Über den Spaß am Umgang mit der Historie

tbernsau

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Warum sollte man sich mit Geschichte beschäftigen? Details aus grauer Vorzeit, verwahrt in staubigen Archiven – welche Relevanz hat das für den heutigen Menschen, die heutige Gesellschaft? Nur wenige Menschen können meine Begeisterung für die Archivarbeit nachvollziehen, warum ich mich so völlig in Aktenbergen vergraben kann und welche Faszination die einzelnen Fundstücke ausüben können.

Meine Forschungen für die Doktorarbeit waren in erster Linie Quellenforschungen. Ich war in der glücklichen Lage, auf recht umfangreiches, und in Deutschland bisher noch nicht gesichtetes Material zu stoßen, das mir aus amerikanischen Archiven als Mikrofilm-Rollen zur Verfügung gestellt wurde. Monatelang wühlte ich mich durch diese Quellen. Rolle um Rolle wurde gesichtet, Fundstücke notiert, Ergebnisse zusammengefasst. Vielfältig waren dabei die Inhalte: militärische Berichterstattung in jeder zeitlichen Granularität, Listen über alles Denkbare (von Bauwerken, über Personal, Kunstwerke in Kisten verpackt, religiöse Objekte, Besucherzahlen, Bibliotheksbestände bis hin zu Hausrat und Möbeln), Korrespondenz innerhalb der alliierten Militärregierung sowie zwischen dem Militär und internationalen Zivilbehörden, Kunsthändlern, nationalsozialistische Parteigänger, Museumsverantwortlichen und einfachen Bürgern, Pressartikel, Aktennotizen und Abbildungen. „ZDF“ – Zahlen, Daten, Fakten. Durch diese Quellenvielfalt konnte ich ein sehr dichtes Informationsnetz um meine Thesen spannen, das ein recht valides Bild der Zeit zeichnete.

Neben all den Fakten konnte ich dem Material aber noch viel mehr entnehmen. Beim Durchstöbern der zahllosen Berichte, Reports und Korrespondenzen entstand vor meinem inneren Auge das Bild der Menschen, die diese Geschichte geschrieben haben. Vor allem die kleinen Informationen, auf die ich dabei stieß, halfen dabei, in die Zeit abzutauchen. Dabei ist jedem Forscher bewusst, dass er immer nur einen Ausschnitt der Geschichte betrachtet. Nie wird man ein vollständiges Bild rekonstruieren können. Der Archivnutzer selbst hat eine Fragestellung vor Augen, die ihn die Ergebnisse mehr oder weniger bewusst vorfiltern lässt. Und auch ein Archiv erhebt keinen Anspruch auf vollständige und lückenlose Dokumentation aller Geschehnisse einer Zeit. Das was aufbewahrt wird, ist ebenfalls vorgefiltert. Schon deshalb, weil man heute kaum beurteilen kann, was in der Zukunft relevant sein könnte, um die Gegenwart analysieren zu können. Vieles kommt deshalb auch durch Zufall auf uns – diese Zufallsfunde bringen oft eine neue Facette, eine neue Färbung der Geschichte mit sich.
Gerade die kleinen Schnipsel, Notizen, Randbemerkungen sind es aber, die das Bild, das durch die Fakten gezeichnet wurde, mit bunten Farben ausmalen. Sie vermitteln das Stimmungsbild des Zeitgeistes, der Werte.

So stieß ich beispielsweise im Hessischen Hauptstaatsarchiv auf eine einzelne Postkarte einer Dame, die sich für die Einladung zu einer Ausstellung bedankte, die im Central Collecting Point Wiesbaden (CCP) nach dem Zweiten Weltkrieg durchgeführt wurde. Diese Dame verlieh ihrem Bedauern darüber Ausdruck, dass sie nicht würde kommen können, da sie nicht in der amerikanischen Besatzungszone lebte und das interzonale Reisen zu beschwerlich sei. So wollte sie wenigstens einen schriftlichen Gruß hinterlassen – was aber ebenfalls in der Besatzungszeit kein einfaches Unterfangen war, da das Postwesen noch in den Kriegstrümmern lag – die Zonengrenzen erschwerten den Briefverkehr zusätzlich. Dennoch war es der Dame wichtig genug, es zu versuchen und so stellt diese eine Postkarte heute ein spannende Fundstück dar. Ohne jetzt auf die Problematik der Aufbewahrung heutiger digitaler Kommunikationsformen einzugehen – ich vermute, dass Forscher in 50 oder 100 Jahren solche kleinen Informationen nicht mehr werden berücksichtigen können.

