Unrechtsbewußtsein und Gewissen im Mittelalter

jschmidt

Aktives Mitglied
Ich lese so vor mich hin und sehe dieses:

@Geisteshaltung:
Biologisch mögen wir die gleichen Menschen sein, und ich bin auch geneigt zuzugeben, daß wir nach wie vor sehr grausam sein können o. dgl., dennoch aber trennen selbst den katholischen Christen von heute (er steht ja immerhin vergleichsweise direkt in der religiösen Tradition) Welten vom mittelalterlichen Menschen. Warum das so ist? Nun; ein wichtiger Ansatzpunkt dazu ist, daß unsere Gedankenwelt recht nachhaltig vom (Neo-)Humanismus und von der Auklärung geprägt ist.
Nur einige Kurzbeispiele dazu...
1. Heutzutage folgt man gern einem Aufruf o.ä., um Geld für arme Menschen oder für Menschen auf einem anderen Erdteil zu spenden. Das wäre im europäischen Mittelalter niemandem in den Sinn gekommen!
2. Heutzutage diskutieren wir - von nationalistisch verbohrten u.ä. Extremisten einmal abgesehen - interkonfessionell, interreligiös und interkulturell. Im europäischen Mittelalter wußte jede(r), daß nur die christliche Religion die Wahrheit in sich hatte und alle anderen Ungläubige waren, welche die göttliche Weltordnung gefährden konnten.
3. Daran anknüpfend: Wenn der Unglaube bzw. die Ungläubigen die göttliche Weltordnung wirklich gefährdeten, so war es ein Werk des Glaubens, gegen sie zu kämpfen und sie sogar zu töten (man sollte natürlich grundsätzlich als Christ gar keinen Menschen töten, doch wenn gläubige Christen unter der Herrschaft Ungläubiger litten, so war es besser, ihnen zu helfen als dem tatenlos zuzusehen). So etwas heute zu verfolgen, stieße auf breite Kritik und würde erheblichen (pazifistischen wie übrigens auch kirchlichen) Gegenwind verursachen - und das zu Recht!
4. Ebenso finden wir es heute auch nicht in Ordnung, wenn Menschen von ihrem Grund und Land vertrieben werden u. dgl. Auch das sah der mittelalterliche Mensch ganz anders: Für das, was rechtens war, war nur wichtig, ob man seinen Gott auf seiner Seite hatte; und das Land, was einem Gott schenkte (indem er einen selbst z.B. den Kampf gewinnen und überleben ließ), gehörte einem zu Recht.
5. Daraus ist der wichtigste Punkt abzuleiten: der mittelalterliche Mensch kannte i.d.S. kein Unrechtsbewußtsein (Gründe siehe 2. bis 4.), Menschen der Neuzeit jedoch schon - und wir erst recht!

Es werden hier Aussagen über "den" bzw. "jeden" Menschen im mittelalterlichen Europa gemacht, die ich in ihrer Allgemeinheit und Absolutheit so nicht recht "fassen" kann. Aber vielleicht lässt sich das ja klären.

Zur Begrifflichkeit: Unrechtsbewusstsein ist, juristisch gesehen, ein Schuldkriterium, d. h.
1. Ist ein Täter nicht in der Lage, die Unrechtmäßigkeit seines Tuns zu erkennen, handelt er ohne Schuld.
2. Voraussetzung ist, daß er die Unrechtmäßigkeit seines Handelns nicht hat erkennen können.
3. Hätte der Täter den Irrtum vermeiden können, kommt eine Strafmilderung in Betracht.

Vorab ein Zugeständnis: "Es ist schwer, ein Unrechtsbewusstsein zu entwickeln", erklärte SS-Rottenführer Percy Broad, einer der Hauptangeklagten im ersten Ausschwitz-Prozess.

Wie schwer müssen es denn erst die Leute im Mittelalter gehabt haben! Woran hätten sie erkennen können, ob sie Unrecht tun oder nicht. An den Zehn Geboten? An der Bergpredigt und anderen? An Gesetzesbüchern wie dem Sachsenspiegel? Wenn nein, warum nicht?

