Unterhaltungsliteratur angesiedelt im ausgehenden Mittelalter

Ich habe ihn gelesen, und er hat mir recht gut gefallen. Ich fand ihn ansprechend geschrieben und mitreißend erzählt, wenngleich nicht ganz faktengetreu.
Aber man muss sich schon darüber im Klaren sein, was einen erwartet. Er ist eindeutig ein Produkt seiner Zeit, sprachlich-stilistisch und mit viel "völkischer" Denkweise, aber dafür natürlich ohne die Sexszenen, auf die viele heutige "Historien"-Romane nicht verzichten zu können meinen. Viel heutige Leser würden ihn wohl als "altbacken" empfinden, andere (wie ich) nicht. Wenn man also mit einer heute verpönten "nationalen" Herangehensweise klar kommt und etwa die Romane Dahns oder Schreckenbachs mag, kann man bedenkenlos loslesen, ansonsten lieber nicht.
 
Ich habe ihn gelesen, und er hat mir recht gut gefallen. Ich fand ihn ansprechend geschrieben und mitreißend erzählt, wenngleich nicht ganz faktengetreu.
Aber man muss sich schon darüber im Klaren sein, was einen erwartet. Er ist eindeutig ein Produkt seiner Zeit, sprachlich-stilistisch und mit viel "völkischer" Denkweise, aber dafür natürlich ohne die Sexszenen, auf die viele heutige "Historien"-Romane nicht verzichten zu können meinen. Viel heutige Leser würden ihn wohl als "altbacken" empfinden, andere (wie ich) nicht. Wenn man also mit einer heute verpönten "nationalen" Herangehensweise klar kommt und etwa die Romane Dahns oder Schreckenbachs mag, kann man bedenkenlos loslesen, ansonsten lieber nicht.

Hmm, ja, national finde ich nicht so toll. Vielleicht kann ich aber drüber hinwegsehen oder mich drüber amüsieren. Wenn er wirklich so mitreißend ist...
Hab bisher erst einen Roman wegen altbackender Sprache weggelegt (es ging um Pompeij) und das ist lange her. Heute würde es mir vielleicht sogar gefallen. Schafft eine ganz andere Atmosphäre. Bei Röde Orm ist das gut gemacht.
 
@PostmodernAtheist
Wie gesagt, für empfehlenswert halte ich den Roman durchaus. Was die zeitgemäßen nationalistischen Untertöne angeht, da halte ich Sienkiewicz 'Kreuzritter' für schlimmer, was zugegeben keine Auszeichnung ist.

Wicherts Charakterisierungen der Polen sind differenzierter. Zwar wird die Mehrheit der polnischen Akteure negativ dargestellt, was man an sich für "Framing" halten könnte, wie das wohl Neudeutsch heißt; andererseits sind sie nicht nur deshalb die Bösen, weil sie Polen sind.

Wichert nahm wahrscheinlich im Quellenstudium Anleihen bei Chronisten, die König Wladyslaw Jagiellos Krieg gegen den Orden, dessen Schutzpatronin immerhin die Gottesmutter war, deshalb erschreckte, weil der Mann eigentlich Jogaila hieß, Europas letzter heidnisch geborener Fürst war und man ihn der Apostasie verdächtigte.

Hinzu kommt Wicherts Kritik an den deutschen Handelsstädten und Landadeligen, die die aus seiner Sicht nützliche Ordensherrschaft nur deshalb verraten und den Krieg in ihr eigenes Land tragen, um sich Handelsvorteile und Privilegien zu verschaffen. Diese Darstellung ist teilweise historisch.

Witzigerweise konterkariert sie teils vorhandene nationalistische Untertöne. Eben weil der Gedanke der Nation erst im Entstehen war, hatten Adel und Kaufherren weniger Skrupel, ihren Herrscher zu wechseln.

Welche Sprache er sprach, war weniger wichtig; Hauptsache, er war Christ und garantierte ihnen die Rechte, die sein Vorgänger bedrohte. Man stelle sich vor, Rheinland-Pfalz würde sich mit Luxemburg vereinigen, weil dort die Steuern niedriger sind. Bis in die Neuzeit kam dergleichen häufiger vor.
 
@PostmodernAtheist
Wie gesagt, für empfehlenswert halte ich den Roman durchaus. Was die zeitgemäßen nationalistischen Untertöne angeht, da halte ich Sienkiewicz 'Kreuzritter' für schlimmer, was zugegeben keine Auszeichnung ist.

Wicherts Charakterisierungen der Polen sind differenzierter. Zwar wird die Mehrheit der polnischen Akteure negativ dargestellt, was man an sich für "Framing" halten könnte, wie das wohl Neudeutsch heißt; andererseits sind sie nicht nur deshalb die Bösen, weil sie Polen sind.

Wichert nahm wahrscheinlich im Quellenstudium Anleihen bei Chronisten, die König Wladyslaw Jagiellos Krieg gegen den Orden, dessen Schutzpatronin immerhin die Gottesmutter war, deshalb erschreckte, weil der Mann eigentlich Jogaila hieß, Europas letzter heidnisch geborener Fürst war und man ihn der Apostasie verdächtigte.

