Übersetzungs-/Kopierfehler bei Tacitus

BlackKojak

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(Tac.ann.1, 60)

"prima Vari castra lato ambitu et dimensis principiis trium legionum manus ostentabant; dein semiruto vallo, humili fossa accisae iam reliquiae consedisse intellegebantur: medio campi albentia ossa, ut fugerant, ut restiterant, disiecta vel aggerata."

Primo ... ; dein ... (Zunächst ... ; dann ...) ist ein häufiges Motiv vieler damaliger Autoren.

Die Annales des Tacitus wurden 1508 in Corvey entdeckt und waren in einer Handschrift aus der Abtei Montecassino verfasst. Davor wurde vermutlich mehrmals in Klöstern kopiert, so dass wir nicht wissen, wie frühere handschriftliche Werke aussahen.
In der Handschrift Florenz sind o und a sehr ähnlich. Beispiele unter Annales (Tacitus) – Wikipedia

"primo Vari castra lato ambitu et dimensis principiis trium legionum manus ostentabant; dein semiruto vallo, humili fossa accisae iam reliquiae consedisse intellegebantur: medio campi albentia ossa, ut fugerant, ut restiterant, disiecta vel aggerata."

Übersetzung mit Google Translate:
"Das Varuslager mit seinem weiten Umkreis und seinen gemessenen Anfängen zeigte zunächst die Waffen von drei Legionen; Dann ließ man sich vermutlich auf einem halb zerstörten Wall in einem niedrigen Graben nieder: in der Mitte des Appellplatzes lagen die weißen Knochen, wie sie geflohen waren, wie sie Widerstand geleistet hatten, verstreut oder aufgehäuft."

Campus habe ich statt Feld als Appellplatz korrigiert. Der Begriff Campus mit Castra ist eindeutig. Ein Exerzierplatz außerhalb des Lagers.
 
Zuletzt bearbeitet:
Der Begriff Campus mit Castra ist eindeutig.

Das Wort campus bezeichnet allgemein ein flaches Feld, im Speziellen kann ein Schlachtfeld oder auch ein Versammlungsplatz im Freien gemeint sein. (Ins Westgermanische ist das Wort im Sinne von Kampfplatz gelangt, das deutsche Wort Kampf stammt in direkter Linie vom lateinischen Wort campus ab.)

In dem Zusammenhang "medio campi albentia ossa, ut fugerant, ut restiterant, disiecta vel aggerata" ist ganz eindeutig ein Kampfplatz/Schlachtfeld gemeint.

(Abgesehen davon enthält die Google-Übersetzung einige semantische Fehler.)
 
Campus habe ich statt Feld als Appellplatz korrigiert. Der Begriff Campus mit Castra ist eindeutig. Ein Exerzierplatz außerhalb des Lagers.
Nein.

Zudem:
Das Varuslager mit seinem weiten Umkreis und seinen gemessenen Anfängen zeigte zunächst die Waffen von drei Legionen
Es sind nicht die Waffen, sondern die Hände [= die Arbeit] dreier Legionen. Das ist die gängige und situativ korrekte Übersetzung.
 
Zuletzt bearbeitet:
Es sind nicht die Waffen, sondern die Hände [= die Arbeit] dreier Legionen. Das ist die gängige und situativ korrekte Übersetzung.
Stimmt, Google macht keine guten Übersetzungen, die richtige Übersetzung versteht sich von selbst.

Warum nein beim Campus?
Castra als Lager hatte ein Campus, auf dem trainiert wurde, außerhalb des Lagers. Bei Standlagern auch gerne mal gepflastert.
Warum allgemein als "Feld" übersetzen, wenn Campus in Bezug auf Castra eine klare Bedeutung im militärischen Sinn hat?
 
Castra als Lager hatte ein Campus, auf dem trainiert wurde, außerhalb des Lagers. Bei Standlagern auch gerne mal gepflastert.
Bei Marschlagern wurde kein Exerzierplatz angelegt.
Nebenbei: Wo haben wir denn gepflasterte Exerzierplätze neben einem Militärlager? Carnuntum? Mainz? Xanten? Mir will auf die Schnelle keines einfallen. Der kaiserzeitliche Campus Martius ist keine Referenz; in Rom waren keine Legionen stationiert.

Warum allgemein als "Feld" übersetzen, wenn Campus in Bezug auf Castra eine klare Bedeutung im militärischen Sinn hat?
Campus steht hier nicht in Zusammenhang mit den Lagern, sondern im Zusammenhang mit den Gebeinen der Gefallenen. Exerzierplätze wurden nicht angelegt, um darauf Knochen zu bleichen.
Die klare militärische Bedeutung von campus ist hier: Schlachtfeld!
 
Die Annales des Tacitus wurden 1508 in Corvey entdeckt und waren in einer Handschrift aus der Abtei Montecassino verfasst. Davor wurde vermutlich mehrmals in Klöstern kopiert, so dass wir nicht wissen, wie frühere handschriftliche Werke aussahen.
In der Handschrift Florenz sind o und a sehr ähnlich. Beispiele unter Annales (Tacitus) – Wikipedia

Nur steht die Stelle nicht im Florentiner Codex aus dem 11. Jhdt., sondern in einem Codex aus dem 11. Jhdt. darin finden wir die entsprechende Stelle mit einem sogenannten cc-A (fortan als <α> wiedergegeben), das - bei nur oberflächlicher Betrachtung - eher mit einem -u- als einem -o- verwechselt werden könnte, um kurz darauf ein nach der karolingischen Schriftreform entwickletes karlingisches a zu sehen:

primcc uccri.png

primα uαri castrα lαto ambitu & dimenſiſ principiiſ trium legionū (> legionum) mαnuſ oſtentαbαnt....

Wir haben hier einen Text, der kurz nach der karolingischen Schriftreform kopiert wurde, wo wir cc-A (α) und karolingisches -a- im Wechsel finden.
 