Vielleicht lag ja der Fall vor, den einer der Verteidiger im erwähnten Prozeß so beschrieben hat: Es könne sich bei den Tätern um Menschen gehandelt haben, "bei denen das Unrechtsbewußtsein aus ideologischen Gründen suspendiert, also ausgeschaltet worden sei."

Wenn ja - wer waren damals die "Ideologen"? Und was ist mit deren Unrechtsbewußtsein und deren Schuld? Ist am Ende gar keiner schuld?

Ich finde, das ist Diskussionsstoff für mehreren Minuten, wenn nicht sogar mehr.
 
Die formaljuristische Sichtweise greift aus meiner Sicht zu kurz und der Schutzbehauptung des Nazis ist zu widersprechen. Umgekehrt wird ein Schuh draus.
Bspw. waren so unterschiedliche Leute wie Konrad Lorenz und Erich Fromm der Meinung, dass es eine angeborene Tötungshemmung gibt.
Anatomie der menschlichen Destruktivität – Wikipedia
Dieses Unrechtsbewusstsein muss Kriegsdienstpflichtigen und den Nazimördern erst genommen werden. Himmler war sich dessen, wie seine Rede vom Oktober 1943 zeigt, durchaus bewusst.
Und zugesehen, es durchgestanden hat keiner. Von Euch werden die meisten wissen, was es heisst, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Und dies durchgehalten zu haben, und dabei -- abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen -- anständig geblieben zu sein, hat uns hart gemacht und ist ein niemals genanntes und niemals zu nennendes Ruhmesblatt.
 
Der Mensch entwickelt m. E. erst ein ausgeprägtes Bewusstsein für Unrecht, wenn es ihm selbst zugefügt wird, als leidendem, gequältem Menschen. Die Verursacher sind größtenteils in entsprechenden gesellschaftlichen und sozialen Machtstrukturen verhaftet, die es ihnen erlauben, ein gewisses Unrechtsbewusstsein außen vor zu lassen. So gesehen, sind wir - angesichts unserer weltweiten Finanz- und Wirtschatskrise - vom angeblichen fehlenden Unrechtsbewusstsein des Mittelalters nicht weit entfernt. Haben wir ein Wort des Bedauerns aus den Kreisen der Verursacher gehört, eine Geste der Scham gesehen?
Mit dem erlittenen Unrecht hat der Mensch 2 Möglichkeiten:a) Er zahlt mit gleicher Münze zurück, vielleicht in Form einer Revolution, oder b) er entwickelt die Fähigkeit zum Mitleiden und Unrecht dort zu erkennen, wo es geschieht und hilft Leiden zu verhindern oder zu lindern.
Abgesehen von der herrschenden Gesellschaftsschicht fehlte es dem mittelalterlichen Durchschnittsmenschen an Bildung und damit Wissen und vor allem an Kommunikation außerhalb seines direkten Lebensraumes. Er litt dumpf vor sich hin und nahm sein Geschick als vermeintliche göttliche Ordnung hin. Erst wenn der Leidensdruck auch eine höhere Gesellschaftsschicht erreichte (und das ist auch noch heute so), konnte etwas geändert werden - also von oben nach unten. (Das war auch der Grund warum Luthers "Von der Freiheit eines Christenmenschen" zu seinem eigenen Schrecken sich so explosionsartig auswirkte und in den Bauerkriegen entlud).

Deshalb merke: Je höher der soziale Stand - oder je dicker der Geldbeutel - um so geringer das Unrechtsbewusstsein, damals wie heute (nur dass es sich heute in etwas anderer Form äußert).

Bei den Nazis verhält es sich etwas anders. Nicht nur das neue Massen- Medium der Nachrichtenverbreitung, das Radio, wurde exzessiv für Fehlinformation und Hetze verwandt, für die Tötungsmaschinerie, auch aus den Reihen der SS, sorgsam nur die Menschen ausgesucht, bei denen man ein vermindertes Unrechtsbewusstsein festgestellt hatte, neben der schriftlichen Verbreitung einer hanebüchenen Pseudophilosphie der "Rassenvermischung". (Ich konnte meinem Vater erst als Erwachsene erklären, dass es nicht um eine "Vermischung von Tigern und Pantern geht, die fehlschlagen muss", sondern dass wir alle Tiger sind, die sich zum Menschsein entscheiden müssen).

