Ursachen der Weltkriege

1912 war der Bündnisfall zwischen Frankreich und Russland unstrittig. Frankreich ist, im Gegensatz zu 1909, in seinen Zusicherungen weitergegangen.

Das versucht Schmidt eingehend zu belegen. Mir ist diese Interpretation unklar geblieben.


Joffre fantasierte schon:"Ich denke an ihn, ich denke die ganze Zeit daran. Wir werden einen Krieg haben, ich werde ihn führen und ich werden ihn gewinnen."
Das war Aufgabe der Militärs, wobei Joffre stets von dem durch Deutschland aufgezwungenen Krieg ausgegangen ist. Wie gesagt, festes Bild in Frankreich war die "deutsche Bedrohung" und der eines Tages erfolgende Angriff des (im 1:1-Vergleich) übermächtigen Nachbarn. Die Antwort darauf bis hin zum Wettrüsten der Heeresvermehrungen war nicht Appeasement, sondern Stärke und Bündnis.

Eine weitere Option zwischen diesen beiden Extremen bestand für Frankreich bei den Ambitionen des Deutschen Reiches mit der Position des Überlegenen auch nicht wirklich.
 
silesia schrieb:
Das versucht Schmidt eingehend zu belegen. Mir ist diese Interpretation unklar geblieben.

Ich mutmaße einmal, das Schmidt sich auf Sasonow bezieht, der davon ausging, das Frankreich sic auch für den Fall gebunde fühlt, wenn Russland gegen Österreicht-Ungarn militärisch vorgeht, wenn dies in Serbien einmarschiert ist. Ich denke, Schmidt sieht hier kein rein defensiven, sondern einen offensiven Vorgang, in dem Frankreich den Angriff Russlands unterstützt.

Was ich jetzt nicht weiß, inwiefern war Frankreich über Russlands Vereinbarungen mit Serbien informiert?

Wenn wir davon ausgehen, das die französische Staatsführung im Bilde war, dann hat sie billigend inKauf genommen, das Russland in der Lage war, Frankreich in einem Krieg auf dem Balkan mithineinzog.
 
Wie sah es mit einer Rechtfertigung aus? Wenn Russland angreift (weil Serbien angegriffen wurde), wie wäre dem französischen Bürger, wie der Weltöffentlichkeit ein Eingreifen Frankreichs vermittelt worden?

Oder hätte man darauf vertraut, dass es als Sieger bzw. Verlierer (was aber keiner annahm) egal gewesen wäre?

Solwac
 
Man hätte sicher versucht, der französischen Öffentlichkeit gegenüber, das Deutsche Reich als den Agressor zu verkaufen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich mutmaße einmal, das Schmidt sich auf Sasonow bezieht, der davon ausging, das Frankreich sic auch für den Fall gebunde fühlt, wenn Russland gegen Österreicht-Ungarn militärisch vorgeht, wenn dies in Serbien einmarschiert ist. Ich denke, Schmidt sieht hier kein rein defensiven, sondern einen offensiven Vorgang, in dem Frankreich den Angriff Russlands unterstützt.

Das wäre kein Krieg, den Russland vom Zaun bricht ("Angreifer"), sondern in den Russland durch Bündnisverpflichtungen hineingezogen wird.

Im Übrigen entwickelte sich das Bündnis auch mit eigener Dynamik: da es die Regelung der Mobilmachungen vorsah (Art. 2), ergab sich eine Wirkungskette eigener Art: diese Mobilisierungen waren auch 1892/94 bereits von außerordentlicher Bedeutung, allerdings verstärkte sich diese noch bis 1914 zu der Situation, dass die Mobilmachung wegen der beiderseitigen Offensivpläne bereits als Kriegsfall im militärischen Sinn angesehen wurde: die militärischen Planungen "überholten" hier die völkerrechtlichen Betrachtungen.

Die Frage wäre dann, ob es eine französische Neubewertung der russischen Balkanposition und den Folgen einer eventuellen Schwächung des Zarenreiches 1912/14 gab.

Herwig/Hamilton und Keiger verweisen übrigens auf die mehrfache Bündnisbeteuerung Frankreichs unter Poincaré.
 
Das wäre kein Krieg, den Russland vom Zaun bricht ("Angreifer"), sondern in den Russland durch Bündnisverpflichtungen hineingezogen wird.

