Überproportional viele Bäcker

Dieses Thema im Forum "Wirtschaftsgeschichte" wurde erstellt von Dackelhasser, 29. September 2019.

  1. Dackelhasser

    Dackelhasser Mitglied

    Darf ich dieses uralte Thema eventuell noch mal hochholen?
    Mir ist aufgefallen, dass in der obigen Liste 117 Bäcker verzeichnet sind. Das ist ganz nebenbei die zweithäufigste Berufsgruppe nach den Winzern. Das passt doch überhaupt nicht zu den obligatorischen Getreidebreien, die als Nahrung der Massen für das Mittelalter angegeben sind. Ist das eine Ausnahme für Städte oder können wir uns vom guten alten Hirsebrei verabschieden?
     
  2. zaphodB.

    zaphodB. Premiummitglied

    also 117 Bäcker scheinen mir für eine Stadt im Jahre 1384 doch reichlich viel
    Handelt es sich hier möglicherweise um einen Übertragungs- oder Druckfehler mit einer 1 zu viel ?.
    In Mainz,damals eine der grossen Städte des Reiches sind um 1400 24 Bäckermeister und ca, 60 weitere Bäcker in der Zunft geführt, in Worms waren es zur selben Zeit 9 Meister und 26 weitere Bäcker -selbst wenn man hier noch die Bäcker und Pfister der Klöster,Stifte und Adelshöfe mit einberechnet ergeben sich nicht derart astronomische Zahlen wie für Esslingen ,wo auf 40 (statt der wohl üblichen 200) Einwohner ein Bäcker gekommen wäre.
    Selbst vor der Erfindung von automatischer Brötchenstrasse und industieller Fertigbackmischung wäre das eine gnadenlose Überversorgung gewesen.

    Die nachweislich älteste noch bestehende Bäckerei Deutschlands in 14.Generation im Familienbetrieb datiert übrigens auf das Jahr 1591 und befindet sich in Darmstadt
     
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  3. KeineAhnung

    KeineAhnung Aktives Mitglied

    Denkbar.

    Allerdings kenne ich in meiner Region ein ähnliches Phänomen, wenn auch zeitlich rund 200 Jahre später. Es gab in dieser Stadt ebenfalls überproportional viele Bäcker, was damit erklärt wurde, dass ständig viele Handlungsreisenden und Militärs durchzogen. Wobei der Brotverkauf der Bäcker nur ein Teil der Einkünfte ausmachten, denn die Bäcker betrieben in ihren Backstuben in aller Regel noch Badestuben. Da war ja immer gut geheizt und einen Zuber aufstellen macht nicht soviel Mühe. Das gab einen sehr lukrativen Nebenverdienst.
    Darüber hinaus hatten sich einige der Bäcker auch eine Schanklizenz austellen lassen, ebenfalls ein guter Nebenverdienst. Das Ganze hatte in Summe wohl ausgereicht um die große Zahl an Bäcker zu ernähren.
    Wäre das für Esslingen nicht auch denkbar?
     
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  4. Dackelhasser

    Dackelhasser Mitglied

    Bader gab es in Esslingen allerdings auch 26, dafür keine Bierbrauer. War wohl eher eine Weingegend.

    Hätte man das Thema nicht besser in's Mittelalter verschoben?
     
  5. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Die Bewohner der Stadt Alcalá de Guadaíra in Andalusien werden häufig auch panaderos 'Bäcker' genannt. Man nannte Alcalá de Guadaíra im ausgehenden 19. Jhdt. manchmal auch Alcalá de los Panaderos.

    Der Guadaíra (wenn man im Spanischen einen Namen mit Guada- hat, dann steckt da zu 99% das arabische Wād(ī) (Fluss) drin) nimmt bei Alcalá an Fahrt auf und daher betrieb man dort traditionell viele Mühlen, angeblich bereits seit arabischer Zeit. Da diese Mühlen sich dem Getreidemahlen widmeten - Alcalá befindet sich in der Campiña de Sevilla, einem landwirtschaftlich attarktivem Gebiet - siedelten sich dort viele Bäcker an und mit der Zugverbindung zwischen Alcalá und Sevilla (17 km, die Linie war insgesamt 40 km lang, bis Carmona) konnte man mit dem Brot aus Alcalá Sevilla schnell beliefern.

    Heute gibt es das aber auch noch. In Perú liegt nahe Cuzco der Ort Oropesa, der sich als Capital Nacional del Pan, also als "nationale Brothauptstadt" bezeichnet, weil es dort so viele Bäckereien gibt, welche ein weiteres Umland mit Bort versorgen.

    In Alcalá, das hing natürlich mit der Industrialisierung zusammen: Günstige natürliche Standortbedingungen plus Eisenbahnanbindung. Das ist also etwas anderes, als mittelalterliche oder frühneuzeitliche Konzentrationen von Bäckern.Die bleibt erst einmal erklärungsbedürftig.
     
  6. Dackelhasser

    Dackelhasser Mitglied

    Brot backen ist übrigens nicht allzuschwer, vorausgesetzt, man hat einen Backofen. Ist nur die Frage, ob man das als Otto Normal durfte oder ob das Backen, ähnlich anderen Berufen, dem Zunftrecht unterlag.
    Zumal man auf dem Dorf nicht mal eben sonntags zum Brötchen holen in die Stadt reiten konnte und dann doch selbst Hand anlegen musste.
     
  7. Xander

    Xander Aktives Mitglied

    @Dackelhasser
    Es wurde wohl in vielen Haushalten gebacken, entscheidend ist aber, ob man die Backwaren auf dem Markt anbietet oder privat verzehrt.
     
