marx lebte und argumentierte überwiegend im Kapitalismus. Nach der offiziellen Lesart hat Lenin die Theorie auf den Imperialismus erweitert und angewandt.
 
Imperialismus galt nur als eine (nämlich die letzte) Phase des Kapitalismus. Dem Unterschied wie du ihn konstruierst, kann ich deshalb so nicht zustimmen.
 
Imperialismus galt nur als eine (nämlich die letzte) Phase des Kapitalismus. Dem Unterschied wie du ihn konstruierst, kann ich deshalb so nicht zustimmen.
@Themistokles, Ich schrieb ja, dass das die offizielle Lesart war, ich meine damit die vorgegebene, verordnete Propaganda. Nachzulesen in Stalins Artikel "Fragen des Leninismus".
Ausserdem - bitte - ich erwarte auch keine Zustimmung, ich bin doch kein Agitator! Ich teile meine Auffassungen und Kenntnisse hier mit und freue mich, wenn darüber diskutiert wird. Auch erkenne ich anderslautende Beiträge gerne an. Gerade solche regen mich oft an, das eigene Wissen zu überdenken bzw. zu ergänzen.:winke:
 
Noch ein Nachtrag:

Bevor man sich 1917 zuwendet, ist die Haltung von Marx zum zeitgenössischen Rußland interessant. Hierzu kann man einiges bemerken:
den Einfluß der üblichen europäischen Russophobie auf marx, die Bedenken zum Panslawismus, die Artikel von Marx über die russische Außenpolitik mit Studien der diplomatischen Akten (Vermittlung der Übersetzungen durch Borkheim, später erlernte er russisch), die Vorstellungen über die "ungeheure Bedeutung" des künftigen Rußlands - nach Engels verfügte er allein über zwei Kubikmeter statistischen Materials zu Rußland, das negative Verhältnis zu den russischen Emigranten, die Hoffnung auf Befreiung der russischen Bauernschaft nach den kommenden europäischen Revolutionen.

Ein Großteil der Studien, die von Marx nicht abgeschickt worden sind, beschäftigte sich mit der Frage, ob Rußland die kapitalistische Phase seiner Geschichte vermeiden könne.

dazu ein Hinweis: Krause: Marx und Engels und das zeitgenössische Rußland, Marburger Abhandlungen Osteuropa Band 1, aus 1958.
 
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