Dass die "Übersetzung" oben nicht stimmt, wurde schon mehrfach gesagt. Z.B. wird das prima (oben wegen fehlgehender Prämisse als *primo falsch wiedergegeben) gar nicht wirklich übersetzt.
prima Vari castra lato ambitu et dimensis principiis trium legionum manus ostentabant...​
Das erste Lager des Varus (oder die ersten Lager des Varus, da castra auch als Pluralforum von castrum ist) der weite Umfang und die Dimensionen der Principiae zeigten die Hände (> der Hände Arbeit) dreier Legionen...​

Aber das ist natürlich nur ein Auszug der in einem Kontext steht. Schauen wir uns diesen Kontext mal an:

Igitur cupido Caesarem invadit solvendi suprema militibus ducique, permoto ad miserationem omni qui aderat exercitu ob propinquos, amicos, denique ob casus bellorum et sortem hominum. praemisso Caecina ut occulta saltuum scrutaretur pontesque et aggeres umido paludum et fallacibus campis inponeret, incedunt maestos locos visuque ac memoria deformis. prima Vari castra lato ambitu et dimensis principiis trium legionum manus ostentabant; dein semiruto vallo, humili fossa accisae iam reliquiae consedisse intellegebantur: medio campi albentia ossa, ut fugerant, ut restiterant, disiecta vel aggerata. adiacebant fragmina telorum equorumque artus, simul truncis arborum antefixa ora. Lucis propinquis barbarae arae, apud quas tribunos ac primorum ordinum centuriones mactaverant. et cladis eius superstites, pugnam aut vincula elapsi, referebant hic cecidisse legatos, illic raptas aquilas; primum ubi vulnus Varo adactum, ubi infelici dextera et suo ictu mortem invenerit; quo tribunali contionatus Arminius, quot patibula captivis, quae scrobes, utque signis et aquilis per superbiam inluserit.​
[62] Igitur Romanus qui aderat exercitus sextum post cladis annum trium legionum ossa, nullo noscente alienas reliquias an suorum humo tegeret, omnis ut coniunctos, ut consanguineos, aucta in hostem ira, maesti simul et infensi condebant. primum extruendo tumulo caespitem Caesar posuit, gratissimo munere in defunctos et praesentibus doloris socius. quod Tiberio haud probatum, seu cuncta Germanici in deterius trahenti, sive exercitum imagine caesorum insepultorumque tardatum ad proelia et formidolosiorem hostium credebat; neque imperatorem auguratu et vetustissimis caerimoniis praeditum adtrectare feralia debuisse.​
[63] Sed Germanicus cedentem in avia Arminium secutus, ubi primum copia fuit, evehi equites campumque quem hostis insederat eripi iubet. Arminius colligi suos et propinquare silvis monitos vertit repente: mox signum prorumpendi dedit iis quos per saltus occultaverat. tunc nova acie turbatus eques, missaeque subsidiariae cohortes et fugientium agmine impulsae auxerant consternationem; trudebanturque in paludem gnaram vincentibus, iniquam nesciis, ni Caesar productas legiones instruxisset: inde hostibus terror, fiducia militi; et manibus aequis abscessum. ,mox reducto ad Amisiam exercitu legiones classe, ut ad vexerat, reportat; pars equitum litore Oceani petere Rhenum iussa; Caecina, qui suum militem ducebat, monitus, quamquam notis itineribus regrederetur, pontes longos quam maturrime superare. angustus is trames vastas inter paludes et quondam a L. Domitio aggeratus, cetera limosa, tenacia gravi caeno aut rivis incerta erant; circum silvae paulatim adclives, quas tum Arminius inplevit, compendiis viarum et cito agmine onustum sarcinis armisque militem cum antevenisset. Caecinae dubitanti quonam modo ruptos vetustate pontes reponeret simulque propulsaret hostem, castra metari in loco placuit, ut opus et alii proelium inciperent.​
Also, wir befinden uns auf dem zweiten Feldzug des Germanicus gegen Arminius im Jahr 15. Man war getrennt an einen Treffpunkt der Ems gekommen. Caecina mit vier Legionen zu Fuß, Germanicus mit vier Legionen zu Schiff und offensichtlich parallel zu den Schiffen die Reiterei. Von dort aus zog man durch das Land zwischen Ems und Lippe und verheerte die Siedlungen der Brukterer. Bis man in die Nähe des saltus Teutoburgiensi kam. Hier nun überkommt Germanicus der Wunsch, das Varusschlachtfeld zu besuchen (was offenbar ursprünglich nicht geplant war). Caecina bildet die Vorhut, welche die Wege bereiten soll, dann wird das Varusschlachtfeld gefunden, von zwei Lagern ist die Rede, und von einer art klimakterisch gestalteten Schlachtverlauf. Die aufgefundenen Reste der Legionen werden bestattet, Armnius ist offensichtlich in der Nähe. Germanicus verfolgt ihn und schließlich kommt es zu einer Schlacht im Nirgendwo (in avia). Wichtig für diese Diskussion ist: Tacitus verwendet hier drei Mal den Begriff campus. Einmal die fallacibus campis (die trügerischen Flächen im Moor), einmal das Feld, welches die Feinde im Nirgendwo besetzt hielten, welches Germanicus der Reiterei den Feinden zu entreißen befahl und - dazwischen - eben das Schlachtfeld des Varus, wo die bleichenden Knochen der Varuslegionen vertreut lagen.
Hier haben wir die Folge: Vollständiges Lager für drei Legionen > unvollständiges Lager, welches die Reste am letzten Schlachttag noch zu errichten versucht hatten > Feld mit den bleichenden Knochen. Dies ist natürlich von Tacitus gestalteter Text und bedeutet keineswegs, dass Germanicus tatsächlich zuerst ein Lager von vor der Schlacht und später eines vom Ende der Schlacht gefunden hat, dies ist nur der Dramaturgie bei Tacitus geschuldet. Genauso, wie erst die Legaten fallen, dann die Adler verloren gehen und schließlich Varus sich selbst richtet. Also eher ein Ergebnis- als ein Verlaufsprotokoll, wenn man so will.
 
Bei Marschlagern wurde kein Exerzierplatz angelegt.
Nebenbei: Wo haben wir denn gepflasterte Exerzierplätze neben einem Militärlager? Carnuntum? Mainz? Xanten? Mir will auf die Schnelle keines einfallen. Der kaiserzeitliche Campus Martius ist keine Referenz; in Rom waren keine Legionen stationiert.


