Unterschied zwischen Sachurteil und Werturteil

cherlloyd

Neues Mitglied
Was ist der Unterschied zwischen einem Sachurteil und Werturteil, wenn man einen Sekundärtext analysiert. Müsste man bei dem Sachurteil einfach nur die Thesen des Autors erklären und bei Werturteil den Thesen des Autors widersprechen oder evtl zustimmen?
 
Die Begriffe Wert- und Sachurteil finden sich auch in der Geschichtsdidaktik. Möglicherweise ist das zielführender.

Jeismann (nach Wikipedia) zufolge vollziehe sich die "Rekonstruktion der Vergangenheit [...] zunächst in der Analyse von Vergangenem, ehe dieses deutend in den historischen Kontext gerückt (Sachurteil) und schließlich im Hinblick auf Gegenwärtiges gewertet (Werturteil) werde"

Geschichtsbewusstsein ? Wikipedia

Vereinfacht und am Beispiel der Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. 1849 verdeutlicht:

Sachurteil:

Die Ablehnung der Kaiserkrone wird in den historischen Kontext gestellt: "Die Ablehnung der Krone machte das endgültige Scheitern der Nationalversammlung deutlich" (eigene Darstellung).

Werturteil:

Das Sachurteil wird bewertet: "...wenn die konsequenten Revolutionäre Gelegenheit erhalten hätten, ihr Programm in die Tat umzusetzen, wäre das Ergebnis vermutlich eine europäische Katastrophe gewesen." (H. A. Winkler, Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, Bonn 2000, S. 129f.).
 
ehrlich gesagt, verstehe ich das Werturteil, nach Jeismann, auch nicht.

Was ist eine auf das Gegenwärtige gewertete Analyse von Vergangenem?

Würde das bedeuten historische Kausalfolgen (das ist deswegen passiert, usw.) bis heute aufzuzeigen, wäre das doch der historische Kontext, der im Sachurteil vollzogen werden soll, nur im großen Maßstab.
 
Beim Sachurteil bewertest du die Handlungsoptionen aus dem Horizont der Handelnden, nach ihrem Wissens- und Erfahrungsschatz.
Beim Werturteil ziehst du die heutige Perspektive hinzu.
Als plakatives Beispiel die Inquisition:
In ihrer Zeit ist die Inquisition ein Fortschritt, der den Angeklagten eine Art von Rechtssicherheit gibt und das Recht des Stärkeren beendet.
Aus heutiger Perspektive betrachtet sind aber die Formen der Wahrheitsfindung zu bemängeln (wenn sie auch aus der Perspektive des Sachurteils immerhin einem Regularium unterliegen) und, dass Kläger und Richter dieselben sind.
 
ist penibel, aber es sollte dann "von gegenwärtigem gewertet" nicht "auf Gegenwärtiges gewertet" heißen;


:ichdoof:
 
Max Weber folgend würde ich den Unterschied zwischen Sachurteil und Werturteil so ziehen, dass Sachurteile Tatsachenbehauptungen darstellen mit denen der Ablauf eines Geschehens so konkret wie möglich beschrieben werden soll, währenddessen Werturteile einen festgestellten oder als wahr angenommenen Sachverhalt normativ beschreiben, z.B. als gut oder schlecht, billigenswert oder verdammenswert, friedensstiftend oder kriegstreibend, effektiv oder Vermögen verschleudernd, etc. einschätzen.
Beim Sachurteil bewertest du die Handlungsoptionen aus dem Horizont der Handelnden, nach ihrem Wissens- und Erfahrungsschatz.
Beim Werturteil ziehst du die heutige Perspektive hinzu.
Als plakatives Beispiel die Inquisition:
In ihrer Zeit ist die Inquisition ein Fortschritt, der den Angeklagten eine Art von Rechtssicherheit gibt und das Recht des Stärkeren beendet.
Aus heutiger Perspektive betrachtet sind aber die Formen der Wahrheitsfindung zu bemängeln (wenn sie auch aus der Perspektive des Sachurteils immerhin einem Regularium unterliegen) und, dass Kläger und Richter dieselben sind.
Hm... Diesen Ansatz finde ich irgendwie unbefriedigend.

Die "heutige Perspektive" kann doch auch das Sachurteil betreffen, z. B. weil es "moderne Methoden" (z.B. die Analyse des Einschusslochs eines Waffenrocks mittels Elektronenmikroskops) oder "neue Funde" (z.B. ein neuer Münzfund) gibt, mit denen sich ein bestimmter Sachverhalt heute besser aufklären lässt, insb. bisherige Annahmen ausschliessen lassen.

Beim Werturteil dürfte der Unterschied zwischen dem "damals" und dem "heute" doch eher den Maßstab für das Werturteil (nicht das Erkennungszeichen für das Werturteil) betreffen. Dabei sollte das Werturteil der Epoche entnommen werden und der Unterschied zum (heutigen) Standort des Urteilenden bewusst und klar zum Ausdruck kommen.
 