:sorry: für meine unwissenschaftliche Ausdrucksweise, bin eben nicht vom Fach.

Gruß Ri
 
Deshalb merke: Je höher der soziale Stand - oder je dicker der Geldbeutel - um so geringer das Unrechtsbewusstsein, damals wie heute (nur dass es sich heute in etwas anderer Form äußert).

Was zu beweisen wäre.

für die Tötungsmaschinerie, auch aus den Reihen der SS, sorgsam nur die Menschen ausgesucht, bei denen man ein vermindertes Unrechtsbewusstsein festgestellt hatte,

Das ist Unsinn und spiegelt nur alte Entschuldungsversuche wider bzw. Versuche sich von den Tätern nach dem Motto "mir könnte das nicht passieren" zu distanzieren. Zum Forschungsstand:
Christopher R. Browning: Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland, auch als Übersetzung: Ganz normale Männer: Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die "Endlösung" in Polen und dadurch inspiriert das Buch des Essener Sozialpsychologen Harald Welzer: Täter: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden.
 
Bspw. waren so unterschiedliche Leute wie Konrad Lorenz und Erich Fromm der Meinung, dass es eine angeborene Tötungshemmung gibt. ... Dieses Unrechtsbewusstsein muss Kriegsdienstpflichtigen und den Nazimördern erst genommen werden.
Im Sinne meiner Themenstellung paraphrasiere ich - siehe #1 - den letzten Satz: "Dieses Unrechtsbewusstsein muss dem mittelalterlichen Menschen erst genommen werden."

Abgesehen von der herrschenden Gesellschaftsschicht fehlte es dem mittelalterlichen Durchschnittsmenschen an Bildung und damit Wissen und vor allem an Kommunikation außerhalb seines direkten Lebensraumes. Er litt dumpf vor sich hin und nahm sein Geschick als vermeintliche göttliche Ordnung hin.
Was zur Erkenntnis führen könnte, dass das Mittelalter eben doch das "dunkle" Zeitalter war. Denn was lässt sich Dunkleres denken als eine Epoche, in der es kein Unrechtsbewusstsein - und/oder: kein Gewissen? - gibt!

...aus den Reihen der SS, sorgsam nur die Menschen ausgesucht, bei denen man ein vermindertes Unrechtsbewusstsein festgestellt hatte...
Ich will - im Gegensatz zu ElQ - nicht ausschließen, dass das tatsächlich ein Auswahlkriterium war, wie immer man es definieren könnte.

Aber mein Interesse gilt hier, auch beim Mittelalter, weniger einer "kriminellen Elite/Mörderbande", sondern dem Durchschnittsmenschen, und in Bezug auf diesen hat ElQ völlig recht!
 
Es werden hier Aussagen über "den" bzw. "jeden" Menschen im mittelalterlichen Europa gemacht, die ich in ihrer Allgemeinheit und Absolutheit so nicht recht "fassen" kann. Aber vielleicht lässt sich das ja klären.

Zur Begrifflichkeit: Unrechtsbewusstsein ist, juristisch gesehen, ein Schuldkriterium, d. h.
1. Ist ein Täter nicht in der Lage, die Unrechtmäßigkeit seines Tuns zu erkennen, handelt er ohne Schuld.
2. Voraussetzung ist, daß er die Unrechtmäßigkeit seines Handelns nicht hat erkennen können.
3. Hätte der Täter den Irrtum vermeiden können, kommt eine Strafmilderung in Betracht.