Campus steht hier nicht in Zusammenhang mit den Lagern, sondern im Zusammenhang mit den Gebeinen der Gefallenen. Exerzierplätze wurden nicht angelegt, um darauf Knochen zu bleichen.
Die klare militärische Bedeutung von campus ist hier: Schlachtfeld!
Vorsicht, bei der Übersetzung gehe ich nicht von Marschlager aus, das sich aus anderen Quellen ergibt, es muss sich aus dem Text des Tacitus ergeben. Appellplatz halte ich auch für falsch, weil die Übersetzung dann auf Standlager verengen würde. "Marschlager" hatten ggf. auch ein "Campus", die Römer haben ja ihre Lager immer gleich gebaut und es wurde z.B. nicht zwischen Marschlager so wie wir es verstehen und Sommerlager unterschieden, beide dürften wohl als castra aestiva bezeichnet worden sein.
Campus ist schwer zu übersetzen, Feld halte ich persönlich immer für falsch, weil es im Deutschen ganz andere Assiziationen weckt. Unübersetzt als "Campus" ist auch problematisch, da Campus auch das Gelände an sich bezeichnet, man also auf die Idee kommen könnte, die Lagerfläche wäre gemeint, diese Bedeutung ist aber erst wenige hundert Jahre als und stammt aus von den US-Universitäten.
Campus daher als Bereich oder Fläche, wenn durch Bezugspunkte definiert. Durch Lager und Wälle + Graben der später gelagerten hier eine mögliche Übersetzung. Exerzier- oder Appellplatz bei einem Standlager oder auch Sommerlager möglich. Bei einer Schlacht ist der Bezug aber ganz klar auf diese zu legen, daher Schlachtfeld. Da stimme ich dir 100% zu.

Gepflastert wurde manchmal, Lambaesis (Algerien), Slack oder Ambleside (beide Großbritannien).
Manchmal auch durch Mauern umgeben. Größe wenige Hektar, das Marsfeld war mehrere Quadratkilometer groß.


Nächstes Problem in der Übersetzung ist dimensis principiis. Principia würde ich als Gebäude bei einem Standlager und Sommerlager, beim (Tages-)Marschlager als Platz verstehen. Wir wissen nicht, was Tacitus beschreibt. Interessant ist, dass der Bereich Principia bei einem Tagesmarschlager nach Abzug verschwindet, da eben nur ein freier Platz, der durch Entfernung von Zelten und ggf. umgebenden temporären Gebäuden verschwindet. Da Tacitus die Principia extra erwähnt, könnte man darauf schließen, es handele sich um das Sommerlager, andererseits beschreibt Tacitus ja das Lager und die neuen, kümmerlicheren Wälle und Gräben. Das Marschlager konnte also nicht, z.B. durch mögliche Kämpfe im Marschlager oder auf die Legionen bei Auszug aus dem Marschlager, abgebaut werden. Ich würde Principa auch im Deutschen so stehen lassen wollen, sonst als Feldherrenplatz übersetzen müssen.
 
Nur steht die Stelle nicht im Florentiner Codex aus dem 11. Jhdt., sondern in einem Codex aus dem 11. Jhdt. darin finden wir die entsprechende Stelle mit einem sogenannten cc-A (fortan als <α> wiedergegeben), das - bei nur oberflächlicher Betrachtung - eher mit einem -u- als einem -o- verwechselt werden könnte, um kurz darauf ein nach der karolingischen Schriftreform entwickletes karlingisches a zu sehen:

Anhang anzeigen 24566
primα uαri castrα lαto ambitu & dimenſiſ principiiſ trium legionū (> legionum) mαnuſ oſtentαbαnt....

Wir haben hier einen Text, der kurz nach der karolingischen Schriftreform kopiert wurde, wo wir cc-A (α) und karolingisches -a- im Wechsel finden.
Sehr gut, damit steht fest, dass im 11. Jhd. es auf jeden Fall "prima" und nicht "primo" hieß.
Man sollte nicht vergessen, dass der Text zu diesem Zeitpunkt schon 1000 Jahre lang kopiert wurde.
Es gibt ja auch die Stimmen, die "prima ... ; dein ..." als "erst ... ; dann" übersetzen wollen, was m.E. klar falsch ist.
Trotzdem muss man feststellen, dass "primo ... ; dein ..." ein üblicher Ausdruck war, neben den zwei Adverben hätte man dann bei Tacitus auch zwei in der Grammatik synchrone Teilsätze. Da übergreifend primo mehr Sinn macht, im direkten Kontext nur "prima vari castra" betrachtend aber prima logischer ist, könnte das bei einem langwierigen Abschreiben oder Kopieren schon zu einem Fehler verleiten.

Andererseits muss man aber auch feststellen, dass Tacitus von der Formulierung "primo... ; dein ..." ausgegangen sein könnte, sie ist ja auf jeden Fall richtig, erst das Lager, dann die kümmerlichen Wälle an anderer Stelle. Da das Lager aber auch prima castra war, hat er primo zu prima abgeändert, was schon sehr elegant ist und zu Tacitus, der sich vor allem als Schriftssteller sah, passen würde.
 
Das erste Lager des Varus (oder die ersten Lager des Varus, da castra auch als Pluralforum von castrum ist) der weite Umfang und die Dimensionen der Principiae zeigten die Hände (> der Hände Arbeit) dreier Legionen...
Da castra üblich für Lager und Marschlager ist und wir es klar nicht mit Kastellen zu tun haben, können wir castra in der Bedeutung Plural von castrum wohl ausschließen. Manu ist wieder so ein vieldeutiger Begriff, dass die wortwörtlichste Übersetzung nicht gewählt werden sollte, ich würde da gleich "Werk" vorschlagen. Google Translate übersetzt es leider als Waffen, was sehr schade ist, ich hatte gehofft, dass Google zwar die üblichen Fehler mit zu wörtlicher Übersetzung und falschem/stelzigem Satzbau macht, aber nicht dass eine absolute Nebenbedeutung eines Begriffes (falls überhaupt) gewählt wird. Dimensis principiis würde ich als "die Ausmaße des Principia" übersetzen. Das Wort ist schon Plural von principium, gemeint ist, schön doppeldeutig, entweder ein Gebäude oder Gebäudekomplex (bei Standlagern oder länger genutztem Sommerlager) oder ein die gleiche Funktion erfüllender freier Platz beim Marschlager. In der Übersetzung dann wegen der Doppeldeutigkeit bei Principia belassen und im Deutschen mit Singular-Artikel, weil beide Möglichkeiten, die gemeint sein könnten, kein Plural sind.


Dies ist natürlich von Tacitus gestalteter Text und bedeutet keineswegs, dass Germanicus tatsächlich zuerst ein Lager von vor der Schlacht und später eines vom Ende der Schlacht gefunden hat, dies ist nur der Dramaturgie bei Tacitus geschuldet.
Wenn wir den Bereich der Interpretation betreten, kann man das wirklich so sagen? Davon ausgehend dass mit prima castra ein Marschlager gemeint ist, danach eine kümmerliche Lagerstätte der Reste, fällt auf, dass das Marschlager von Varus nicht abgebaut/zerstört wurde. Fehlte daher auch das Material für die Verschanzung der neuen Lagerstätte? Würde so ein Bild nicht genau dann entstehen, wenn Legionen ein Marschlager verlassen und ein neues beziehen? Die letzten Truppenteile verlassen das alte Lager, wenn die ersten schon im neuen Lager angekommen sind. Wenn dann gegen Mittag oder frühen Nachmittag die ziehenden Legionen angegriffen werden, wäre nicht genau das geschilderte zu erwarten? Wälle des alten Lagers noch vorhanden, Principia noch zu erkennen, Gräben noch nicht verfüllt. Dazu im neuen Lager noch nicht fertig ausgehobene Gräben, Wälle kümmerlich, da Palisadenmaterial nocch im alten Lager oder auf dem Weg verloren gegangen. Dazwischen die Gebeine. Interessant auch, dass Tacitus von Principia schreibt, nicht aber vom Praetorium.
 