Hm... Diesen Ansatz finde ich irgendwie unbefriedigend.

Die "heutige Perspektive" kann doch auch das Sachurteil betreffen, z. B. weil es "moderne Methoden" (z.B. die Analyse des Einschusslochs eines Waffenrocks mittels Elektronenmikroskops) oder "neue Funde" (z.B. ein neuer Münzfund) gibt, mit denen sich ein bestimmter Sachverhalt heute besser aufklären lässt, insb. bisherige Annahmen ausschliessen lassen.

Beim Werturteil dürfte der Unterschied zwischen dem "damals" und dem "heute" doch eher den Maßstab für das Werturteil (nicht das Erkennungszeichen für das Werturteil) betreffen. Dabei sollte das Werturteil der Epoche entnommen werden und der Unterschied zum (heutigen) Standort des Urteilenden bewusst und klar zum Ausdruck kommen.

Es handelt sich bei den Begriffen des Sach- und des Werturteils um Begriffe aus der Didaktik und insbesondere der Schuldidaktik. Die Schüler sollen nicht zu Historikern gemacht werden, sondern der Geschichtsunterricht soll ihnen eine Folie zur eigenen (politischen) Standortbestimmung geben. Daher kann das Werturteil nur aus einer - natürlich in gewisserweise kenntlich gemachten - Position der jeweiligen Schüler gemacht werden und es können am Ende einer Unterrichtseinheit natürlich auch verschiedene Werturteile stehen.
Natürlich hast du in der Theorie Recht, wenn du sagst, dass moderne Methoden - etwa der Kriminologie - einen Sachverhalt ganz anders aussehen lassen, als er für die Zeitgenossen aussah. Das ist aber eine rein akademische Diskussion, die in der Schulpraxis eher selten Anwendung finden wird.
 
ist penibel, aber es sollte dann "von gegenwärtigem gewertet" nicht "auf Gegenwärtiges gewertet" heißen;

Eben das ist es nicht!

Als Beispiel wähle ich die Bereitschaft, der Hitlerjugend beizutreten.

Vom Gegenwärtigen gewertet wäre die Antwort eines hypothetischen Achtklässlers: "Völliger Unsinn, würde kein vernünftiger Mensch machen, wie doof kann man sein?"

Jetzt gilt es, ein der historischen Situation angemessenes Sachurteil zu finden. Kann der Schüler sich in die damalige Zeit hineinversetzen? Etwa, indem er anhand von Quellen die Anziehungskraft der HJ erkennt? Die Erkenntnis könnte so aussehen: "Angesichts der damaligen Umstände ist es unter bestimmten Umständen verständlich, dass man sich als Jugendlicher der HJ angeschlossen hat."

Und jetzt erst kommt das Werturteil: Wenn wir DAS über die deutsche Geschichte wissen, wie sollten wir uns heute verhalten?

Die naive Sicht, heutige Wertmaßstäbe auf vergangene Zeiten anwenden zu können, wird so gebrochen. Dennoch wird keine Geschichtsvergessenheit propagiert. Vielmehr wird ein distanzierter Blick auf die Geschichte eröffnet, der einer zu einfachen Vereinnahmung historischer Ereignisse vom Heute aus den Weg versperrt.
 
Hallo allerseits,

ich hätte eine konkrete Frage bzgl. des Unterschieds des Sach- und Werurteils. Wenn ich die Appeasementpolitik Chamberlains bewerten lassen möchte mit einer Frage, ob die Appeasementpolitik eine realistische Chance auf einen Frieden war oder ein aussichtsloses Unterfangen anhand Chamberlains und Churchills Reden im britischen Unterhaus im Oktober 1938, also kurz nach Unterzeichnung des Münchener Abkommens, ist das dann ein Werturteil oder ein Sachurteil.
Meiner Meinung nach handelt es sich dabei um ein Werturteil. Die Schüler dürfen nicht (nur) aus heutiger Perspektive die Ereignisse bewerten mit ihrem Wissen um den Ausgang, sondern müssen die Chancen, Möglichkeiten und Motive der damaligen Akteure im Kontext ihrer Zeit sehen, um so zu einem Werturteil zu gelangen, das differenziert ist. Denn nur so können sie die Intention Chamberlains nachvollziehen und seine Politk wertend beurteilen.
Seht ihr/sie das anders?
Über ein Feedback würde ich mich sehr freuen.
MfG
 
Die Schüler dürfen nicht (nur) aus heutiger Perspektive die Ereignisse bewerten mit ihrem Wissen um den Ausgang, sondern müssen die Chancen, Möglichkeiten und Motive der damaligen Akteure im Kontext ihrer Zeit sehen, um so zu einem Werturteil zu gelangen, das differenziert ist. Denn nur so können sie die Intention Chamberlains nachvollziehen und seine Politk wertend beurteilen.