Hinzu kommt Wicherts Kritik an den deutschen Handelsstädten und Landadeligen, die die aus seiner Sicht nützliche Ordensherrschaft nur deshalb verraten und den Krieg in ihr eigenes Land tragen, um sich Handelsvorteile und Privilegien zu verschaffen. Diese Darstellung ist teilweise historisch.

Witzigerweise konterkariert sie teils vorhandene nationalistische Untertöne. Eben weil der Gedanke der Nation erst im Entstehen war, hatten Adel und Kaufherren weniger Skrupel, ihren Herrscher zu wechseln.

Welche Sprache er sprach, war weniger wichtig; Hauptsache, er war Christ und garantierte ihnen die Rechte, die sein Vorgänger bedrohte. Man stelle sich vor, Rheinland-Pfalz würde sich mit Luxemburg vereinigen, weil dort die Steuern niedriger sind. Bis in die Neuzeit kam dergleichen häufiger vor.

Na dann sollte ich wohl zugreifen können.

Der andere Roman klingt auch interessant, wenn ich auch doch lieber Geschichten über große Schlachten und so lese.
 
Titel: Die Rosenkriege: Sturmvogel (Band I) und Das Bündnis (Band II)
Autor: Conn Iggulden, Heyne
Thema: Rosenkriege

Conn Igguldens Rosenkriege-Quadrologie erstreckt sich von der Heirat Margaretes von Anjou mit Heinrich VI. bis zur Schlacht von Bosworth. Der Leser verfolgt die Geschichte mit den Augen wichtiger Protagonisten beider Seiten, die heimlichen Hauptfiguren sind indes Margarete und der fiktive Spion Derry Brewer.

Erzählstränge werden eingewoben, die die Begleitumstände verdeutlichen, etwa die Rebellion Jack Cades oder das Schicksal der durch den Vertrag von Tours vertriebenen Engländer. Interessant ist, dass Iggulden weniger als andere Autoren Partei ergreift, bei denen entweder die Yorkisten oder die Lancastrianer im Recht sind.

(Vor allem erste, das Sujet des Kriegerkönigs Eduard war wohl lange Zeit interessanter als das des verachteten Heinrichs und seiner Frau, die den Laden allein schmeißen muss.)

Bei Iggulden stehen auf beiden Seiten ambitionierte Menschen mit Stärken und Schwächen, die auch einem Wandel unterliegen und reifen. So wird aus dem arrogant-ambitionierten Richard von York allmählich ein Mann, der unter dem Eindruck des Chaos ringsum eher aus Pflichtgefühl nach dem Thron greift.

Die meiste Sympathie bringt der Autor indes Margarete entgegen. Die Charaktere sind mehrheitlich sehr plastisch ausgearbeitet, vor allem der Werdegang Margaretes ist psychologisch beeindruckend dargestellt. Heinrich wiederum ist kein Schwächling, sondern Opfer einer sehr einfühlsam erzählten Krankheit.

Leider haben die Bücher auch Schwächen. Dazu gehört zunächst die etwas seichte und mit Anachronismen gespickte Sprache, gepaart mit einer mit leicht ungelenken Übersetzung.

Zweitens: Die ausführlichen Beschreibungen des Kriegsgeschehens. Sie machen sich besser in Büchern wie denen von Toby Clements, wo die Rosenkriege persönliches Erleben eines Protagonisten sind. Nach meinem Empfinden scheitert Iggulden an seinem Anspruch, Politik und Krieg gleichberechtigt gegenüberzustellen.

Drittens erstreckt sich die Überparteilichkeit Igguldens nicht über Englands Grenzen hinaus. Sämtliche Franzosen in den ersten beiden Bänden sind arrogant, schwächlich und dumm, außerdem wird das Klischee des übermächtigen und unüberwindlichen englischen Bogenschützen bis zum Gehtnichtmehr gemolken.

Das größte Manko ist aber leider die Figur des Derry Brewer, der sich vom Gossenjungen zum Meisterspion Heinrichs VI. hochgearbeitet hat. Iggulden schreibt in seinem Begleitwort, einen solchen Strippenzieher "muss es einfach gegeben haben". Damit mag er sogar Recht haben, aber diesen Derry Brewer gab es gewiss nicht.

Er ist praktisch allwissend, allmächtig, bei jeder wichtigen Station der Rosenkriege persönlich anwesend und für viele Weichenstellungen nahezu alleinverantwortlich. Er ist schier unangreifbar und so selbstbewusst, dass er schon mal den Herzog von York mit den Worten: "Tag Richard, alter Knabe" begrüßt.

Ich verstehe, dass der Charakter auch die Schwäche Heinrichs VI. verdeutlichen soll. Denkt man aber an die wenigen verbürgten Aufsteiger dieser Zeit (z.B. Ludwigs XI. Vertrauten Olivier le Daim), bezweifle ich dass sich jemand aus kleinen Verhältnissen derart in den Vordergrund hätte drängen und lange überleben können.

Immerhin ist der zweite Band wesentlich besser als der erste. Das lässt hoffen. Deshalb, aber nur deshalb werde ich auch noch 'Drei Könige' und 'Bruederschlacht" lesen, sobald ich dazu komme.
 