Ich fasse nochmal zusammen.
  • Tacitus schreibt von genau zwei Lagern: das Erste und ein schlechteres mit kümmerlichen Wällen
  • Prima vari castra macht daher scheinbar immer noch keinen Sinn, da es nur zwei Lager gibt
  • Primo ... ; dein ist ein viel gebräuchlicheres Stilmittel, könnte scheinbar einen Fehler beim Kopieren nahe legen
  • Wegdiskutieren von prima klappt aber nicht
  • Das erste Lager als Stand- oder Sommerlager klappt auch nicht: Campus ganz klar nicht als Exerzierplatz, Principia zwar erwähnt, aber das erste Lager besteht wohl noch teilweise nach dem Aufbruch im Gegensatz zum üblichen Rückbau, Principa auf jeden Fall noch erkennbar, von Praetorium kein Wort
  • Schlachtfeld zwischen den Lagern: wäre das erste das Sommerlager gewesen, dann wäre es nach wie vor teilweise besetzt gewesen und man wäre zurückgezogen
  • Das Sommerlager von Varus lag an der Weser, von dort kam er
Der Schlüssel liegt in prima und zwar nicht darin, dass ein zweites und drittes Lager folgten (der Text gibt auch kein drittes her), sondern darin, was *vor* dem prima castra kam: keins.

Lag das "Verbrechen" des Varus darin, dass er nach dem ersten Marschtag gegen die Vorschriften kein Lager hat anlegen lassen? Es herrschte Tag-/Nachtgleiche. Statt 8h Marsch und 4h Lagerbau hätte man 12h für den Marsch aufwenden können und wäre viel weiter gekommen.
Daher muss die Erwähnung von prima erhebliche politische Brisanz gehabt haben.

Wenn dem so war, muss man Tacitus so auslegen:
  • Marsch aus dem Sommerlager
  • nach dem ersten Tag kein Lager, statt z.B. 30 km schafft man 45 km (ca. 4 km/h)
  • am zweiten Tag, Tagesleistung 30 km, Bau des beschriebenen ersten Lagers
  • am Morgen des dritten Tags Abzug aus dem Lager, gegen Mittag / frühen Nachmittag Angriff auf den Zug, das Lager kann nicht mehr zurückgebaut werden, principia noch erkennbar
  • erheblichste Verluste am dritten Tag, gegen Abend Bau des kümmerlichen zweiten Lagers, da Material fehlt, verloren gegangen ist oder im ersten Lager verblieben ist, Tagesleistung z.B. 20 km: Langsamer durch Kampf, aber vmtl. Versuch von Eilmärschen und man marschierte um Leben und Tod
  • vierter Tag: Aufbruch aus dem kläglichen zweiten Lager, man schafft noch ca. 10 km und die Reste werden vernichtend geschlagen, kleine Teile können sich vermutlich retten
Jetzt wird auch die Übereinstimmung zu Cassius Dio deutlich:
  • drei Tage des Kampfes beschrieben
  • zwei Lager beschrieben
  • plötzlich bricht man am morgen des vierten Tages auf
  • der erste Tag muss ereignislos gewesen sein
  • Lager des ersten Tags nicht beschrieben, weil es keins gab? Cassius Dio 19. (4) "sie wollten erreichen, daß Varus auf dem Marsch ins Gebiet der Aufständischen sich wie bei einem Zug durch befreundetes Land verhielt, so daß er leichter überwältigt werden konnte und nicht etwa wie bei einer überraschenden allgemeinen Erhebung Vorsichtsmaßnahmen traf." hätte eine Entschuldigung für den fehlenden Bau eines Lagers parat, der Vorwurf des vorschriftenwidrigen Verzichts wird aber nicht gemacht
  • "erstes" Lager wäre bei ihm: 21. (1) "Daher schlugen sie dort ihr Lager auf, wo sie einen geeigneten Platz fanden, soweit dies in dem Waldgebirge überhaupt möglich war; nachdem sie dann zahlreiche Wagen und sonstige Gegenstände, die nicht unbedingt erforderlich waren, verbrannt oder zurückgelassen hatten, zogen sie am anderen Morgen in etwas besserer Ordnung weiter, so daß sie sogar offenes Gelände erreichen konnten; freilich erlitten sie auch bei ihrem Abzug Verluste.", erklärt auch, warum das Lager nicht eingeebnet wurde und warum principia noch erkennbar war.
  • "medio campi albentia ossa": 21. (2) "Als sie von dem zuletzt genannten Standort aufgebrochen waren, gerieten sie wieder in Waldgebiete; sie setzten sich zwar gegen die Angreifer zur Wehr, hatten aber gerade hier schwere Verluste; denn wenn sie auf engem Raum dicht zusammenrückten, um in geschlossener Formation zugleich mit der Reiterei und den schwerbewaffneten Legionssoldaten die Feinde anzugreifen, brachten sie sich in dem Gedränge vielfach gegenseitig zu Fall oder glitten auf den Baumwurzeln aus."
  • zweites kümmerliches Lager wird nur indirekt erwähnt: 21. (3) "So brach der vierte Tag ihres Marsches an, und sie gerieten erneut in einen strömenden Regen mit heftigem Sturm, der sie nicht nur daran hinderte, vorzurücken oder einen festen Stand zu gewinnen, sondern auch den Gebrauch der Waffen nahezu unmöglich machte, denn sie konnten weder ihre Bogen noch ihre Wurfspeere oder auch nur ihre Schilde [S. 59] richtig verwenden, da diese Waffen völlig durchnäßt waren."
  • Das erste Lager des Varus lag laut Tacitus nahe bei den Gebieten der äußersten Brukterer, die auch einen Adler in Besitz hatten, bei Cassius Dio 21. (4) "Zudem hatte die Zahl der Feinde noch erheblich zugenommen, denn auch viele andere Barbaren, die vorher noch abgewartet hatten, waren jetzt eingetroffen, um vor allem Beute zu machen, aber auch aus anderen Gründen; die Reihen der Römer hatten sich (dagegen) schon gelichtet, da viele in den vorausgehenden Kämpfen gefallen waren;" -> die Brukterer?
Nur von den Cheruskern verfolgt konnte man hoffen, sich noch bis zum Rhein durchzuschlagen, als die Brukterer dazu kamen, war die Hoffnung dahin und Varus beging Selbstmord.