In Timotheus Beitrag im Ursprungsthread ging es doch um die Kreuzzüge, oder?
Wenn wir die Frage nach dem Unrechtsbewußtsein auf alle im Mittelalter lebenden Menschen ausdehnen, geht das mE nur über die 10 Gebote. In dieser Zeit hatte der christliche Glauben neben dem religiösen Aspekt auch eine ordnungsgebende Aufgabe. Die gewöhnlichen Menschen lebten in Dörfern und Städten um ein Zentrum mit Kirche/Kloster und Pfarrer und daneben manchmal noch einem weltlichen Grundherrn. Für diese kleine Welt war die Einhaltung der 10 Gebote ausreichend und das Unrechtsbewusstein bei Nichteinhaltung bestimmt vorhanden. Neben der weltlichen Strafe als Sühne bei Diebstahl, Mord, Verleumdung bestand mit Reue, Beichte, Vergebung (Ablass) die religiöse Bewältigung von Sünden.

Vorab ein Zugeständnis: "Es ist schwer, ein Unrechtsbewusstsein zu entwickeln", erklärte SS-Rottenführer Percy Broad, einer der Hauptangeklagten im ersten Ausschwitz-Prozess.

Wie schwer müssen es denn erst die Leute im Mittelalter gehabt haben! Woran hätten sie erkennen können, ob sie Unrecht tun oder nicht. An den Zehn Geboten? An der Bergpredigt und anderen? An Gesetzesbüchern wie dem Sachsenspiegel? Wenn nein, warum nicht?

Vielleicht lag ja der Fall vor, den einer der Verteidiger im erwähnten Prozeß so beschrieben hat: Es könne sich bei den Tätern um Menschen gehandelt haben, "bei denen das Unrechtsbewußtsein aus ideologischen Gründen suspendiert, also ausgeschaltet worden sei."

Wenn ja - wer waren damals die "Ideologen"? Und was ist mit deren Unrechtsbewußtsein und deren Schuld? Ist am Ende gar keiner schuld?

Ich finde, das ist Diskussionsstoff für mehreren Minuten, wenn nicht sogar mehr.

Ich finde es schwierig, eine religiös geprägte Zeit wie das Mittelalter mit dem 3. Reich zu vergleichen.
Daraus ergibt sich für mich dann die sehr große Frage nach den universal gültigen Werte und Normen und ob diese dem Menschen irgendwie doch angeboren sind oder ob es eine allgemein menschliche Kultur über alle Zeiten gäbe.
 
El Quijote: Was zu beweisen wäre.

Ri: Womit wird das meiste Geld verdient: Mit Rauschgift-, Menschen- und Waffenhandel!
Die es im großen Stil tun, haben eine "weiße Weste". Deutschland ist z. B. im Waffenhandel die drittstärkste Macht! Hier werden die Pleitebanken unterstützt, Arbeitslose beschimpft und Gelder für Bildung und Wissenschaft immer wieder gekürzt. Zeugt das nicht eindeutig von mangelndem Unrechtsbewusstsein?


El Quijote: Das ist Unsinn und spiegelt nur alte Entschuldungsversuche wider bzw. Versuche sich von den Tätern nach dem Motto "mir könnte das nicht passieren" zu distanzieren. Zum Forschungsstand:
Christopher R. Browning: Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland, auch als Übersetzung: Ganz normale Männer: Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die "Endlösung" in Polen und dadurch inspiriert das Buch des Essener Sozialpsychologen Harald Welzer: Täter: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden.