Im Prinzip dreht sich diese Fragestellung um den - im weiteren Sinne - "Wahrheitsbegriff" von Theorien.

In Anlehnung an Kant, so Habermas im "Philosophischen Diskurs der Moderne" - und in anderen Schriften - hat er einen Theoriebegriff entwickelt, der eine Reihe von Punkten umfasst:

- Wissen bzw. eine Theorie - und Historiographie ist immer auch eine "implizite Theoriebildung - sollte zunächst die rivalisierenden Standpunkte berücksichtigen

- Diese sollte auch die immanente - sprich historische - Sicht umfassen und die historische Periode aus dem Verständnis der jeweiligen Zeit erklären

- Wissen ist immer intersubjektiv und somit notwendigerweise eine "zeitgebundene" Sicht. Das erklärt die legitime Notwendigkeit zur "Revision" von geschichtlichen Interpretationen.

- Ob eine Theorie "wahr" ist, dass heist, ob sie ein angemessenes und objektives Verständnis über ihren Gegenstand erzielt, unterliegt dem Diskurs der Wissenschaft und anderer Akteure. Dieses ist mittlerweile Konsens und durchaus eine inhaltliche Veränderung seit dem "Positivismusstreit"und zeigt wie stark sich beispielsweise der "Kritische Rationalismus" (z.B. Popper) und die "Kritische Theorie" (z.B. Adorno / Habermas) angenähert haben, nur um zwei Sichten zu benennen.

In diesem Sinne kann es m.E. durchaus sinnvoll sein, alles historische Sichten als Rollenspiel beispielsweise an Schüler zu verteilen, damit sie immanent und vorurteilsfrei die Positionen von allen historischen Akteuren versuchen zu verstehen. Dabei sollten die heftigsten Kritiker von Chamberlain seine Sicht lernen, zu argumentieren. In ähnlicher Weise wäre natürlich auch die Position von Hitler - von seinen schärfsten Kritikern - zu argumentieren. Dadurch wird einerseits die notwendige inhaltliche Nähe zum Gegenstand geschaffen und gleichzeitig die Distanz zum zu bewertenden Objekt erzeugt.

Leider wird die Historiographie "gerne" von "politischen Akteuren" zur "Hilfswissenschaft für die Begründung ihrer politischen Sichtweisen degradiert und im bestenfalls verkommt sie zu einer Art staatsbürgerlichen Unterrichts.

Diese Instrumentalisierung der Geschichtswissenschaften kennzeichnet ihre unterschiedlichen Stadien der wissenschaftlichen Degeneration und man muss sie immer wieder gegen derartige - fachfremde - Interventionen in Schutz nehmen.
 
Hallo allerseits,

ich hätte eine konkrete Frage bzgl. des Unterschieds des Sach- und Werurteils. Wenn ich die Appeasementpolitik Chamberlains bewerten lassen möchte mit einer Frage, ob die Appeasementpolitik eine realistische Chance auf einen Frieden war oder ein aussichtsloses Unterfangen anhand Chamberlains und Churchills Reden im britischen Unterhaus im Oktober 1938, also kurz nach Unterzeichnung des Münchener Abkommens, ist das dann ein Werturteil oder ein Sachurteil.
Meiner Meinung nach handelt es sich dabei um ein Werturteil. Die Schüler dürfen nicht (nur) aus heutiger Perspektive die Ereignisse bewerten mit ihrem Wissen um den Ausgang, sondern müssen die Chancen, Möglichkeiten und Motive der damaligen Akteure im Kontext ihrer Zeit sehen, um so zu einem Werturteil zu gelangen, das differenziert ist. Denn nur so können sie die Intention Chamberlains nachvollziehen und seine Politk wertend beurteilen.
Seht ihr/sie das anders?
Über ein Feedback würde ich mich sehr freuen.
MfG

Thanepower hat den Hintergrund aufzeigt, und mit der Kontroverse um "Wahrheit" ausgeleuchtet.

Bezogen auf die Appeasementpolitik wäre mE zwischen der Bewertung der Erfolgsaussichten der beiden Reden (und Erwartungen) einerseits, und der kausalen Erklärung der realisierten Politik andererseits zu trennen.

Die Reden sind zeitgenössische Werturteile, und legen dem Werturteil Prognosen als Maßstab der Beurteilung zugrunde.

Sie können aber, zB soweit unmittelbar Begründungen für diese Politik aus den Quellen sichtbar werden, auch benutzt werden, um kausale Erklärungen als Sachurteil für den Verlauf der Geschichte und hier die realisierte Appeasementpolitik in München abzuleiten. In dem Sinne: beides.
 
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