Trotzdem eine nicht ganz unproblematische Angelegenheit. Russland besaß nämlich so einem Hebel, der es ermöglichte, Frankreich in einem Krieg auf dem Balkan hinzuziehen, "nur" weil es dort originär russische Interessen wissen gewahrt wollte bzw. durchsetzten wollte. Schon Miniterpräsident Vivani hatte genau hier im Juli 14 so seine Probleme, da ihm Serbien nämlich nicht weiter interessierte und er deshalb dazu neigte, eine entgegenkommendere Position zu vertreten.

Des Weiteren hatte Serbien Russland und zugleich auf diesem Wege Frankreich in der Hinterhand und konnte so auf dem Balkan "zündeln". Das die Lage Österreich-Ungarns nach den 2.Balkankrieg alles andere als rosig war, das war auch den Herrschaften in Petersburg und Belgrad klar. Serbien hatte sein Territorium immerhin um satte 70% vergrößern können, während die beiden potenziellen Verbündeten Rumäniens und Bulgarien für die nähere Zukunft, in Falle Rumänien wohl auch für die fernere, ausfielen.

Im Übrigen entwickelte sich das Bündnis auch mit eigener Dynamik: da es die Regelung der Mobilmachungen vorsah (Art. 2), ergab sich eine Wirkungskette eigener Art: diese Mobilisierungen waren auch 1892/94 bereits von außerordentlicher Bedeutung, allerdings verstärkte sich diese noch bis 1914 zu der Situation, dass die Mobilmachung wegen der beiderseitigen Offensivpläne bereits als Kriegsfall im militärischen Sinn angesehen wurde: die militärischen Planungen "überholten" hier die völkerrechtlichen Betrachtungen.

Ja, diese vertraglich geregelte Dynamik war schon ziemlich heftig.
 
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Das wäre kein Krieg, den Russland vom Zaun bricht ("Angreifer"), sondern in den Russland durch Bündnisverpflichtungen hineingezogen wird.

Im Übrigen entwickelte sich das Bündnis auch mit eigener Dynamik: da es die Regelung der Mobilmachungen vorsah (Art. 2),...

Um das noch mal zu präzisieren:

Genau den Fall der Julikrise 1914 sahen bereits die französisch-russischen Gesprächsergebnisse und Vertragsentwürfe bis zur Realisation 1894 vor; beide Parteien gingen davon aus, dass Deutschland in den österreichisch-russischen Balkankrieg (automatisch!) hineingezogen werden würde. Genau den Fall deckte die "Mobilmachungsklausel" auf russischen Wunsch indirekt ab, ohne ihn formal/wörtlich anzusprechen.

Siehe zur Entstehungsgeschichte und zur Bedeutung von Artikel 2: Jakobs, Das Werden des französisch-russischen Zweibundes 1890-1894.

Poincaré kann vor diesem Hintergrund des Paktes keine Verschiebung der Koordinaten des Bündnisses vorgenommen haben: der Fall der Julikrise war eben bereits/seit 1894 programmiert.


Trotzdem eine nicht ganz unproblematische Angelegenheit. Russland besaß nämlich so einem Hebel, der es ermöglichte, Frankreich in einem Krieg auf dem Balkan hinzuziehen, "nur" weil es dort originär russische Interessen wissen gewahrt wollte bzw. durchsetzten wollte. Schon Miniterpräsident Vivani hatte genau hier im Juli 14 so seine Probleme, da ihm Serbien nämlich nicht weiter interessierte und er deshalb dazu neigte, eine entgegenkommendere Position zu vertreten.
Den Hebel hatte man seit 1892/94.

Übrigens ist René Viviani als Person ganz interessant: bei seiner Einweisung von Poincaré auf der Fahrt der FRANCE fehlte jede Brisanz im Hinblick auf die Krise, was vermuten läßt (->Schmidt), dass die Deklaration in Petersburg spontan erfolgte, und daraus folgend auch keine Neujustierung der französischen Position beabsichtigt war. Außenpolitisch war Viviani völlig unerfahren, und hatte als Premier rein gar nichts zu melden.
 