Wenn man bei Tacitus "medio campi", inmitten des Schlachtfelds, im Kontext zum vorherigen "ut occulta saltuum scrutaretur pontesque et aggeres umido paludum et fallacibus campis inponeret" sieht, bleibt auch kein Widerspruch zu Cassius Dios Waldgebieten.

Auch geografisch machen nun die Distanzen Sinn. Sommerlager an der Weser bei den Cheruskern, z.B. Hameln oder Höxter mit Furt über die Weser. Dann Zug innerhalb von zwei Tagen 75 km durch das Weserbergland und Ravensberger Hügelland, verfolgt von den Cheruskern. Angrivarier, verhalten sich still und haben ihre Gebiete nur leicht nördlich des Ablaufs. Nach ersten Scharmützeln prima castra im Ravensberger Hügelland, der Tross wird verbrannt, danach Versuch weiter westlich zu ziehen und den weiter nördlich verlaufenden Hellweg zu erreichen, um den Rhein zu erreichen. Das Ravensberger Hügelland ist Richtung Westen durch Moorgebiete schwer passierbar, daher Schwenk Richtung Nordwest, dabei schwerste Verluste. Ohne Tross und nach Verlusten Errichtung eines kümmerlichen Lagers, danach geht es am vierten Tag weiter und in Kalkriese folgt das Ende nachdem die Brukterer aus dem Ems-/Lipperaum dazugestoßen waren und die durchaus realistischen Chancen, es doch noch zu schaffen, zunichte machten.
 
Wenn dem so war, muss man Tacitus so auslegen:

nach dem ersten Tag kein Lager, statt z.B. 30 km schafft man 45 km (ca. 4 km/h)
Nur dass das kaum glaubhaft ist.

Es hätte bedeutet in Eilmärschen in ein nicht befriedigend aufgeklärtes Aufstandsgebiet zu marschieren und gegebenenfalls zu riskieren, dass die Truppen in dem Moment, in dem sie erschöpft vom Eilmarsch eigentlich dringend Ruhe benötigt hätten auf einen Feind in unbekannter Stärke hätten treffen und in Kämpfe verwickelt werden können.

Truppen in Eilmärschen marschieren zu lassen hätte vor allem dann Sinn ergeben, wenn man sich irgendwo an der Weser im Sommerlager befunden und versucht hätte das Aufstandsgebiet zu umgehen und sich schnell nach Westen zurück zu ziehen um nicht von den Rhein- und Lippelagern abgeschnitten und isoliert zu werden.

Bei einem Entschluss ins Aufstandsgebiet zu ziehen und einen Aufstand möglicherweise niederzuschlagen wäre es militärisch kaum opportun gewesen da ohne gründliche Observation in Eilmärschen rein zu gehen und zu riskieren dass die eigenen Truppen in suboptimaler Verfassung auf den Feind treffen erstmal kein guter Plan gewesen wäre.


Der Versuch aus einzelnen Formulierungen genaue Standorte und Wegpunkte abzuleiten taugt nicht viel, dafür gibt es zu viele Ungereimtheiten.
 
Vorsicht, bei der Übersetzung gehe ich nicht von Marschlager aus, das sich aus anderen Quellen ergibt, es muss sich aus dem Text des Tacitus ergeben.
Ist dieser Text denn nicht seit Generationen von Altphilologie / Latinistik / historischer Linguistik etc akribisch untersucht worden? Die Wissenschaften, die sich mit Tacitus-Texten befassen, sind keine "Raketenwissenschaft", die sich mit in rasanter Geschwindigkeit ereignenden Innovationen befasst und sich darum schnell wandelt (sodass die Erkenntnisse vom vorigen Jahrzehnt schwupps veraltet bis falsch wären) - von dieser Überlegung aus betrachtet, macht mich der Verdacht "Übersetzungsfehler" im Titel des Fadens skeptisch.

(nur nebenbei: wir hatten im GF vor Jahren eine langwierige Diskussion, in welcher Fantasiedeutungen des Begriffs "saltus" vorkamen, die sich erwartungsgemäß nicht gegen das durchsetzen konnten, was die Altphilologie zu "saltus" ermittelt hat)
 
Gehen wir doch mal zurück was hier im Geschichtsforum schon vor mehr als 20 Jahren freundlich und ausführlich erläutert wurde. Wir wollen ja nicht das Rad neu erfinden, sondern nur die Diskussion wieder auf feste Füße stellen:

Da sonst das andere Thema überflutet wird:
Gehen wir von einer maximalen Stärke von rund 6000 Mann einer Legion aus (selten erreicht).
Dazu kommen im Fall eines friedlichen Marsches, wie er von Varus unternommen wurde, die Angehörigen der Soldaten und Offiziere (Frauen / Geliebte, Kinder, Knechte, Freigelassene, Sklaven), nicht zu vergessen freiwillig folgende. Dazu zählen wir Prostituierte, Händler und Wahrsager.
Dazu wiederrum gehört der militärische Troß. Für jede Contubernia (8-10 Leute) steht ein Maultier zur Verfügung für Zelt und Mühlstein. Dem Zenturio dürfte ein weiteres Zukommen. Jedem der anwesenden Offiziere wie Tribune dürften dazu noch ein oder mehr Pferde zustehen und weitere Maultiere.
Die Kavallerie dürfte Ersatztiere mit sich geführt haben (hab grad keinen Vegetius zur Hand...), gar nicht zu sprechen vom Material.
Außerdem gab es zumindest in einigen Truppen und Perioden Geschütze (vermutlich Ballisten) auf Karren.

Diese ewig lange, da keine Bedrohung angenommen wurde wohl gut durchgemischte Schlange ist auch vom Terrain und dem Wetter abhängig.
Vor und während der Varrusschlacht hat es geregnet. Die schlammigen Pfade dürften den Zug weiter verlängert haben.

Marschordnungen selbst werden v. Polybios, Caesar, Vegetius, Pseudo-Hygin u.a. beschrieben.

6 Mann dürfte Paradeformation gewesen sein, sprich, im Gelände nicht nutzbar. 2-4 Mann nebeneinander dürften eher dem Standart entsprochen haben.
Über die Länge gibt es sehr faszinierende Berechnungen von Delbrück, ich kram sie mal raus.

