Ursachen der Weltkriege

Pan-Slavismus: Russlands Risikoflotte?

Bei der Darstellung des Weltbildes der höchsten Offiziere Stalins ist mir häufiger die Bezugnahme auf die imperiale zaristische Tradition Russlands aufgefallen. Die Bezugnahme auf die Wurzeln imperialen Denkens ist dabei nicht unerheblich durch die Außenpolitik Peter des Großens geprägt und durch sein mehr oder minder konstantes Streben nach zielgerichteter Expansion. Ein Prozess, der bis in die post-napoleonische-Ära nachgezeichnet werden kann.

The Grand Strategy of the Russian Empire, 1650-1831 - John P. LeDonne - Google Books

Der Krimkrieg (1853 1856) stellte im wesentlichen eine Zäsur dar und war ein Kräftemessen der europäischen Mächte, die aus unterschiedlichen Interessen den Zugriff Russlands auf das zerfallende Ottomanische Reich verhindern wollte. Zentral war dabei für die Westmächte die Verhinderung des Zugangs Russlands zum Mittelmeer (Suez-Kanal, Beginn Bauarbeiten 1859) und für Russland war die Erlangung der Kontrolle über den Zugang zum Schwarzen Meer und der Zugang zum Mittelmeer und somit zum atlantischen Handel zentral.

Krimkrieg
Crimea - Orlando Figes - Google Books

Der Krimkrieg: Geburtsstunde der Weltmacht Russland - German Werth - Google Books

Der Krimkrieg von 1853 und seine Bedeutung für die europäischen Mächte - Markus Schneider - Google Books

Während des Krimkrieges wurde der technologisch, logistisches Rückstand Russlands besonders deutlich und ist eine Erklärung für den Ausgang des Konflikts auf der Krim (vgl, Figes: Crimea).

Der Rückstand wird besonders deutlich an der bewußten Vernachlässigung der Industrie und auch dem gezielten Nicht-Ausbau der Infrastruktur, vor allem der Eisenbahnwege. Diese innenpolitische anti-modernistische Haltung der Zaren entsprang der Idee, so Robinson & Acemoglu, durch eine Verzögerung der Industrialisierung die feudalen, absolutistischen Strukturen in Russland zu erhalten und das Anwachsen des Proletariats zu verlangsamen.

Defizite in der Industrialisierung
Why Nations Fail: The Origins of Power, Prosperity, and Poverty - James Robinson, Daron Acemoglu - Google Books
Map 13: Railroad in Europe in 1870

Nach der Niederlage auf der Krim wurde jedoch deutlich, dass es einen Widerspruch zwischen dem innenpolitischen Programm und der imperialen Ausrichtung Russlands gab und eine Modernisierung der Streitkräfte nicht ohne eine Industriealisierung Russlands zu erzielen war (vgl. Geyer: Der russische Imperialismus).

Die energischen Anstrengungen zur Industriealisierung führten in der Folge zu einer realtiven Verarmung der russischen Aristokratie (vgl. Münkler: Imperien, S. 41/42). Und führten somit zu einer Destabilisierung des absolutistischen Systems bzw. des ihn tragenden feudalen, agraischen Systems.

Verschärft wurde diese Situation zusätzlich durch den verlorenen Krieg in Fernsost (1904/05) und verdeutlichten die Gefahr eines relativen Abstiegs auf dem Kreis der großen Mächte.

Vor diesem Hintergrund sah sich Russland genötigt, einen massiven Kapitalimport für die beschleunigte Modernisierung seiner Industrie bzw. Armee zu ermöglichen. Das Kapital beschaffte sich Russland in Paris und beschleunigte die Annäherung an Frankreich. Dem die reaktionären russische Aristokratie allerdings persönlich wenig Sympathie entgegenbrachte.

OT: Warum wurde eigentlich nicht Kapital aus Deutschland beschafft?? Weil Deutschland kein finanzstarker Platz war, im Gegensatz zu London oder Paris?

Gleichzeitig setzte die Veränderung der Machtstrukturen in Russland die Herrschenden unter Druck und erforderte ein nationales, patriotisches Ziel für seine Außenpolitik. Durch außenpolitische Konflikte zu einer innenpolitischen Situation der erzwungenen "Friedensflicht". Vor allem auch vor dem HIntergrund der revolutionären Ereignisse der Jahre 1904/05.

Vor diesem Hintergrund bot sich eine symbolische Unterstützung an, die auf die Einigung bzw. Hegemonie gegenüber allen Slaven abzielte und lokal auf dem Balkan die Ambitionen in Richtung "Erschaft" am Bosporus absicherte.