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Obruchevs Gedanke, den er ja schließlich auch gegenüber Boisdeffre massiv durchgesetzt hatte, war ja, dass Russland im Falle eines Krieges mit Österreich-Ungarn vor einen schnellen deutschen Angriff gesichert sein sollte, da das Deutsche Reich nämlich in seinem Rücken mit der französischen Armee rechnen musste.

Die von mir oben erwähnten Gefahren erkannte Frankreich sehr deutlich. Schon der General Miribel schrieb dazu:“ Ihre Forderung könne nur bedeuten, dass bei jedem österreichisch-russischen Konflikt gleich ganz Europa in Flammen stehe, obwohl die Donaumonarchie nur ein Macht zweiten Ranges sei.“ (1)


Übrigens ist René Viviani als Person ganz interessant: bei seiner Einweisung von Poincaré auf der Fahrt der FRANCE fehlte jede Brisanz im Hinblick auf die Krise, was vermuten läßt (->Schmidt), dass die Deklaration in Petersburg spontan erfolgte, und daraus folgend auch keine Neujustierung der französischen Position beabsichtigt war. Außenpolitisch war Viviani völlig unerfahren, und hatte als Premier rein gar nichts zu melden.


Zustimmung. Schon ein wenig tragisch, den immerhin oblag ihm die Außenpolitik seines Landes, aber gegen einen Poncaré war er machtlos.


(1) Jakobs, Das Werden des französisch-russischen Zweibundes
 
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Die von mir oben erwähnten Gefahren erkannte Frankreich sehr deutlich. Schon der General Miribel schrieb dazu:“ Ihre Forderung könne nur bedeuten, dass bei jedem österreichisch-russischen Konflikt gleich ganz Europa in Flammen stehe, obwohl die Donaumonarchie nur ein Macht zweiten Ranges sei.“ (1)

Und das wurde akzeptiert!

Die Kette wäre formal nur zu durchbrechen, wenn das Deutsche Reich auf den österreichisch-russischen Konflikt nicht reagiert bzw. darin den casus foederis für den Zweibund sieht.
 
Die Kette wäre formal nur zu durchbrechen, wenn das Deutsche Reich auf den österreichisch-russischen Konflikt nicht reagiert bzw. darin den casus foederis für den Zweibund sieht.

Und das hätte in der Sache bedeutet, das man Balkan mehr oder weniger den Russen als "Spielfeld" überlassen worden wäre.

Übrigens haben die Russen schon gleich nach der Miltärkonvention im Zuge der Armenienkrise die Mobilisierung der französischen Armee zu erreichen. Nur hat der damalige französische Außenminister Berthelot diesen russischen Anspruch nicht gleten laßen. War es nicht, das die französische Staatsführung sich lange gegen die Implikationen der Artikel I und II gewehrt hat? Man war bei der Auslegung der Artikel bemüht, sie im französischen Sinne weniger eng zu interpretieren. Irgendwo auch verständlich.

Erst ein Delcassé hat die Artikel mit anderen Augen betrachtet und dadurch gewann dann die Militärkonvention an Bedeutung.
 
War es nicht, das die französische Staatsführung sich lange gegen die Implikationen der Artikel I und II gewehrt hat? Man war bei der Auslegung der Artikel bemüht, sie im französischen Sinne weniger eng zu interpretieren. Irgendwo auch verständlich.

Das ist sehr verständlich, ein restriktiver Auslegungsversuch entgegen der zwangsweise akzeptierten Formulierung.

Die Frage ist nun, wie lange man sich das leisten konnte. Da könnte man tatsächlich einen Wendepunkt 1911 sehen. Wenn der Wert der "Lebensversicherung Russland" hoch genug steigt, geht das eben nicht mehr.

Jakobs analysiert dazu die zwei "Stellschrauben" England und Italien im Bündnisversprechen. Deren Positionierung entscheidet mit über die Auslegung des Zweiverbandes. Beider Position - für den Ernstfall - war eben in der Julikrise "unklar", was Frankreich an Russland kettete.
 
Ich glaube, wenn Frankreich sich ernsthaft bemüht hätte, dann hätte es Italien schon vor der Jahrhundertwende aus dem Dreibund herausbrechen können. Dann wäre diese Gefahr gebannt gewesen, aber dazu fand man sich nicht bereit.