Ri: Das Wort "Unsinn" überlese ich. Du vergisst - ich habe die Welt länger gesehen als Du und bin doppelt so alt. Ich weiß, was ich in den Jahren 1948/49 gehört habe, wenn mein in den Newa-Sümpfen vor Leningrad kriegsversehrter Vater sich mit ehemaligen "Kriegskameraden" im Flüsterton unterhielt und geglaubt hat, ich verstünde nicht, worum es ging. Man unterhielt sich über diesen und jenen Bekannten, von denen einige nicht besonders gut mit ihren Familien umgegangen waren und eigenlich in ein Arbeitslager sollten, und man wunderte sich, wieso diese als Aufseher im KZ gelandet waren. Da traue ich meinen eigenen Ohren doch eher - bei aller Wertschätzung - als den Erhebungen eines Herrn Browning. Hatte er die Informationen von Dritten, von den Nazimördern direkt oder aus deren Familie? Was oder wer ist als "normaler" Mensch zu betrachten. Ich glaube nicht, dass man aus dem Umfeld der Betroffenen dem Recherchierenden die Wahrheit erzählt hat, allein um eventuelle Kinder zu schützen. Auch bei Amokläufern wird zuerst behauptet, sie seien "unauffällig" gewesen, bis man feststellt, dass sie entweder immer schon als "Waffennarren" oder anders auffällig waren. Es wäre ein blauäugig, das Prinzip der Nazi-Tötungsmaschinerie bei der Selektion des entsprechenden KZ-Personals zu unterschätzen.
Es ist also ein bisschen übertrieben, mir ein altes Muster "des Entschuldungsversuchs" zu unterstellen.

Gruß Ri :grübel:
 
Daraus ergibt sich für mich dann die sehr große Frage nach den universal gültigen Werte und Normen und ob diese dem Menschen irgendwie doch angeboren sind oder ob es eine allgemein menschliche Kultur über alle Zeiten gäbe.
Genau so ist es! :friends:

Es ist also ein bisschen übertrieben, mir ein altes Muster "des Entschuldungsversuchs" zu unterstellen.
Das ist ein Missverständnis, Richildis - ElQ unterstellt Dir nichts dergleichen!
 
Ri: Das Wort "Unsinn" überlese ich. Du vergisst - ich habe die Welt länger gesehen als Du und bin doppelt so alt.

Was kein Argument ist.

Ich weiß, was ich in den Jahren 1948/49 gehört habe, wenn mein in den Newa-Sümpfen vor Leningrad kriegsversehrter Vater sich mit ehemaligen "Kriegskameraden" im Flüsterton unterhielt und geglaubt hat, ich verstünde nicht, worum es ging. Man unterhielt sich über diesen und jenen Bekannten, von denen einige nicht besonders gut mit ihren Familien umgegangen waren und eigenlich in ein Arbeitslager sollten, und man wunderte sich, wieso diese als Aufseher im KZ gelandet waren. Da traue ich meinen eigenen Ohren doch eher

Das waren eben damals die gängigen Thesen. Sie hatten juristisch wie psychologisch ihren Zweck. Wie hätte denn der Wiederaufbau funktionieren sollen, mit der Grundannahme, dass der eigentlich grundanständige Nachbar ein Massenmörder sein könnte?
Es steht natürlich außer Zweifel, dass Leute mit gewissen Neigungen diese dann auch auslebten. Das sind die Leute, auf die man mit dem Finger zeigen konnte. Leute die Babys mit den Köpfen an die Wand klatschten oder einer Schwangeren in den Bauch traten. So sehen wir die Nazi-Mörder, die wir natürlich auch gerne auf die SS reduzieren, am liebsten, ein klares, aber unproblematisches Bild von einem sadistischen Mörder. Das war aber eben nicht der Fall. Mit solchen Leute und ihren sadistischen Eskapaden bringt man nicht 6 Millionen Menschen um. Dafür braucht man Leute, die ihre "Pflicht" erfüllen, aben auch dann, wenn sie diese nur widerstrebend erfüllen, weil sie meinen, einer müsse ja dir Drecksarbeit machen. Von dem Polizeireservebataillon 101 aus Hamburg wissen wir z.B. dass darin keine überzeugten Nazis waren. Vielmehr waren darin Leute, die dachten, wenn sie sich zur Ordnungspolizei meldeten, dass sie Kriegsdienst an der Heimatfront machen könnten und eben nicht in die Kriegsgebiete mussten. Dummerweise ist aber dieses Polizeibataillon die erste Einheit, die systematisch mordete.
Und genau das Wissen, darum, dass es ganz normale Männer waren, die mordeten, ist, was für uns heute daran noch wichtig ist. Daraus können wir nämlich ableiten, dass es eben nicht eine natürliche Dispostion zum Massenmord gibt, sondern dass man beinahe jeden dazu bringen kann zum Massenmörder zu werden, solange man es schafft, einen Sinn zu vermitteln. Nur das Durchschauen solcher Mechanismen kann letztlich ähnliche Verbrechen verhindern.