Marschgeschwindigkeit waren im Schnitt wohl knapp unter 20 römische Meilen/Tag = 29,6 km. Eilmärsche brachten es auf 24 römische Meilen. Wohlgemerkt sind dies Zahlen der Ausbildung. Motivierte, unbelastete Truppen dürften das kurzzeitig überboten haben, bei ungünstigen Verhältnissen dürfte es wesentlich weniger gewesen sein.
Darin sind auch keine Transportmittel wie Schiffe enthalten.

An dieser Einschätzung hat sich nichts, aber auch gar nichts geändert.

  • Varus war nicht auf einem Eilmarsch.
  • Er führte einen kompletten Troß mit sich.
  • Er war begleitet von Zivilisten, und das in größerem Umfang als sonst üblich.
  • Es war ein Umzug, keine Strafexpedition, keine Überfallaktion.

Wie bitte, um alles in der Welt, kommst Du auf 45 km Marschleistung?

Stell Dir einmal den ordentlichen, sauber gefegten und mit Mülltonnen versehenen Museumspark von Kalkriese vor:
Wie willst Du da 3 Legionen + Tross + Zivilisten mit einer Marschleistung von 45 km je Tag durchbekommen?

Ich habe meine Zweifel, dass Du auf den breiten heimischen Waldwegen meiner Heimat, nach Kyrill und Holzfällarbeiten, 45 km auch ohne Gepäck hättest zurücklegen können.

Und noch etwas: Varus hat nicht gegen die Vorschriften verstoßen. Wenn, dann machte er die Vorschriften [Hermann Josef Abs, der sich die Anrede als "Herr Generaldirektor" verbat: "Ich bin kein Generaldirektor. Ich habe einen Generaldirektor."].

Google Translate in lateinischen Texten ist wie ein Hammer beim Uhrmacher.
 
Zuletzt bearbeitet:
Leider muss ich meine Antwort wegen Überlänge in zwei teilen.

Vorsicht, bei der Übersetzung gehe ich nicht von Marschlager aus, das sich aus anderen Quellen ergibt, es muss sich aus dem Text des Tacitus ergeben.
Es ergibt sich aus dem Text des Tacitus.
a) es ist von zwei Lagern die Rede, die das Schlachtgeschehen einklammern:
1. ein (oder mehrere) Lager, das bzw. die offensichtlich vor der Schlacht angelegt wurde(n), das bzw. die eben adäquat für drei Legionen nach allen Regeln der Kunst gebaut wurde(n) und
2. ein Lager, das offensichtlich unvollendet geblieben ist, weil die mittlerweile stark reduzierten römischen Kräfte noch beim Lagerbau vollends überwältigt wurden.
b) Um das Varusschlachtfeld zu erreichen, muss Caecina Wege durch besonders unwegsames Gelände vorbereiten.

Campus ist schwer zu übersetzen, Feld halte ich persönlich immer für falsch, weil es im Deutschen ganz andere Assiziationen weckt.
Ich weiß nicht, warum du 'Feld' als Übersetzung für campus für falsch hältst, es ist die übliche Übersetzung.
Wie würdest du den Cato übersetzen?
Scito idem agrumquod hominem, quamvis quaestuosus siet, si sumptuosus erit, relinqui nonmultum. Praedium quod primum siet, si me rogabis, sic dicam: de omnibusagris optimoque loco iugera agri centum, vinea est prima, vel si vino multoest; secundo loco hortus irriguus; tertio salictum; quarto oletum; quintopratum; sexto campus frumentarius; septimo silva caedua; octavo arbustum; nono glandaria silva.​

Oder Plinius den Älteren?

nec recens subtrahemus exemplum in Treverico agro tertio ante hunc annum conpertum. nam cum hieme praegelida captae segetes essent, reseverunt etiam campos mense Martio uberrimasque messes habuerunt.​
Was ist mit Varro?

Plerumque hiberna iis esse meliora, qui colunt campestria, quod tunc prata ibi herbosa, putatio arborum tolerabilior: contra aestiva montanis locis commodiora, quod ibi tum et pabulum multum, quod in campis aret, ac cultura arborum aptior, quod tum hic frigidior aer. Campester locus is melior, qui totus aequabiliter in unam partem verget, quam is qui est ad libellam aequos, quod is, cum aquae non habet delapsum, fieri solet uliginosus: eo magis, siquis est inaequabilis, eo deterior, quod fit propter lacunas aquosus. Haec atque huiusce modi tria fastigia agri ad colendum disperiliter habent momentum.​
Oder Columella?

Campus in prata et arva salictaque et arundineta digestus, aedificio subiaceat.​

Sehr gut, damit steht fest, dass im 11. Jhd. es auf jeden Fall "prima" und nicht "primo" hieß.
Die zitierte Stelle (prima Vari castra) ist nicht im Kodex aus dem 11., sondern aus dem 9. Jhdt. belegt. Abgesehen davon hätte primo keinen Sinn ergeben. Auf lato hätte es sich ja kaum beziehen können.

Man sollte nicht vergessen, dass der Text zu diesem Zeitpunkt schon 1000 Jahre lang kopiert wurde.
Das ist richtig (naja, fast). Aber wir haben a) nur zwei Textzeugnisse der Annalen, die sich nicht decken. Mit denen müssen wir arbeiten. Und wenn die Textzeugnisse inhaltlich, grammatikalisch und semnatisch sinnvoll sind, gibt es wenig daran zu deuteln, es sei denn, man hätte gute Gründe. Gute Gründe gibt es dafür etwa im zweiten Buch der Annalen, wo es im überlieferten Text heißt, dass die Angrivarier im Rücken der Römer von diesen abgefallen wären. Man kann das besser in Ampsivarier korrigieren. Die Ampsivarier kommen in den Annalen kein einziges Mal vor, aber in der Germania. An der Stelle in den Annalen ergeben die Angrivarier aber keinen Sinn, die Amspivarier schon, wohingegen die Angrivarier später im zweiten Buch der Annalen noch eine bedeutende Rolle spielen. Es ist also leicht denkbar, dass ein Kopist, der eine verderbte Stelle in seiner Vorlage hatte, weil die Angrivarier später vorkamen, die Ampsivarier zu Angrivariern "verbesserte". Hier haben wir inhaltlich einen Grund, am kopierten Text zu zweifeln. Dafür, was du uns vorschlägst, sehe ich hingegen weder inhaltliche noch semantische oder grammatikalische Gründe.