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Titel: Der Ochsenkrieg
Autor: Ludwig Ganghofer, Holzinger
Thema: Bayerischer Krieg 1420–1422

Obwohl ein Chorherr der Berchtesgadener Fürstpropstei seine Frau vergewaltigt und seinen Sohn zum Krüppel gemacht hat, hält Bauer Runotter Fürst Peter die Treue. Sogar als der pedantische Amtmann Someier seine Kühe gewaltsam beschlagnahmen lässt, weil auf seiner Weide angeblich nur Ochsen grasen dürften, und seine aufgebrachten Nachbarn sich daraufhin Reichenhall unterstellen wollen, will Runotter Frieden halten.

Doch als der Bauer erfahren muss, dass die Gadnischen Knechte seinen Sohn Jakob erschlagen haben, hat er genug. Mit seiner Tochter Jula, die er sich als Mann verkleiden lässt, und dem gewieften Söldner Malimmes stürzt sich Runotter in eine Fehde gegen den Fürsten. In dessen Diensten steht auch Someiers Sohn Lampert, Julas heimliche Liebe, der vergeblich versucht hat, seinen Vater umzustimmen.

Doch in der Zwischenzeit haben die verfeindeten Herzöge von Landshut und Ingolstadt die Gelegenheit erkannt, die der Gadnisch-Reichenhaller Streit um die abgefallenen Ramsauer Bauern ihnen bietet. Damit beginnt wegen einer Nichtigkeit im Land Berchtesgaden ein ausgewachsener Krieg, in den Runotter und seine Mitstreiter hineingezogen werden, bis niemand mehr Recht von Unrecht unterscheiden kann.

– 'Der Ochsenkrieg' hat mich positiv überrascht. Es heißt immer, Heimatschriftsteller schrieben kitschig. Von Ludwig Ganghofer kann man das nicht behaupten. Natürlich verklärt auch er die Schönheit seiner Heimat und den Charakter seiner Landsleute, doch ist seine Erzählung psychologisch tiefgründiger und auch drastischer, als das Genre erahnen lässt – eher schon ein melancholischer Abenteuerroman.

Ganghofer hat sich spürbar um mehr Realismus bemüht als etwa sein Zeitgenosse Ernst Wichert ('Heinrich von Plauen'). Selbstverständlich ist auch 'Der Ochsenkrieg' noch geprägt vom fehlerbehafteten Mittelalterbild des 19. Jahrhunderts. Doch räumt der Autor mit vielen falschen Vorstellungen auf, und scheut sich auch nicht, die Ritterromantik seiner Zeit mit den Gräueln des Kriegs zu konfrontieren.

Interessant aus heutiger Sicht ist, wie selbstverständlich Ganghofer (vor über hundert Jahren!) eine junge Frau zum Schwert greifen lässt, um ihren Bruder zu rächen. Als Protagonistin ist Jula den übrigen Figuren ebenbürtig. Im Gegensatz zu vielen Protagonistinnen heute ist sie aber keine Mary Sue, der alles in den Schoß fällt und die jedem Mann problemlos Paroli bietet, sondern muss wachsen wie alle anderen.

Angetan war ich auch von der Figur des Malimmes, hinter dessen abgebrühtem Humor sich eine tiefe Kriegsmüdigkeit verbirgt. Überhaupt enthält die Geschichte viel Lesenswertes über Land und Leute, über Krieg und Frieden im 15. Jahrhundert – auch wenn Ganghofer die Verwicklung Berchtesgadens in den Bayerischen Krieg (der in Wirklichkeit das Haager Land weiter nördlich verwüstete) schlichtweg erfunden hat.

Natürlich hat das Buch auch Schwächen. Ganghofer lässt seine Protagonisten durchweg Dialekt sprechen, einen hundertfünfzig Jahre alten Dialekt, der nicht immer leicht zu verstehen ist. Auch verstößt er zuweilen gegen den Grundsatz Show, don't tell. Was nicht weiter schlimm wäre, täte er nicht beides: show und tell. Trotzdem: Absolute Leseempfehlung! Man findet das Buch übrigens auch im Projekt Gutenberg.
 
Titel: Der Thron der Dornen (Jack Wynter Band 1)
Autor: Robyn Young, Blanvalet
Thema: Ausgehende Rosenkriege, Übergang in die Neuzeit

1483: Jack Wynter, Bastardsohn des Yorkisten Sir Thomas Vaughan, versteckt sich auf Befehl seines Vaters, Kammerherr des englischen Thronfolgers Edward, mit einem wertvollen Pergament in Sevilla. Von seinem Vater allzu oft vertröstet, verspricht sich Jack für seine Dienste die lang ersehnte Legitimation. Die Zeit vertreibt sich der Veteran der Schlacht von Barnet mit Schaukämpfen und Tagträumerei.

Doch nach Vaughans Hinrichtung durch den neuen König Richard III. wird Jack von Häschern heimgesucht, die nach dem Pergament fahnden. Er macht sich auf nach England, wo inzwischen auch seine Mutter ermordet worden ist. In der Hoffnung, Vaughans früherer Schützling könnte ihm die Fragen beantworten, die sein Vater hinterlassen hat, schließt sich Jack einer Verschwörung an, um den Prinzen aus dem Tower zu befreien.