  8. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Das ist ein interessanter Punkt- Es ist nämlich nicht überall selbstverständlich, dass zuhause das Essen zubereitet und gegessen wird. Ich will das nicht auf Mitteleuropa übertragen, keine Sorge, aber im Kairo des 14./15. Jhdt.s beispielsweise, hatten die meisten keine eigene Küche und man aß "Street Food".
     
  9. Dackelhasser

    Dackelhasser Mitglied

    Wenn man normalerweise selber backt, braucht man keinen Bäcker, und schon gar nicht so viele.
     
  10. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Offensichtlich war das Selberbacken in den Städten nicht der Normalfall:

    "In den Dörfern wurde vor allem in den eigenen oder gemeinschaftlichen Backöfen für privaten Bedarf gebacken, die Stadtbewohner dagegen versorgten sich überwiegend in gewerblichen Bäckereien (Abb. 1). In einer großen Stadt waren mehrere Bäckereien gleichzeitig in Betrieb. Hammel-Kiesow hat anhand der Schriftquellen allein für das Jahr 1378 in Lübeck 71 Backhäuser nachgewiesen, die vor allem an den Straßenecken oder in deren unmittelbarer Nähe platziert waren und ein sehr dichtes Versorgungsnetz bildeten (Abb. 2)." (Mieczyslaw Grabowski, Backhäuser und Backöfen in Lübeck)
    https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwip4v7kjtTlAhWyzYUKHZlODeQQFjAAegQIAhAC&url=https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/mitt-dgamn/article/download/17697/11510/&usg=AOvVaw3xfcSKLzY8mKQzFOXIxDCt
     
  11. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

  12. Xander

    Xander Aktives Mitglied

    Moin
    Ich will mich nicht auf die Quantität des "privaten" Backens versteifen, sondern es ging mir um diesen Satz: "Ist nur die Frage, ob man das als Otto Normal durfte oder ob das Backen, ähnlich anderen Berufen, dem Zunftrecht unterlag."
    Egal wie hoch jetzt der Anteil des häuslichen Backens war, es unterlag wohl nicht der Aufsicht der Zünfte.
     
  13. zaphodB.

    zaphodB. Premiummitglied

    dass für das Jahr 1378 in Lübeck , der damals zweitgrössten Stadt Deutschlands nach Köln 71 Backhäuser nachgewiesen sind lässt eigentlich noch mehr Zweifel an der Esslinger Zahl aufkommen
     
  14. Dackelhasser

    Dackelhasser Mitglied

    Wenn man davon ausgeht, dass pro Backstube drei oder vier Gesellen tätig waren, also nicht nur ein einziger Bäckermeister, käme das hin.
    Aber um mal auf meine eigentliche Frage zurückzukommen, den täglichen Getreidebrei können wir dann wohl at acta legen, oder?
     
  15. Xander

    Xander Aktives Mitglied

    War vermutlich auch ne Frage des Geldbeutels!?
     
  16. Dackelhasser

    Dackelhasser Mitglied

    Danke für den Link.
    Nach dem Aufwand, den der Stadtrat betrieb, müssen es schon ziemlich viele gewesen sein, und sie haben, wie man indirekt erfährt, ihre Waren auch in der Umgebung bis nach Stuttgart verkauft.
     
  17. Solwac

    Solwac Aktives Mitglied

    Es reicht doch schon, wenn man auf einen Backofen angewiesen ist (den also nicht selber hat - Holzhäuser müssen nicht automatisch einen Steinbackofen haben) und selbst beim Eigenbedarf so in Listen aufgenommen wird. Dadurch wird man dann in einem Ort als Bäcker aufgeführt und andern nicht. Eventuell wird mit solchen Listen die Nutzung bezahlt oder es wird doch etwas für andere mitgebacken und somit ein (bescheidener) Nebenerwerb festgestellt.
     
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  18. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    An der Zahl ist nicht zu zweifeln.

    Die Berufszählung des Steuerbuchs von 1384 ergibt:

    45 Bäcker in der Altstadt
    35 Bäcker in der Pliensau-Vorstadt
    17 Bäcker in der Obertor-Vorstadt (Mühlbrunn)
    20 Bäcker in der Beutau

    Das macht nun mal 117 Steuerzahler mit der Berufsangabe "Bäcker", "wobei aber nochmal darauf hingewiesen werden muß, daß es sich hier um die Steuerzahler und nicht um Bürger handelt. Die Steuer geht in dieser Zeit von wirtschaftlichen Richtlinien aus, und nicht mehr von sozialen. Ob also die Stadt wirklich 117 selbständige Bäckereien gehabt hat und 94 Schuhmacher, und ob die 178 verzeichneten Weingärtner nicht zum großen Teil Lohnarbeiter waren, die sich im Tagelohn verdingten, muß offen bleiben."

    Bernhard Kirchgässner, Wirtschaft und Bevölkerung der Reichsstadt Eßlingen im Spätmittelalter. Nach den Steuerbüchern 1360 - 1460 (Eßlinger Studien Band 9/1964), S. 153
     
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  19. Dackelhasser

    Dackelhasser Mitglied

    Die vielen Schuhmacher sind kein Problem, denn die können ja durchaus "für den Export" in die umliegenden Dörfer produziert haben, vielleicht sogar für den Fernhandel.
    Es heißt ja auch 117 Bäcker, und nicht 117 Bäckereien. Vermutlich musste man für den Betrieb einer eigenen Bäckerei erst einmal den Meistertitel besitzen und in einer Bäckerei arbeiteten ohne maschinelle Unterstützung mehrere Personen. Brotteig kneten ist ziemlich anstrengend.
     
  20. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Da im Esslinger Steuerbuch gerade mal zwei Wirte, zwei Weingeber und ein Weinschenk verzeichnet sind (und das bei 178 Weingärtnern und 56 Fassbindern), wäre das zumindest eine Möglichkeit.
     

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