Allerdings muss man Frankreich und Russland zubilligen, das die Haltung Großbritannien ungewisse war, ja man mutmaßte ja, dass die Briten in irgendeiner Form, nicht zwangsweise vertraglich, den Dreibund beigetreten sind. Entsprechende Meldungen kamen beispielsweise aus den diplomatischen Vertretungen Petersburgs in Wien und Konstantinopel. (1)

Die italienische Postion war doch eigentlich klar. Der Casus Foederis war nach italienischer Lesart nicht gegeben. Italien hatte seit der Vereinbarung mit Frankreich seine Truppen an der Grenze zu Frankreich ohnehin immer stärker ausgedünnt gehabt. Die Sympathien für den Dreibund Poliios haben daran auch nicht viel geändert. Stattdessen wurden mehr Truppen an der Grenze zur Donaumonarchie stationiert. Österreich-Ungarn stand den italienischen Begehrlichkeiten auf dem Balkan js sowieso im Wege.

Großbritanniens Haltung war in der Tat bis zum Ende offen, da man es verstanden hat, sich nicht durch bindende Zusagen die Handlungsfreiheit nehmen zu lassen. Daher ja auch die Hoffnungen der Reichsleitung; obwohl man es hättes besser wissen müssen.

Die Frage ist nun, wie lange man sich das leisten konnte. Da könnte man tatsächlich einen Wendepunkt 1911 sehen. Wenn der Wert der "Lebensversicherung Russland" hoch genug steigt, geht das eben nicht mehr.


Die Zeit lief ohnehin gegen Frankreich und auch Großbritannien. Beide gerieten mehr und mehr in eine gewisse Abhängigkeit vom Zarenreich. Der eine mehr, der andere weniger. Spätestens 1917 wäre die russische Macht außerordentlich gewesen und Frankreich ganz sicher der Juniorpartner geworden.

(1) Kennan, Allianz S.128
 
Großbritanniens Haltung war in der Tat bis zum Ende offen, da man es verstanden hat, sich nicht durch bindende Zusagen die Handlungsfreiheit nehmen zu lassen. Daher ja auch die Hoffnungen der Reichsleitung; obwohl man es hättes besser wissen müssen.

Der britische Außenminister drückte sich gegenüber dem französischen Botschafter, Paul Cambon, nach dessen Aussage, dass die französische Flotte ins Mittelmeer verlegt werde, wenn die britische Flotte den Schutz der französischen Küste übernehme, so aus, dass sich durch einen Angriff Deutschlands auf Frankreichs Küste die Lage ändern würde, genauso wie durch einen Bruch der belgischen Neutralität Deutschlands. Zur Zeit sei die Situation aber so, dass Deutschland bereit ist, Frankreich nicht anzugreifen, wenn dieses im Falle eines Krieges zwischen Deutschland und Russland neutral bleibe. Zudem, hebt er vor, bestünde für England keine Verpflichtung, an einem Krieg teilzunehmen, in den Frankreich nicht aus eigenem Antrieb, sonders aus Bündnispflicht gegenüber Russland eintrete.

Das lässt schon eine überdeutliche Animosität der Briten gegenüber Russland erkennen. Da hätte Deutschland mit ein wenig politischer Klugheit hebeln können. Gerade in der Voraussicht, dass im Konfliktfall auf dem Balkan eine russische Übermacht im Hinblick auf den Bosporus von Großbritannien alles andere als erwünscht war.
 
Am 01.August 1914 hatte der deutsche Botschafter in London Fürst Lichnowsky ein Telegramm an den Staatsekretär des AA Jagow gesendet. Lichnowsky informierte darüber, dass Großbritannien und Frankreich neutral bleiben würden, wenn das Deutsche Reich Frankreich nicht angreifen würde. Die Freude war natürlich groß und Wilhelm II. ließ für die Herren Bethmann, Moltke, Tirpitz, Lynken und Plessen Sekt kredenzen.

Nur hatte Grey gegenüber Lichnowsky gepokert gehabt, denn das britische Kabinett hatte sich am 01.August noch nicht entschieden gehabt. Des Weiteren stand dies für Frankreich auch gar nicht zur Diskussion. Frankreich und wohl auch Großbritannien konnten es sich wohl gar nicht leisten, ihren Verbündeten im Regen stehen zu lassen.