Der Plan gelingt, und Jack begleitet Edward ins burgundische Exil. Doch Henry Tudor, letzter Erbe des Hauses Lancaster, käme die Wiederauferstehung des gerüchtehalber bereits von Richard ermordeten Edward ungelegen. Nun von beiden Seiten verfolgt, wird Jack von einem Weggefährten seines Vaters in dessen Geheimnis eingeweiht: das Pergament weist den Weg zu einem unentdeckten Kontinent im Westen.


– "Endlich mal wieder ein guter Historienroman", das dachte ich schon während des Prologs. Robyn Young gelingt mit diesem Buch die seltene Gratwanderung zwischen dem knackigen Realismus der modernen Unterhaltungsliteratur und der blumigen Sprache, dem Optimismus klassischer Abenteuerromane. Dieser erste Band der Reihe ist sehr atmosphärisch, und hat doch kaum ein Gramm metaphorisches Fett zu viel.

Mit einem sicheren Auge für das Wesentliche zeichnet die Autorin die Übergangszeit zwischen Mittelalter und Neuzeit nach, inklusive ihrer weltanschaulichen Konflikte, ohne doch auf die moderne Unart zu verfallen, politisch Partei zu ergreifen. Besonders gut hat mir gefallen: Anders als viele Gegenwartsautoren schreibt Young moralisch ambivalente Figuren, ohne gleich lauter Serienmörder aufzufahren.

Was den historischen Hintergrund angeht, grobe Ungereimtheiten konnte ich bisher nicht entdecken. Die "Befreiung" Edwards aus dem Tower ist natürlich unhistorisch, folgt aber einer der vielen Theorien über das Schicksal der "Prinzen im Tower". Wohltuend hebt sich das Buch von der Konkurrenz insofern ab, als Young nicht mit Rechercheergebnissen um sich werfen muss, um atmosphärische Dichte zu erzeugen.

Da dies der erste Band ist, kann ich über die Qualität der Haupthandlung der Trilogie in puncto Unterhaltungswert und Historizität noch keine Aussage treffen: Bei Young ist die mediceische Plato-Akademie ein humanistischer Geheimbund, der die Entdeckung Amerikas aus noch ungenannten Gründen geheim halten will. Ob daraus ein Rohrkrepierer oder ein mitreißender Plot wird, kann ich noch nicht sagen.

Ein Manko hat das Buch aber: die Übersetzung von Nina Bader. Sie rangiert zwischen passabel und holprig. Es überwiegen Schachtelsätze, teils lässt sich aus allzu wortwörtlichen Übersetzungen das englische Original herauslesen, was ich am Original bestätigt fand. Manche Übersetzungen sind schlicht falsch, z.B. macht Bader aus einem lakonischen "suit yourself" ("Wie du willst.") ein einladendes "Bedien' dich!".

Dass die Übersetzung mir dennoch nicht die Lust verdorben hat, sagt wohl einiges über das Buch aus.
 
Titel: Wölfe (Thomas Cromwell I)
Autor: Hilary Mantel, DuMont
Thema: Englische Reformation, Epochenwechsel zwischen Mittelalter und Neuzeit

Thomas Cromwell, Sohn eines Schmieds, hat als Anwalt im Dienste des englischen Kardinals Wolsey Karriere gemacht. Als Wolsey in Ungnade fällt, weil er den Papst nicht dazu bewegen kann, die Ehe Heinrichs VIII. mit Katharina von Aragon zu lösen, erbt Cromwell nicht nur Wolseys Feindschaften, sondern auch dessen Zugang zum König, was ihn zu einem mächtigen Mann und Vorkämpfer der Reformation machen wird.

– Allein in den Lebensdaten der Protagonisten und in Rückblenden berührt 'Wölfe' noch das Mittelalter, aber durch den Tod Mantels daran erinnert, wollte ich mich doch einmal an diese mit Preisen (u.a. Booker Prize) überhäufte Trilogie wagen. Zum historischen Hintergrund muss vermutlich nicht allzu viel gesagt werden.

Interessanter ist die Art der Umsetzung, erzählerisch wie stilistisch. Wie Sharon Kay Penman, die ich auf der ersten Seite erwähnt habe, war Hilary Mantel angetreten, einen gemeinhin negativ bewerteten Protagonisten der Tudor-Zeit zu rehabilitieren, oder doch zumindest ein differenzierteres Bild von ihm anzubieten.

In Rückblenden erzählt Mantel Cromwells Werdegang – seine Jugend, in der er sich sein "Gassenwissen" aneignet; seine Flucht vor dem gewalttätigen Vater, die ihn in die Italienkriege führt; sein Einstieg in den Tuchhandel; und schließlich seine Heimkehr und Heirat. Als die Haupthandlung einsetzt, ist Wolseys Stern bereits im Sinken und wir erleben Cromwell als geschickten Politiker, der das Ende abzuwenden versucht.

Allerdings ist Mantels Cromwell kein Intrigant, sondern ein feinsinniger Humanist, Familienmensch und zielstrebiger Staatsdiener, der seine persönlichen Ambitionen mit der Einführung der Reformation in England und der Stärkung der Monarchie gegen Adel, Papst und Ausland verbindet. Aus seiner Perspektive erlebt der Leser die Handlung, wobei er regelrecht absorbiert wird; das Buch bezieht daraus seine Faszination.