Diese Postkarte deutet uns an, welche Reichweite die Einladung hatte (geografisch) und wie gerne die Dame gekommen wäre. Heute stehen der Analyse von Medienreichweite natürlich ganz andere Tools zur Verfügung und selbstverständlich ist eine einmalige Postkarte kein Beleg dafür, dass die Ausstellung erfolgreich war. Es zeigt aber, dass es einem einzelnen Menschen damals so viel bedeutet hat, höflich Rückmeldung zu geben. Dass diesen Menschen die Ausstellung interessiert hätte.
Was damals wichtig genug schien aufgehoben zu werden, bringt heutige Archivnutzer aber auch zum Schmunzeln. Eines meiner Highlights waren etwa die internen Hausnachrichten des Museums Wiesbaden, wie etwa diese hier:
http://data9.blog.de/media/315/7200315_1a1c00107a_m.jpeg

Solche Fundstücke verdeutlichen, dass es sich bei dem „Central Collecting Point“ nicht um eine nüchterne militärische Institution handelte, deren Mitarbeiter jederzeit rational gedacht und gehandelt haben, die strikt ihren Vorschriften folgten und ihre Funktion erfüllten. Hier arbeiteten Menschen deutscher und amerikanischer Herkunft unter nachkriegsbedingt schwierigen Bedingungen zusammen und bemühten sich gemeinsam um den Wiederaufbau der deutschen Museumslandschaft. Mit allen zwischenmenschlichen Konflikten, die dabei entstehen können. Die sich auch mal nicht regelkonform verhalten. Menschen, wie du und ich.

All die kleinen Schnipsel, die sich in den Akten finden lassen, freuen das Forscherherz, weil sie das Thema lebendig machen. Es geht nicht nur um die Termine, Daten, Listen. Hinter jedem Namen, den man liest, verbirgt sich ein Mensch mit Hintergrund und Hintergedanken. Jede Behörde, die ein Dokument ausstellt, besteht aus diesen Menschen. Und diese Menschen waren es, die von der Geschichte betroffen waren. Die sie gestaltet haben und von denen wir lernen können. Deswegen archivieren wir Quellen. Deshalb beschäftigen wir uns damit. Damit wir von Geschichte lernen können. Von den Menschen, die sie geschrieben haben.
 
@tbernsau

Aber das ist doch nun einmal immer das Problem einer quellenkritischen Archivarbeit, noch dazu bei dem historisch (-und vermögensrechtlich) so aufgeladenem Thema wie bei den Central Collecting Points und deren Aufarbeitung.

Behördenübergreifende Grundsätze der Ablage- und Archivorganisation sind relativ neuer Natur und naturgemäß weiß man auch nicht, ob sie eingehalten wurden, meiner bescheidenen Erfahrung nach, je nachgeordneter eine Behörde war, desto eher wurden sie nicht eingehalten.

"...Solche Fundstücke verdeutlichen, dass es sich bei dem „Central Collecting Point“ nicht um eine nüchterne militärische Institution handelte, deren Mitarbeiter jederzeit rational gedacht und gehandelt haben, die strikt ihren Vorschriften folgten und ihre Funktion erfüllten. Hier arbeiteten Menschen deutscher und amerikanischer Herkunft unter nachkriegsbedingt schwierigen Bedingungen zusammen und bemühten sich gemeinsam um den Wiederaufbau der deutschen Museumslandschaft. Mit allen zwischenmenschlichen Konflikten, die dabei entstehen können. Die sich auch mal nicht regelkonform verhalten. Menschen, wie du und ich...."

Das die Beamten und alliierten Offiziere getan haben was sie konnten in den CCP's keine Frage, die Postkarte kann da nur ein allererster Ansatzpunkt sein.

Übrigens, man kann sich in Archiven auch "verlieren".

M.
 
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