Dieses brachte Russland in eine Konfrontationsposition gegenüber den deutschen Interessen auf dem Balkan und im Nahen Osten, wie es bei Ritzler deutlich beschrieben wird.

Und in diesem Kontext der Bestrebungen Russlands in Richtung Bosporus sind wesentlich auch die Thesen von McMeekin angesiedelt.

The Russian Origins of the First World War - Sean McMeekin - Google Books
 
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Thane: sehr schöner Beitrag!

Hinterfragen würde ich die These einer ansatzweise vorsätzlichen Verzögerung der industriellen Entwicklung, insbesondere der Eisenbahn. Diese war stets auch eine Frage der Finanzierung, und im Fall der Länder ohne stark expandierende Montanindustrie von Zugang zu und Attraktivität für gut funktionierende Kapitalmärkte abhängig.

Bei Russland kommen die gewaltigen Entfernungen hinzu. Koloniale Phantasien in Fernost beflügelten hier den forcierten Bau, ebenso wie in Westrichtung etwa die dortigen industriellen Entwicklungen. Hier würde es sich lohnen, auch die Geschichte der ausländischen Finanz- und Sachinvestitionen unter die
Lupe zu nehmen, die für die Entwicklung in der 2. Hälfte des 19. Jhdts in RUS bedeutend waren.

Die Finanzierung der russischen Entwicklung (nur) durch deutsche Kapitalmärkte - in Alternative insbes. zu Paris - war wohl nicht möglich, die frz. und britischen Möglichkeiten spielten drei Ligen höher. Hinzu kam der deutsche Eigenbedarf durch die binnenwirtschaftlichen Entwicklungen, der Bedarf für die Finanzierung der deutschen industriellen Expansion.

Eine weitere interessante Frage ist, inwiefern der Panslawismus durch die deutsche und italienische Einigung beeindruckt wurde, die stark beachtet wurden. Andere Fragen betreffen die Entwicklung und Hintergründe der Germanophobie weiter russischer Kreise.
 
In den ersten Kapiteln setzt er (Meekin)sich mit Sichtweise des Zarenreichs seit ca. 1900 auseinander und beleuchtet die zentralen außenpolitischen Probleme, mit denen sich die politische Elite um den Zaren konfrontiert sah. Und widerspricht sehr deutlich der These, dass Russland wegen Serbien oder wegen einer angeblichen panslawistischen Solidarität Krieg geführt hätte.

Ähnlich wie für Deutschland konstatiert er, dass man sich eingekreist fühlte. Und es zu der paradoxen Situation kam, dass der Versuch eine „sichere Position“ durch einen expansiven Kurs im Verhältnis zu anderen großen Mächten zu gewinnen, im Ergebnis dazu führte, dass die objektive Sicherheit reduziert wurde.

Die Ursache für diese paradoxe Entwicklung lag im wesentlichen daran, dass die Lösung von Problemen durch Expansion auf der einen Seite, vor allem an der russischen Süd- bzw. Fernost-Grenze , einzelne Konfliktherde vordergründig entschärften, allerdings um den Preis, dass durch die Expansion weitere Konflikte mit anderen Volksgruppen entstanden.

Im Vorfeld des WW1 wurde aus russischer Sicht das Ottomanische Reich, kurz OT, und auch teilweise Österreich-Ungarn, kurz Ö-U, als politisch instabil beurteilt. Aus der Sicht Russlands bedeutete es, dass die Kontrolle vor allem der Dardanellen im Prozess des Zusammenbrechens des OR von höchster strategischer Bedeutung sein müsste.

In diesem Sinne ist seine These, dass Russland den WW1 geführt hat, um die Bedrohung an seiner südlichen Flanke durch die Kooperation von OR und DR zu unterbinden. Im Vorfeld des WW1 sah es primär die russische Diplomatie es ein wichtiges Ziel an, den Eisenbahnbau vor allem in Anatolien zu behindern, um die militärische Bedrohung aus dieser Richtung zu begrenzen.

Durch die Dardanellen führte ein großer Teil des russischen Im- und Exports. Mit der Sperrung der Durchfahrt im Sommer 1912 während des Krieges zwischen dem OR und Italien wirkte sich die relativ kurze Durchtrennung der wichtigsten Handelsverbindung verheerend auf die Außenhandelsbilanz Russlands aus und verdeutlichte nach dem Krimkrieg erneut die herausragende strategische Bedeutung der Kontrolle über die Dardanellen.

Bereits ab 1908, so Meekin, kam es zu einer verschärften Situation für die russische Bewertung als der britische Admiral Limpus als Berater der ottomanischen Marine nach Istanbul geschickt wurde.