Es ist fast so, als hätte die Autorin Cromwell wiederbelebt und gebeten, dem Leser seine eigene Sicht der Dinge im Klartext nahezubringen. Denn Mantel bedient sich einer modernen Sprache ohne altertümelnde Formulierungen. Der Roman ist durchgehend im Präsens gehalten, was in Rückblenden manchmal gewisse geistige Verrenkungen erfordert, und durch Cromwell spricht Mantel den Leser oft direkt an.

Trotz dieser gewöhnungsbedürftigen Kunstgriffe, die natürlich Unmittelbarkeit erzeugen, besitzt der Roman eine hohe literarische Qualität. Ich habe ihn gern gelesen, und doch kann ich mich der Unzahl von überschwänglichen Rezensionen nicht vorbehaltlos anschließen. Wie schon Penman mit ihrem Richard III. ('The Sunne in Splendour'), schießt Mantel nach meinem Empfinden über ihr Ziel hinaus.

Ihr Thomas Cromwell ist fast zu perfekt, um wahr zu sein, sogar wenn man in Rechnung stellt, dass 'Wölfe' auf quasi autobiographische Subjektivität angelegt ist. Gewöhnungsbedürftig ist auch Mantels Sympathie für Heinrich VIII., oder dass seine sechs Frauen genreuntypisch keine Sympathieträgerinnen für sie sind – nun, eigentlich für Cromwell, aber diese Trennung ist müßig, weil fließend.

Ein Beispiel: Nachdem ich den ersten Band beendet hatte, überraschte es mich nicht, als ich bei einer kleinen Recherche auf sehr verächtliche Aussagen Mantels zur katholischen Kirche und sogar zu den Gläubigen stieß. Denn selbst als Agnostiker, der mit der Kirche nicht viel am Hut hat, hatte ich mich bisweilen an dem spürbaren Mangel an Distanz zwischen der Autorin und dem Reformeifer Thomas Cromwells gestört.

'Wölfe' kennt nicht einen einzigen katholischen Sympathieträger, dafür aber viele der antikatholischen Klischees, die zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert in England Staatsräson waren. Das sollten selbst Atheisten für bemerkenswert halten, weil dieser Antikatholizismus Teil eines größeren nationalistischen Gedankengebäudes war, der Englands Heil in der Loslösung von Europa suchte und zu finden glaubte.

Entsprechend sind auch die Nicht-Engländer in 'Wölfe' nicht gerade liebenswert. Was Mantel scheinbar abmildert, indem sie auch die Fehler in der englischen Volksseele analysiert – "scheinbar", weil diese Analyse eher ein Kokettieren ist als ein Sezieren. Aber bei aller Kritik will ich nicht verhehlen: Selten – oder nie? – habe ich ein Buch gelesen, das den Leser 600 Seiten lang fesselt, obwohl 300 Seiten genügt hätten.

Ich bin gespannt, ob auch der nächste Band ein solches intensives Eigenleben entwickelt.
Titel: Der Thron der Dornen (Jack Wynter Band 1)
Autor: Robyn Young, Blanvalet
Thema: Ausgehende Rosenkriege, Übergang in die Neuzeit

[…]

Da dies der erste Band ist, kann ich über die Qualität der Haupthandlung der Trilogie in puncto Unterhaltungswert und Historizität noch keine Aussage treffen: Bei Young ist die mediceische Plato-Akademie ein humanistischer Geheimbund, der die Entdeckung Amerikas aus noch ungenannten Gründen geheim halten will. Ob daraus ein Rohrkrepierer oder ein mitreißender Plot wird, kann ich noch nicht sagen.
Tja … der zweite Band war ein Rohrkrepierer und so langweilig, dass ich ihn nicht mal rezensieren werde. Das kommt wohl dabei heraus, wenn Autoren sich krampfhaft auf Trilogien festlegen (oder zumindest von ihren Verlegern auf Trilogien festgelegt werden), ohne genügend Erzählstoff dafür zu haben.
 
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Titel: Die Bogenschützin
Autor: Martha Sophie Marcus, Goldmann
Thema: Aufstieg der Hohenzollern in Brandenburg, Hussitenkriege

Als Friedrich von Zollern Brandenburg erhält, fallen die sich auflehnenden Quitzows in die Bedeutungslosigkeit. Die kleine Hedwig von Quitzow verschlägt es bei der Erstürmung ihrer Heimat Friesack in die Einsamkeit der umliegenden Wälder, wo Richard sie bei sich aufnimmt, ein alter Vasall der Quitzows, der seit einer Entehrung als Eremit lebt. Richard lehrt sie, in der Wildnis allein zu überleben und bringt ihr das Bogenschießen bei. Acht Jahre später liegt Hedwigs Ziehvater im Sterben. Seine letzte Bitte: Sie soll sein Schwert seinem Sohn Wilkin bringen, einem Dienstmann Friedrichs, der ahnungslos als Erbsohn des Hauses Torgau lebt, Feinden der Quitzows und ihnen von seiner Mutter als Kuckuckskind untergejubelt.