Noch am gleichen Abend hatte dieses angebliche Angebot Greys keinen Bestand mehr.
 
Am 01.August 1914 hatte der deutsche Botschafter in London Fürst Lichnowsky ein Telegramm an den Staatsekretär des AA Jagow gesendet. Lichnowsky informierte darüber, dass Großbritannien und Frankreich neutral bleiben würden, wenn das Deutsche Reich Frankreich nicht angreifen würde.

Ich habe den Grey-Band erst am Wochenende zur Hand.

Hast Du weitergehende Informationen, was dieser Vorgang in letzter Minute sollte? Eine Begrenzung des Krieges auf Ö-U und Russland, das wäre wohl eine Illusion gewesen, da die deutsche, russische und österreichische Mobilmachung und das Ultimatum an Petersburg schon liefen.

Hat Frankreich nicht am 1.8. nachmittags die Mobilmachung ebenfalls ausgerufen?
 
Auszug aus dem Telegramm vom 29.07.1914 von Lichnowsky an Jagow
„[…] Die britische Regierung wünsche sich nach wie vor mit uns die bisherige Freundschaft zu pflegen und sie könne, solange der Konflikt sich auf Österreich und Russland beschränke abseits stehen. Würden wir aber gegen Frankreich hineingezogen, so sei die Lage sofort eine andere und die britische Regierung würde unter Umständen sich zu schnellen Entschlüssen gedrängt sehen. In diesem Falle würde es nicht angehen, lange abseits zu stehen und zu warten, if war breaks out, it will be the greatest catastrophe that the world ever has seens.“ (1)

Hier hat sich das angebliche Angebot bereits abgezeichnet.

Am 01.August hatte der Kaiser bekanntermaßen die Mobilmachungsurkunde unterzeichnet gehabt. Kurz nach der Unterzeichnung erschien der Staatsekretär des Auswärtigen Amtes von Jagow und kündige eine wichtige Depesche aus London an. Moltke und Falkenhayn wollten nicht abwarten, sondern zur Tat schreiten. Sie machten sie möglicherweise Sorgen, der Kaiser könnte es sich anders überlegen. Kurz darauf kam das folgende Telegramm aus London an.

Auszug aus dem Telegramm vom 01.08.1914 von Lichnowsky an Jagow

„Sir Edward Grey lässt mir soeben durch Sir W. Tyrell sagen, er hoffe mir heute Nachmittag als Ergebnis einer soeben stattfindenden Ministerberatung Eröffnungen machen zu können, welche geeignet wären die große Katastrophe zu verhindern. Gemeint damit scheint zu sein, nach Andeutungen Sir Williams, dass, falls wir Frankreich nicht angriffen, England auch neutral bleiben und die Passivität Frankreichs verbürgen würde. Näheres erfahre ich heute Nachmittag.“ (2)

Diese erstaunliche Neuigkeit schlug wie eine Bombe ein. Man war sich nunmehr sicher, den Krieg zu gewinnen. Moltke und Falkenhayn wurden ins Schloss zurückgerufen. Moltke erklärte den Kaiser, er könne den Aufmarsch nach Westen nicht mehr aufhalten zu können. Wilhelm II. und Bethmann bedrängten Moltke. Eigentlich hätte wohl die Mobilmachung nach gerade einmal einer Stunde geändert werden müssen können; auch wenn Moltke das Gegenteil behauptete. Der Ostaufmarsch war bis 1913 jedes Jahr bearbeitet worden. Es hätte also möglich sein müssen, diesen mit entsprechenden Modifikationen umsetzen zu können.

Wilhelm ließ sich auch nicht durch Moltkes Beharren beeindrucken und kabelte nach Trier, das die 16.Division nicht nach Luxemburg einrücken solle.
Des Weiteren einigten sich. Bethmann sollte eine Telegramm an Lichnowsky senden. Deutschland war bereit auf den Vorschlag Großbritanniens einzugehen. Die deutschen Truppen würden angehalten werden und bis auf weiteres in ihren Versammlungsorten stehen bleiben. (3)

Spät abends kam dann die ernüchternde Mitteilung aus London, das Grey sein Angebot zurückgenommen habe. (4)

Schließlich kam eine definitive Absage des britischen Königs Georg V. Das britische Kabinett war sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einig und deshalb hat Grey taktiert. (5)

(1) Geiss, Juli 1914, S.288
(2) Geiss, Juli 1914, S.351
(3) Meyer Arndt, Julikrise, S.257
(4) Afflerbach, Falkenhayn, S.166
(5) Mommsen, Bürgerstolz, S.560
 
Welche Intention Grey nun mit dieser ganzen Aktion verfolgte, ergibt sich aus der mir zur Verfügung stehenden Literatur nicht.