Trotzdem muss man feststellen, dass "primo ... ; dein ..." ein üblicher Ausdruck war, neben den zwei Adverben hätte man dann bei Tacitus auch zwei in der Grammatik synchrone Teilsätze. Da übergreifend primo mehr Sinn macht, im direkten Kontext nur "prima vari castra" betrachtend aber prima logischer ist, könnte das bei einem langwierigen Abschreiben oder Kopieren schon zu einem Fehler verleiten.
Ich halte prima (prima Vari castra) ja eher für ein Adjektiv als eine adverbiale Bestimmung.

Manu ist wieder so ein vieldeutiger Begriff, dass die wortwörtlichste Übersetzung nicht gewählt werden sollte, ich würde da gleich "Werk" vorschlagen.
Das ist ja nichts anderes als "der Hände Arbeit".

Wenn wir den Bereich der Interpretation betreten, kann man das wirklich so sagen? Davon ausgehend dass mit prima castra ein Marschlager gemeint ist, danach eine kümmerliche Lagerstätte der Reste, fällt auf, dass das Marschlager von Varus nicht abgebaut/zerstört wurde.
Es steht doch klar im Text. Das erste Lager des Varus war in Maßen und Einrichtungen für drei Legionen errichtet. Vollständig. Dein - dann - entdeckte man ein Lager mit halb eingerissenen Wällen und niedrigen Gräben, eben ein Lager, in dem sich ausdrücklich die Reste (reliquiae) der Legion (also kein intaktes Legionenheer mehr) überwältigt worden waren


Fehlte daher auch das Material für die Verschanzung der neuen Lagerstätte? Würde so ein Bild nicht genau dann entstehen, wenn Legionen ein Marschlager verlassen und ein neues beziehen? Die letzten Truppenteile verlassen das alte Lager, wenn die ersten schon im neuen Lager angekommen sind. Wenn dann gegen Mittag oder frühen Nachmittag die ziehenden Legionen angegriffen werden, wäre nicht genau das geschilderte zu erwarten?
Ich weiß gar nicht, woher diese Erzählung stammt, dass die ersten Truppen bereits das Lager für die nächste Nacht errichteten, während die letzten erst das Lager der vorherigen Nacht verließen. Das findet sich in den Quellen so nicht.

Ich fasse nochmal zusammen.
  • Tacitus schreibt von genau zwei Lagern: das Erste und ein schlechteres mit kümmerlichen Wällen
Er schreibt von zwei Lagern. Wie viele Lager dazwischen lagen, erfahren wir nicht. Die beiden Lager klammern eher das Geschehen ein, wenn wir Cassius Dio zugrunde legen - das hast du zwar einerseits ausgeschlossen, als du gesagt hast, dass du "nicht von Marschlager aus[gehst], das sich aus anderen Quellen ergibt, es muss sich aus dem Text des Tacitus ergeben", andererseits hälts zu dich aber selber nicht an deine Vorgabe, wenn du schreibst "Das Sommerlager von Varus lag an der Weser, von dort kam er" - denn diese Information steht nur bei Cassius Dio.


  • Prima vari castra macht daher scheinbar immer noch keinen Sinn, da es nur zwei Lager gibt
Auch bei zwei Lagern würde der Ausdruck "das erste Lager" Sinn ergeben, warum auch nicht.

  • Primo ... ; dein ist ein viel gebräuchlicheres Stilmittel, könnte scheinbar einen Fehler beim Kopieren nahe legen
Wann, wo?

  • Wegdiskutieren von prima klappt aber nicht
Eben!
  • Das erste Lager als Stand- oder Sommerlager klappt auch nicht: Campus ganz klar nicht als Exerzierplatz, Principia zwar erwähnt, aber das erste Lager besteht wohl noch teilweise nach dem Aufbruch im Gegensatz zum üblichen Rückbau, Principa auf jeden Fall noch erkennbar, von Praetorium kein Wort
Tacitus musste seinen Leser nicht erklären, wie ein Lager aussieht. Die wussten das. Er erklärt ja auch sonst nicht wie ein Lager aussieht, sondern schreibt z.B. das Lager wurde ausgemessen. Oder es wurde ein Lager errichtet.


  • Das Sommerlager von Varus lag an der Weser, von dort kam er
Das allerdings steht nur bei Cassius Dio, der 200 Jahre nach der Schlacht schrieb und ist eine andere Diskussion.
 
Der Schlüssel liegt in prima und zwar nicht darin, dass ein zweites und drittes Lager folgten (der Text gibt auch kein drittes her), sondern darin, was *vor* dem prima castra kam: keins.
Das ist eine eigenwillige Interpretation. Erinnern wir uns an die Situation, wie sie uns Tacitus schildert: Germanicus hatte mit seinem vereinten Heer das Gebiet der Brukterer zwischen Ems und Lippe verwüstet. Dann war er in der Nähe des Varusschlachtfeldes. Laut Tacitus kam ihm jetzt in den Sinn (Igitur cupido Caesarem invadit), das Varusschlachtfeld zu besuchen. Man schlägt sich also durch das unwegsame Gelände, Caecina baut Brücken und wirft Dämme für die nachrückenden Legionen auf und erreicht dann das Schlachtfeld. Da wird dann das erste und später ein weiteres Lager gefunden. Die beiden Lager (das für drei Legionen adäquate und das unvollkommene für die Reste) sind gewissermaßen die Klammer des Schlachtgeschehens. Dass Germanicus das wirklich in dieser Reihenfolge auffand, müssen wir nicht glauben. Ob dazwischen mehr Lager gefunden wurden, darüber informiert uns Tacitus dementsprechend auch nicht. Erst mit Cassius Dio ergibt sich eine viertägige Marschschlacht und wenn (Bedingungssatz!) man Cassius Dio ernst nimmt, dann darf man annehmen, dass auch die entsprechende Anzahl von Lagern bestanden hat.

Lag das "Verbrechen" des Varus darin, dass er nach dem ersten Marschtag gegen die Vorschriften kein Lager hat anlegen lassen? Es herrschte Tag-/Nachtgleiche.
Da verwechselst du etwas. Tag- und Nachtgleiche herrschte, als Germanicus sechs Jahre nach der Schlacht die Truppen wieder am Treffpunkt an der Ems getrennt, mit der Flotte die Nordsee/das Wattenmeer erreichte.

Statt 8h Marsch und 4h Lagerbau hätte man 12h für den Marsch aufwenden können und wäre viel weiter gekommen.
Daher muss die Erwähnung von prima erhebliche politische Brisanz gehabt haben.

Wenn dem so war, muss man Tacitus so auslegen:
  • Marsch aus dem Sommerlager
Wie gesagt, dafür gibt es keine Anhaltspunkte.