Hatte er die Informationen von Dritten, von den Nazimördern direkt oder aus deren Familie? Was oder wer ist als "normaler" Mensch zu betrachten.
Er hat sich die einzelnen Leute des PRB 101 ganz genau angeschaut, Dokumente, Tagebücher und Zeitzeugenaussagen ausgewertet.


Es ist also ein bisschen übertrieben, mir ein altes Muster "des Entschuldungsversuchs" zu unterstellen.

Das ist ein Missverständnis, Richildis - ElQ unterstellt Dir nichts dergleichen!

Richtig.
 
Nur eine kurze Anmerkung noch dazu von meiner Seite, da mir hier Verallgemeinerungen und Verabsolutierungen unterstellt werden, die ich so überhaupt nicht getroffen habe...

Es werden hier Aussagen über "den" bzw. "jeden" Menschen im mittelalterlichen Europa gemacht, die ich in ihrer Allgemeinheit und Absolutheit so nicht recht "fassen" kann. Aber vielleicht lässt sich das ja klären.

Zur Begrifflichkeit: Unrechtsbewusstsein ist, juristisch gesehen, ein Schuldkriterium, d. h.
1. Ist ein Täter nicht in der Lage, die Unrechtmäßigkeit seines Tuns zu erkennen, handelt er ohne Schuld.
2. Voraussetzung ist, daß er die Unrechtmäßigkeit seines Handelns nicht hat erkennen können.
3. Hätte der Täter den Irrtum vermeiden können, kommt eine Strafmilderung in Betracht.

Ich wiederhole mich einmal - und nur dieses eine Mal: da der Mensch des Mittelalters sich einigermaßen sicher sein konnte, seinen Gott auf seiner Seite zu haben, konnte er natürlich eine evt. Unrechtmäßigkeit seines Tuns und Handelns - die wir noch dazu erst aus neuzeitlicher Sicht als unrechtsmäßig charakterisieren können - eben nicht erkennen.

Was die Parallelen zum 3. Reich betrifft, weiß ich nicht recht, was ich damit anfangen soll, denn da kann ich mich des Eindrucks nicht ganz erwehren, daß meinen getroffenen Aussagen hier Intentionen beigemengt werden sollen, die ich nicht verfolgt habe.
Deshalb dazu nur soviel: Im 20. Jh. konnte jede(r) auf das Repertoir von Humanismus und Aufklärung zurückgreifen, wußte um das Nebeneinander konkurrierender Weltanschauungen u.ä. etc.; vor diesem Hintergrund mußte offenbar sein, daß die Vorgänge im Dritten Reich sowie im Vernichtungskrieg nichts anderes als Verbrechen waren.

In diesem Sinne :winke:
 
Ein sehr schwieriges aber wichtiges Thema.
Was veranlaßt einen Menschen gegen sein Gewissen zu handeln?
El Q. nennt in seinem Beitrag den Konflikt zwischen dem Wert Pflichterfüllung und dem Fast-Universal-Wert "Du sollst nicht töten" als Begründung, dass im 3. Reich Jeder gefährdet war gegen sein Gewissen zu handeln.
Wenn im Kreuzzug der Krieg gegen Ungläubige und Befreiung der heiligen Stätten ein positiver Wert war, dann mussten immer noch die "Ungläubigen" zu Nichtmitmenschen erklärt werden, um das Tötungsverbot zu neutralisieren.
Oder reichte die Übernahme des heiligen Grabes, um einen Angriff und damit Kriegseröffnung zu definieren? Im Verteidigungsfall ist das Tötungsverbot ja universal unwirksam.
 