Auf ihrer Suche macht sich die rebellische und kämpferische Hedwig viele Feinde. Ihre Brüder, die mit ihrem eigenen Überleben alle Hände voll zu tun haben, freuen sich ebenso wenig über ihre Rückkehr wie ihre frömmelnde Tante. Nur bei einem Gauklerpaar, bei ihrem Onkel, dem Raubritter Johann, und bei Cord, einem Freund Wilkins und als Bastard Ablehnung gewohnt, findet sie Freundschaft. Cord schätzt ihre Natur und verliebt sich in sie. Es kommt jedoch zum Bruch mit Johann und zur Trennung von Cord, als Hedwig versehentlich Friedrich auf die Idee bringt, sie mit Wilkin zu verheiraten, der so die Quitzows kontrollieren will. Wilkin liebt Hedwig, tut sich aber schwer mit ihrem Wesen und muss oft reparieren, was Hedwig anrichtet.

Jahre vergehen. Wilkin wird als Friedrichs Botschafter und Spion an König Sigismunds Hof in Ungarn geschickt. Dort kommt es zum Konflikt mit Wilkins offizieller Familie, die gegen Friedrich intrigiert und Wilkin hasst. Nur mit Mühe entgehen Hedwig und Wilkin einem Todesurteil, doch schließlich stirbt Wilkin auf Sigismunds Romzug, als er Friedrichs Sohn das Leben rettet. Den Kurfürsten mit dieser Schuld konfrontierend, kann Hedwig erreichen, dass nicht ihr Schwiegervater und Todfeind die Vormundschaft über sie und Wilkins Sohn erhält, und wird sogar mit Friesack belehnt. Derweil erkämpft sich Cord in Böhmen Ruhm gegen die Hussiten, verdient sich den Ritterschlag und ein Lehen in der Mark. Als der zwischenzeitliche Besitzer von Friesack Hedwig Rache schwört, kommt Cord ihr zur Hilfe und hält um ihre Hand an.


– 'Die Bogenschützin' ist ein seltsames Buch. Nach Aufmachung und Klappentext schien es sich eher um einen Liebesroman zu handeln, aber es verbirgt sich ein durchaus solider historischer Roman dahinter, gut recherchiert und sprachlich gefällig. Die Autorin hat viele der Klischees umschifft, auf denen die meisten Bücher stranden, die das Mittelalter aus heutiger Sicht sozialkritisch kommentieren. Auch wenn ihre Hedwig ein bisschen zu perfekt geraten ist, ist sie keine Mary Sue. Ebenso wenig ist Marcus' Mittelalter nur eine dunkle, frauenfeindliche Epoche, und ihre männlichen Charaktere analysiert sie gekonnt und ohne allzu erhobenen Zeigefinger als Kinder ihrer Zeit.

Leider fällt die Qualität des Romans im letzten Drittel stark ab. Wichtige Ereignisse werden extrem gestaucht, vor allem mogeln sich aber Elemente in die Handlung, die dann doch noch in Richtung "wish fulfillment" gehen. Beim Lesen bekam ich den Eindruck, dass sich die Autorin sehr stark mit ihrer Hauptfigur identifiziert und ihr ein Staccato an glücklichen Zufällen schickt, um ihr zu dem Ende zu verhelfen, das sich heutige Leser (vor allem die weiblichen) für Hedwig wünschen. Trotzdem … Insgesamt handelt es sich um einen der wenigen glaubhaften Versuche, eine Frauenfigur á la Jeanne de Belleville oder Caterina Sforza zu erschaffen, wie das Mittelalter nur wenige hervorbringen durfte.
 
Titel: Crows in a Winter Landscape
Autor: Colin McLaren
Thema: Böhmen im 15. Jahrhundert, Hussitenkriege

Nicht der gleichnamige australische Krimi-Autor, sondern ein Schotte, ehemaliger Archivar der Uni Aberdeen, der nebenbei ein paar sehr empfehlenswerte historische Romane geschrieben hat. In deutscher Übersetzung existiert m.W. nur (das beinahe steampunk-artige) "Rattus Rex" über eine Rattenplage im London des 19. Jh.
Nicht mehr ganz in die Kategorie "Ausgehendes Mittelalter" gehört vermutlich "A Twister over the Thames". Der Twister im Titel ist Leonardos Flugmaschine. Ein hochbegabter Kleinkrimineller hat die Pläne in Italien mitgehen lassen und möchte das Ding jetzt während der Krönungsfeierlichkeiten Heinrichs VIII. fliegen lassen.
 
Auch dieser Roman berührt nur in den Lebensdaten der Protagonisten und kurzen Rückblenden das Mittelalter; außerdem ist es eigentlich vermessen, bei einem Yourcenar von "Unterhaltungsliteratur" zu sprechen; aber da ich das Buch nun mal kürzlich wieder in der Hand hatte …

Titel: Die schwarze Flamme
Autor: Marguerite Yourcenar, dtv
Thema: Renaissance, Glaubensspaltung, Italienkriege

1525: Zwei Vettern verlassen Brügge, um ihr Glück zu machen. Heinrich-Maximilian Ligre, Sohn des habsburgischen Schatzmeisters von Flandern, ist ein unsteter Charakter, der lieber als Söldner in Italien zu Ruhm gelangen als in Kontoren versauern will, und sogar einen Münzwurf entscheiden lässt, ob er den Valois oder dem Kaiser dienen soll. Sein Halbvetter Zenon hingegen, aufgrund seiner unehelichen Geburt auf eine ungeliebte Karriere als Kleriker festgelegt, ist ein Grübler, den sein Wissensdurst in die Welt hinauszieht, und der als homosexueller Freidenker Konventionen sprengt.