  • nach dem ersten Tag kein Lager, statt z.B. 30 km schafft man 45 km (ca. 4 km/h)
Unwahrscheinlich. die Legionäre mussten irgendwo schlafen - und zwar sicherlich nicht außerhalb eines Lagers! Bei Caesar (De bello Gallico V, 9) landet Caesar in Britannien, marschiert 12 Meilen, kämpft gegen die Briten und verfügt, dass die Kämpfe nicht zu lang hinausgezögert werden, um noch Zeit für den Lagerbau zu haben (et quod magna parte diei consumpta munitioni castrorum tempus relinqui volebat.)

Daraus ergibt sich dann, dass die fortfolgenden Punkte nicht passen.

Ist dieser Text denn nicht seit Generationen von Altphilologie / Latinistik / historischer Linguistik etc akribisch untersucht worden? Die Wissenschaften, die sich mit Tacitus-Texten befassen, sind keine "Raketenwissenschaft", die sich mit in rasanter Geschwindigkeit ereignenden Innovationen befasst und sich darum schnell wandelt (sodass die Erkenntnisse vom vorigen Jahrzehnt schwupps veraltet bis falsch wären) - von dieser Überlegung aus betrachtet, macht mich der Verdacht "Übersetzungsfehler" im Titel des Fadens skeptisch.
Geht mir genauso, ist aber natürlich kein Grund, sie nicht auf den Prüfstand zu stellen.
 
Geht mir genauso, ist aber natürlich kein Grund, sie nicht auf den Prüfstand zu stellen.
@El Quijote siehst du bei der Tacitusstelle, wie du sie samt Kontext in #8 zitiert hast, einen dringenden Grund, sie auf den Prüfstand zu stellen?

In Sachen Textverderbnis, Kopistenfehlern etc könnte vielleicht hier und da Bedarf bestehen, aber dass Generationen von Altphilologen speziell hier ein unbemerkter "Übersetzungsfehler" nicht aufgefallen sei... das halte ich für wenig wahrscheinlich.
 
@El Quijote siehst du bei der Tacitusstelle, wie du sie samt Kontext in #8 zitiert hast, einen dringenden Grund, sie auf den Prüfstand zu stellen?
Nein. Das war mehr theoretisch gesprochen. Du weißt ja, auf argumenta ad verecundiam reagiere ich allergisch.
Aber es gilt, was ich hier schrieb:

Aber wir haben a) nur zwei Textzeugnisse der Annalen, die sich nicht decken. Mit denen müssen wir arbeiten. Und wenn die Textzeugnisse inhaltlich, grammatikalisch und semantisch sinnvoll sind, gibt es wenig daran zu deuteln, es sei denn, man hätte gute Gründe.
Die guten Gründe fehlen mir noch, da kein inhaltlich überzeugendes Argument für eine andere Lesung vorgebracht wurde und grammatikalisch und semantisch Tacitus Vertreter der silbernen Latinität par excellence ist. Das ist er nicht von ungefähr.

Ein Bsp., wo Tacitus vielleicht falsch kopiert wurde (oder selber aus den Akten, Aufidius oder Plinius falsch abgeschrieben hat), ist der Aufstand der Angrivarier, der mutmaßlich ein Aufstand der Ampsivarier war.
 
Ist dieser Text denn nicht seit Generationen von Altphilologie / Latinistik / historischer Linguistik etc akribisch untersucht worden? Die Wissenschaften, die sich mit Tacitus-Texten befassen, sind keine "Raketenwissenschaft", die sich mit in rasanter Geschwindigkeit ereignenden Innovationen befasst und sich darum schnell wandelt (sodass die Erkenntnisse vom vorigen Jahrzehnt schwupps veraltet bis falsch wären) - von dieser Überlegung aus betrachtet, macht mich der Verdacht "Übersetzungsfehler" im Titel des Fadens skeptisch.

(nur nebenbei: wir hatten im GF vor Jahren eine langwierige Diskussion, in welcher Fantasiedeutungen des Begriffs "saltus" vorkamen, die sich erwartungsgemäß nicht gegen das durchsetzen konnten, was die Altphilologie zu "saltus" ermittelt hat)
Es sei denn, es hätte einen vorherigen Kopierfehler gegeben. Denn die Linguistik geht erstmal davon aus, dass das was man aus dem 9. oder 11. Jahrhundert vorfindet auch so richtig ist.

Es gibt ja Befürworter der Lagerschlachttheorie, die "prima" als Adverb mit "zunächst" übersetzen möchten mit der gleichen Bedeutung wie "primo". Der Grund dafür ist, dass damit "prima" als erstes Lager beseitigt wäre, weil es ja der Lagerschlachttheorie im Weg steht.

Die Befürworter dieser Theorie haben m.E. aber zwei Punkte: "prima" ist das Wort, das den Tacitus-Text ganz klar der der Lagerschlachttheorie entgegenstehen lässt, ihnen bleibt sonst nur Florus, Zweiter Punkt: es ist seltsam, da "primo" als Adverb häufig in Verbindung mit dem Adverb "dein" gebraucht wird, "zunöchst"/"dann".

Wenn man also die Lagerschlachttheorie mit Tacitus in Einklang bringen möchte, dann ginge das nur, wenn es bei Tacitus tatsächlich "primo" als Adverb heißt, "prima" ist ganz klar kein Adverb sondern muss als "erstes Lager" übersetzt werden, was mit der Lagerschlachttheorie im Sommerlager unvereinbar ist.
"Primo" kann es aber nur heißen, wenn es in den knapp 1000 Jahren des Kopierens und Abschreibens zu einem Fehler gekommen ist. In der Handschrift Florenz sind a und o z.B. so ähnlich, dass sie bis auf den beim a hinzugefügten Punkt identisch sind.

@El Quijote hat ja dann dankenswerter Weise darauf hingewiesen, dass die besagte Stelle aus dem Kodex aus dem 9. Jahrhundert stammt und diese Verwechselung von a und o in der dort verwendeten Handschrift nicht möglich ist.

Daher sollte der Titel des Themas jetzt auch geändert werden, "Möglicher Übersetzungs-/Kopierfehler bei Tacitus? Widerlegt"

Ganz generell gesagt veralten Übersetzungen immer, da sich verschiedene Sprachen nicht 1:1 übersetzen lassen und immer Interpretationen des Übersetzers beinhalten. In der Literatur sagt man, dass alle 50 - 100 Jahre Übersetzungen überholt sind und eine neue fällig ist. Bei historischen Texten mag das etwas anders sein, aber auch da wissen wir heute durch die Archäologie wesentlich mehr als vor 50 Jahren. Da gab es Kalkriese z.B. noch gar nicht.
 
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