Wenn im Kreuzzug der Krieg gegen Ungläubige und Befreiung der heiligen Stätten ein positiver Wert war, dann mussten immer noch die "Ungläubigen" zu Nichtmitmenschen erklärt werden, um das Tötungsverbot zu neutralisieren.
Oder reichte die Übernahme des heiligen Grabes, um einen Angriff und damit Kriegseröffnung zu definieren? Im Verteidigungsfall ist das Tötungsverbot ja universal unwirksam.

Nicht "Nichtmensch", sondern einfach nur "ungläubig" und damit "nicht im Besitz der Wahrheit und des Rechts". Und ehe ich es nochmals in einer Betragswiederholung schreibe: http://www.geschichtsforum.de/483549-post4.html

Bitte nehmt es mir nicht übel, liebe Leute, aber wenn Ihr in einem Kontext unsicher seid, dann lest doch die entsprechenden Zeitgenossen - hier bietet sich das Palästinalied von Walther von der Vogelweide an (Text befindet sich übrigens in einem hiesigen Forumsthread namens "Gedichte zur Geschichte").

So - jetzt lasse ich Euch aber wirklich diese Diskussion unter Euch führen... :winke:
 
Nicht "Nichtmensch", sondern einfach nur "ungläubig" und damit "nicht im Besitz der Wahrheit und des Rechts". Und ehe ich es nochmals in einer Betragswiederholung schreibe: http://www.geschichtsforum.de/483549-post4.html

Durchaus verständlich, wenn du als Mittelalterspezialist nicht mit Anfängern diskutieren willst.
Ich möchte nur richtigstellen, dass ich Nichtmitmensch geschrieben habe und nicht "Nichtmensch", was für mich ein wesentlicher Unterschied ist.
 
Durchaus verständlich, wenn du als Mittelalterspezialist nicht mit Anfängern diskutieren willst.

Ich bin weder Mittelalterspezialist noch würde ich andere als Anfänger bezeichnen o.ä. :fs:

Ich möchte nur richtigstellen, dass ich Nichtmitmensch geschrieben habe und nicht "Nichtmensch", was für mich ein wesentlicher Unterschied ist.

Dann hatte ich das überinterpretiert, wofür ich mich im konkreten Fall entschuldige.
Anm.: Es ändert dennoch aber nichts daran, daß mittelalterliche Christen die Sache der Christen stets als rechtmäßig betrachteten und daher - Achtung: Sichtweise der Zeit - wußten, daß die "Ungläubigen" logischerweise im Unrecht waren. Mitmensch hin oder her...

So - das war jetzt aber wirklich mein letzter Beitrag... :winke:
 
Anm.: Es ändert dennoch aber nichts daran, daß mittelalterliche Christen die Sache der Christen stets als rechtmäßig betrachteten und daher - Achtung: Sichtweise der Zeit - wußten, daß die "Ungläubigen" logischerweise im Unrecht waren. Mitmensch hin oder her...
Und daraus lässt sich auch das Verhalten in Jerusalem zum Teil erklären. Im Gegensatz zum Islam, der den Mitgliedern der anderen Buchreligionen gegenüber eine relative Toleranz (s. Kopfsteuer) übte, verhielten sich Christen doch zum Teil ausgesprochen brutal gegenüber den anderen Mitgliedern der Buchreligionen. So wurden Juden in der Synagoge verbrannt. Felsendom und Al Aqsa wurden zwar nicht zerstört, Muslime aber gemordet.

Gar nicht erklären kann ich mir das Verhalten beim 4. Kreuzzug den Christen in Konstantinopel gegenüber. Da ist der Machtfaktor nicht mehr zu übersehen und religiös ist das Plündern und Rauben auch nicht zu rechtfertigen...
 
Anm.: Es ändert dennoch aber nichts daran, daß mittelalterliche Christen die Sache der Christen stets als rechtmäßig betrachteten und daher - Achtung: Sichtweise der Zeit - wußten, daß die "Ungläubigen" logischerweise im Unrecht waren. Mitmensch hin oder her...
Nicht weil ich die Diskussion in die Neuzeit ziehen will, sondern um zu zeigen, dass die ethischen Grundsätze und ihre Aushebelungen im "finsteren" Mittelalter nicht so viel anders waren als in der Neuzeit:
Noch im 1. Weltkrieg hatten deutsche Soldaten "Gott mit uns", und damit sie es nicht vergaßen, hatten sie es auf ihrem Koppelschloss stehen.
 