Nach einigen Jahren kreuzen sich ihre Wege noch einmal. Heinrich-Maximilian genießt in Italien das Leben als Kriegs- und Frauenheld. Zenon betätigt sich als Arzt, Alchimist und Philosoph. Seine Reisen führen ihn durch das gesamte Abendland und in den Orient. In Dänemark forscht er mit Tycho Brahe und unterrichtet Fürstensöhne, für die Osmanen nimmt er als Feuerwerker an Belagerungen teil, im Languedoc nimmt er Abtreibungen vor. Freidenkerische Schriften bringen ihn in Konflikt mit der Kirche, doch hält sein Onkel, der Domherr Campanus, eine schützende Hand über ihn.

Zenons Mutter heiratet einen alternden Kaufmann. Gemeinsam verschlägt es sie ins Täuferreich von Münster, mit dem sie untergehen. Heinrich-Maximilians Familie wird von der Pest heimgesucht, er selbst fällt bei der Belagerung von Siena. Zenon indes spürt sein Alter nahen und kehrt nach Brügge zurück. Eine Indiskretion seiner Haushälterin lässt die Animositäten seiner akademischen Gegner zu einer Anklage wegen Häresie aufkochen. Um seine Ideale nicht zu verraten, schlägt er die goldene Brücke aus, die man ihm baut, und nimmt sich in der Nacht vor seiner Hinrichtung das Leben.


– Dieser vergleichsweise unbekannte Roman Marguerite Yourcenars, kongenial übersetzt von Anneliese Hager, Rene Cheval und Bettina Witsch, ist meiner Ansicht nach ihr bester: Ein geistesgeschichtlicher Abenteuerroman, der nicht nur das 16. Jahrhundert zum Leben erweckt und mit überaus glaubwürdigen Charakteren aufwartet, sondern auch sprachlich eine Wucht ist. Ohne Übertreibung ist jeder Satz ein Kunstwerk. Wie Zenon z.B. seinen Tod erlebt, ist atemberaubend-verstörend. Dennoch ist Yourcenars Stil weniger prätentiös als der anderer Romanciers, und eine allgegenwärtige leise Ironie nimmt selbst traurigen Passagen etwas Schärfe ("nach den üblichen Vergewaltigungen, für die sie eigentlich nicht mehr das passende Alter hatte").

Ebenso tief beeindruckt hat mich Yourcenars Verständnis für die dargestellte Epoche. Viele Autoren heutiger historischer Romane könnten sich bspw. eine Scheibe davon abschneiden, wie feinsinnig sie den Konflikt zwischen Kirche und Philosophie bzw. Wissenschaft analysierte. Da prallen nicht einfach nur Gut und Böse, Schwarz und Weiß aufeinander, sondern Menschen mit jeweils verständlichen Positionen ringen mit sich und miteinander. Dieses Buch ist allerhöchste Kunst, absolut zu empfehlen, auch wenn es natürlich keine eskapistische Lektüre "zum Abschalten" ist.
 
Titel: Die Bücherjäger
Autor: Dirk Husemann, Lübbe
Thema: Großes Schisma, Humanismus

Poggio Bracciolini, rechte Hand des streitbaren Gegenpapstes Baldassare Cossa (Johannes XXIII.), verlässt im Winter 1417 mit Oswald von Wolkenstein gelangweilt das Konstanzer Konzil, um in den Klöstern der Bodenseeregion nach alten Handschriften zu stöbern. Während der Papst vor den Meuchelmördern König Sigismunds fliehen muss, entdecken sie das erste von mehreren Büchern, in denen sich Hinweise auf einen politisch brisanten Betrug Ottos des Großen verbergen. Mithilfe der sich im Kloster verbergenden Agnes von Mähren, Witwe des von Sigismund ermordeten Kurzzeit-Königs Jobst, wollen sie das Buch aus scheinbar humanistischer Gesinnung stehlen – doch der geldgierige Minnesänger und die auf Rache an Sigismund sinnende Agnes betrügen Poggio.

Als Anhänger des abgesetzten Papstes gejagt, muss er fliehen, tut sich aber bald erneut mit Agnes zusammen – diesmal gegen Wolkenstein, der die Bücher Sigismund versprochen hat. Der König schickt Wolkenstein mit den Schlägern Helmbrecht und Lämmerschling aus, die auf der Suche nach Poggio und Agnes eine Blutspur hinterlassen. In einem schwimmenden Bordell stoßen Letztere auf Cossa, der sich ihnen anschließt, um sich mit dem Buch wieder zum Papst zu machen. Nach einem Bäumchen-Wechsle-Dich-Spiel verschlägt es die drei auf Agnes alte Heimatburg Zollern, wo Friedrich von Brandenburg herrscht und bei seinen Versuchen, hinter die Mixtur von Schießpulver zu kommen, die Burg Stück um Stück in Schutt legt.