Ich könnte mir gut vorstellen, das er bemüht war, Zeit zu gewinnen, da das britische Kabinett ja bekantermaßen noch unentschlossen war. Jedenfalls hätten die deutschen Verantwortlichen bei nüchterner Betrachtung erhebliche Zweifel an demn Wahrheitsgehalt dieses Angebots kommen müssen. Es war schlicht unrealisitisch, das zumindest Frankreich abseits stehen bleiben würde. Und das der deutsche Einmarsch in Belgien die Briten spätestens dann auf dem Plan rufen würde, war doch eigentlich auch klar. Alles andere war Wunschträumerei.
 
Welche Intention Grey nun mit dieser ganzen Aktion verfolgte, ergibt sich aus der mir zur Verfügung stehenden Literatur nicht.

Ich könnte mir gut vorstellen, das er bemüht war, Zeit zu gewinnen, da das britische Kabinett ja bekantermaßen noch unentschlossen war.

Das erscheint dann höchst unklar.

Die "Zeitgewinn-These" macht auch aus der Sicht Sinn, dass Grey einen Krieg an sich verhindern wollte, während Deine These offenläßt, ob er (nur!) die Kriegsentscheidung des Kabinetts abwarten wollte.

- welche Kontakte und Absprachen bestanden mit Frankreich?
- war man britischerseits über die frz. Mobilmachung informiert?
- welche Wirkung räumte man den Drohgebärden ein (zB Bereitschaft der Royal Navy)?
- welcher sonstige Druck lag auf Grey (zB Panik am Londoner Kapitalmarkt, Öffentlichkeit)?
- welchen Nutzen hatte britischerseits überhaupt ein Zeitgewinn, also eine Täuschung?

Ohne die britischen Quellen (Lichnowskys Interpretation des Gespräches kann Fehler enthalten) kommen wir da nicht weiter.
 
Hinweis auf eine neue Publikation ...

Sean McMeekin: Russian Origins of the First World War, 2011

... mit einer sehr kontroversen Besprechung im April-Heft 2012 des JoMH (Autor: Timothy Dowling, "The Brusilov Offensive", "Personal Perspectives: World War I ", ), der die provokanten Thesen von McMeekin (zugespitzt: quasi die Alleinschuld Sazonovs am Kriegsausbruch, der inkl. seiner Alliierten alle getäuscht habe) als Auftakt einer weiteren Diskussion in der Literatur sieht.

Dowling lobt an der neuen Darstellung allerdings die Detailarbeit, zB zur russischen Mobilmachung, die nach McMeekins Forschungen früher als bisher unterstellt angesetzt wurde, und auch im vollem Umfang. Dowling kritisiert das Auslassen anderer konträrer Forschungsergebnisse, so Russlands Verhalten ggü. dem Osmanischen Reich.
 
Hinweis auf eine neue Publikation ...

Sean McMeekin: Russian Origins of the First World War, 2011

... mit einer sehr kontroversen Besprechung im April-Heft 2012 des JoMH (Autor: Timothy Dowling, "The Brusilov Offensive", "Personal Perspectives: World War I ", ), der die provokanten Thesen von McMeekin (zugespitzt: quasi die Alleinschuld Sazonovs am Kriegsausbruch, der inkl. seiner Alliierten alle getäuscht habe) als Auftakt einer weiteren Diskussion in der Literatur sieht.

Dowling lobt an der neuen Darstellung allerdings die Detailarbeit, zB zur russischen Mobilmachung, die nach McMeekins Forschungen früher als bisher unterstellt angesetzt wurde, und auch im vollem Umfang. Dowling kritisiert das Auslassen anderer konträrer Forschungsergebnisse, so Russlands Verhalten ggü. dem Osmanischen Reich.
Gibt es das auch in deutscher Übersetzung?
 
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