Darf ich darum bitten, mein Anliegen zu respektieren, daß ich hier nicht mehr vorhabe mitzudiskutieren? Vielen Dank.

Und daraus lässt sich auch das Verhalten in Jerusalem zum Teil erklären. Im Gegensatz zum Islam, der den Mitgliedern der anderen Buchreligionen gegenüber eine relative Toleranz (s. Kopfsteuer) übte, verhielten sich Christen doch zum Teil ausgesprochen brutal gegenüber den anderen Mitgliedern der Buchreligionen. So wurden Juden in der Synagoge verbrannt. Felsendom und Al Aqsa wurden zwar nicht zerstört, Muslime aber gemordet.

Nein; das erklärt sich anders: hier schlugen schlicht die Auszehrungen udn Entbehrungen während des Zuges in pure Gewalttätigkeit um. Daß man sich in Jerusalem so aufführte - über das eigentliche Ziel des Gewinns der Stadt hinausgehend -, lag einfach daran, daß Menschen eben Menschen sind und keine Götter o. dgl. ...

Anm.: Im Übrigen war es mit der Toleranz der Muslime im Vorfeld des 1. Kreuzzuges - also während des 11. Jh. - auch nicht mehr so weit her. Im Gegenteil: das 11. Jh. stellte für Palästina eine Periode der Intoleranz dar, und das zunächst unter den Fatimiden, danach jedoch noch stärker unter den Seldschuken. Die Grabeskirche wurde zerstört - und daneben noch einige andere christliche Sakralbauten -, Prozessionen der Christen u.ä. wurden verboten, es gab gewalttätige Übergriffe auf christliche Pilger durch die Muslime etc. ...

Gar nicht erklären kann ich mir das Verhalten beim 4. Kreuzzug den Christen in Konstantinopel gegenüber. Da ist der Machtfaktor nicht mehr zu übersehen und religiös ist das Plündern und Rauben auch nicht zu rechtfertigen...

Auch hier wiederhole ich frühere Beiträge: dieser Zug sollte gegen Ägypten gehen und wurde von Venedig aus eigenen Interessen umgeleitet. Daraufhin - also daß bereits mit Zara/Zadar eine christliche Stadt für Venedig zurückgewonnen werden sollte - spaltete sich einerseits das Heer der Kreuzfahrer (ein Teil zog nämlich nicht gegen Konstantinopel, weil man nicht gegen Christen kämpfte), andererseits bannte der Papst persönlich diejenigen, welche gegen Byzanz zogen, weil sie ihrem Kreuzzugsgelübde untreu geworden waren - auch wenn er dies später wieder zurücknahm.
 
@ timotheus
Dass ich als kleines Licht hier an deinen Beitrag angeknüpft habe, sollte keineswegs Ausdruck mangelnden Respekts dir gegenüber sein. Ich war schlichtweg der Meinung, dass eine/n der anderen Mitdiskutanten meine Meinung interessieren könnte.:respekt:
 
Erklären sich die Plünderungen von Worms und Speyer auch damit, dass die Kreuzzügler durch Entbehrungen ausgezehrt waren?

Ging es wirklich nur um das Gewinnen der Stadt Jerusalem?

Ich möchte bestimmt keine einseitige Sicht forcieren.
Aber so ganz ohne Eigennutz und nur um der religiösen Sache willen wurde bestimmt nicht gehandelt.
 
Erklären sich die Plünderungen von Worms und Speyer auch damit, dass die Kreuzzügler durch Entbehrungen ausgezehrt waren?

An Worms und Speyer hatte ich auch gedacht, Hulda. Ich meine mich zu erinnern, dass es dort eben nicht die christlichen Nachbarn waren, die die jüdischen Häuser stürmten, sondern fremde Christen aus Frankreich und anderen Städten auf dem Durchzug ins heilige Land.
 
Zurück
Oben