Im Austausch gegen die Mixtur, die Poggio zu kennen behauptet, lässt er sie die Bibliothek betreten, wo sie prompt von Sigismunds Schergen belagert werden. Agnes kann mit den nun zwei Bänden entkommen, Cossa und Poggio aber werden verwundet gefasst. In Konstanz sollen sie ein Turnier gegen die Schergen bestreiten und in den sicheren Tod gehen. Doch plötzlich taucht Agnes auf und bietet Sigismund die Bücher für ihre Leben. Trotzdem kommt es zum Kampf. Anstelle des von rachsüchtigen Pilgern getöteten Helmbrecht tritt aber Sigismund selbst in die Schranken, um über Cossa endgültig zu triumphieren. Doch noch während des Kampfes lässt ihn eine Krankheit, die ihn seit langem quält, erblinden. Im einsetzenden Chaos gelingt den Helden die Flucht.


Das Buch fängt stark an – ich war schon im Prolog gefesselt, der mit dem Satz beginnt: "Der Papst rannte." – und lässt dann sehr stark nach. Wer mit der Epoche vertraut ist, wird schon beim Lesen meiner Kritik erahnt haben, wie ich zu einem solchen Urteil komme. Ich war bereit, es Husemann nachzusehen, dass er Heribert Illigs Hirngespinst vom erfundenen Carolus Magnus zum Thema eines Romans macht (immerhin spricht Husemann selbst im Nachwort von einer Verschwörungstheorie), doch wie er mit historischen Fakten allgemein umgeht, grenzt an Leichenschändung.

Das Agnes von Mähren 1417 lange tot war, geschenkt. Aber all die anderen! Da wäre z.B. der Brandenburger Friedrich (1371-1440), der im Buch im Jahre 1417 bei dem Versuch krepiert, ein "Donnerkraut" zu erfinden – knapp neunzig Jahre nach dessen erster nachweislicher Anwendung im Krieg in Europa. Da wäre Sigismund als eine Art shakespearischer Richard III. – mit Schlagetots in seinen Diensten, die selbst Kurfürsten öffentlich drangsalieren –, der ein Stechen über Schranken gegen einen Papst reitet. Und gerade noch rechtzeitig erblindet ("Warum ist es so dunkel?", schrie er. "Entzündet Fackeln!"), um dessen Leben zu retten. Wie konnte der arme Luxemburger noch 20 Jahre sehenden Auges weiterleben?

Und so weiter, und so weiter.

Das Buch ist eine herbe Enttäuschung. Denn Husemann schreibt einen gefällig sparsamen, dabei ansprechenden Stil, und die Abenteuer des Bücherwurms Poggio und seines Bud Spencer-esken Kameraden Baldassare Cossa machen durchaus Laune. Ich weiß, wer sich in diesem Forum tummelt, muss sich manchmal daran erinnern, dass sein Interesse weiter reicht als das der Durchschnittsbevölkerung, aber um Himmels willen …!

Wenn man so wenig Respekt hat vor der Geschichte, kann man auch gleich einen Fantasy-Roman schreiben. Als solcher wäre 'Die Bücherjäger' gut gewesen, zumindest bis zum Ende. Das arg vorhersehbare Ende taugt nicht mal für Fantasy. Leider keine Leseempfehlung.
 
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Er erwähnt Kühn sogar im Nachwort, nennt die Biographie "vergnüglich und sprachgewaltig", und "ein Denkmal": "Poggio hätte es gefallen".

Sein Wolkenstein ist freilich nicht nur geldgierig, sondern auch noch ein Verräter – und ein Waschlappen, der nicht den Mumm hat einzuschreiten, als Sigismunds Schergen erst seine Lieblingsdirne vergewaltigen und später eine Pilgerfamilie dem Erfrierungstod preisgeben.

Zu Beginn des Buches wirkt er noch halbwegs sympathisch und interessant, ich hatte gehofft, der Roman würde die beiden gegensätzlichen Charaktere aneinander ketten und zwingen, sich zusammenzuraufen. Etwas Ähnliches passiert auch später mit Baldassare Cossa, nur verpufft das Potential der Dynamik dieser Beziehung weitgehend, weil Husemann sie Freunde sein und am Ende doch immer zusammenhalten lässt.

Letztlich ist sein Wolkenstein für mich ein typisch moderner Fall von Dekonstruktion: idealisierte Archetypen (hier der ritterliche Minnesänger) werden mit dem Anspruch der "Entzauberung" ins Gegenteil verkehrt. Das Dumme ist nur, dass dieses Stilmittel heute derart inflationär zur Anwendung kommt, dass mittlerweile auch die vermeintlich realistische Version des Archetypus zum bloßen Klischee verkommt.
 
Der Roman hat vor allem in der zweiten Hälfte ohnehin mit der Wahrheit nicht mehr viel zu tun. Wolkenstein steht hier eher stellvertretend für alle Ritter, Minnesänger und Ehrenmänner des Genres. Er hält sich für einen großen Künstler, nervt jedoch alle bloß mit seinen Liedern; tut erfolgreich bei den Frauen, muss aber für die Liebe bezahlen; gibt sich höfisch, doch niemand achtet ihn; lässt sich überall für seine Kreuzzugsgeschichten bewundern, ist aber in Wahrheit ein lausiger Kämpfer und Feigling; und sein Auge hat er auch nicht an einen Sarazenen verloren, es ist schlicht verwachsen.
 
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