Diese wurde durch drei weitere Aspekte zusätzlich verschärft und führte dazu, dass das Zeitfenster für eine erfolgreiche maritime Aktion der Russen zur Gewinnung der Kontrolle über die Dardanellen eingeschränkt wurde.

Neben der Entsendung von Limpus wurde bekannt, dass private!!! Firmen aus GB 3 plus 1 State oft the Art Dreadnoughts an das OR liefern würden. Diese Schiffe würden das maritime Gleichgewicht drastisch zu Gunsten des OR verändern. Bereits Juni/Juli 1914 sollte Limpus das erste Schiff persönlich überführen. Nach dem Ausliefern des ersten Schiffs wäre an eine direkte maritime Landung der Russen nicht mehr zu denken gewesen.

Neben den Russen entwickelte der bulgarische Zar ein starkes Interesse, das Erbe des OR anzutreten und die Dardanellen zu kontrollieren. Diesem Ansinnen standen die Russen sehr ablehnend gegenüber und dennoch verschärfte dieses Interesse ihren subjektiv wahrgenommenen Druck, handeln zu müssen.

Im Kontext des Baus der Bagdad-Bahn wurde die Entsendung des deutschen Generals Liman von Sanders (November 1913) und 40 weiterer Offiziere als extrem bedrohlich durch die Russen angesehen. Zumal die offizielle Mission in dem Kommando über die Befestigungen an den Dardanellen lag.

Aus der Sicht der Russen hatte somit das DR einen direkte Zugriff auf die wichtigste Handelsverbindung der Russen und konnte die wirtschaftliche Entwicklung Russlands sehr deutlich und sehr nachhaltig beeinträchtigen bzw. gefährden.

Neben diesen unmittelbaren „rationalen“ Gründen für die Begründung des Interesses Russlands an einem Konflikt, so Meekin, um den Zusammenbruch des OR und auch von Ö-U zu beschleunigen, ergab sich in den höchsten Regierungs- und Adelskreisen Russlands, aufbereitet durch eine entsprechende Stimmungsmache in den Medien, eine deutliche nationalistische Strömung, die den Krieg mit Deutschland als wünschenswert ansah.

Unterstützt und gefordert durch den französichen Botschafter und noch zusätzlich begünstigt durch die Anwesenheit von Poincare in Russland im Juni 1914 und seinem Zusammentreffen mit Sazonov. In dessen Kontext, so Meekin, eine harte Haltung vereinbart wurde, die jedoch nicht zwangsläufig kriegsorientiert war, so Meekin.
 
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Die Situation in Russland vor dem WW1 war wesentlich durch zwei Großereignisse geprägt, die sich vielfältig auf die außen-, militär-, und innenpolitischen Entscheidungen ausgewirkt hat.

Der verlorene Krieg mit Japan war für das russische Reich und seine Armee eine tiefgreifende militärische und vor allem auch moralische Niederlage. Und zeigte erneut (nach dem Krimkrieg) im Ergebnis, dass Russland in Bezug auf seine militärischen Doktrinen, die Qualität seiner Führung, im Bereich der Logistik und nicht zuletzt aufgrund des geringen Ausbildungsniveau seiner Soldaten im Vergleich zu den führenden Armeen nicht „Kriegsführungsfähig“ war.

Die unmittelbare militärische Ursache des russischen Scheitern von Kuropatkin (russischer OB in der Mandschurei 1905) führt Harrison [1, S. 23] auf ein mangelhaftes Verständnis offensiver Operationen zurück.

Verschärft wurde die Situation Russland durch eine Welle von Streiks im Rahmen der Revolution von 1905 und Nicholas II konnte nur durch weitgehende Zugeständnisse an das liberale Bürgertum und die Arbeiterschaft, die revolutionäre Situation entschärfen. Ausgehend von dieser Ereignissen wurden eine Reihe von Maßnahmen durch Stolypin (Premier Minister 1906 – 1911) initiert, die einerseits auf eine reaktionäre Einschränkung der zugesagten demokratischen Reformen von 1905 und andererseits auf einen radikalen Industrialisierungskurs für Russland hinausliefen. Und Russland erreichte als Ergebnis dieser Anstrengungen in 1913 Platz 5 in der Liste der Nationen mit der höchsten industriellen Produktion.

Die militärische Situation nach dem Russisch – Japanischen Krieg von 1904/05 faßte einer der Beobachter folgendermaßen zusammen: „We did not know modern war“ [1, S.23]. Der russische Generalquartiermeister beschrieb die Situation zwischen 1905 und 1910 dahingehend, dass sich Russland in einer Phase kompletter militärischer Hilflosigkeit befand. [1, S.39].

Im Rahmen des „Großen Programms“ (1913) sollte die Armee von 1,2 Mio auf 1,7 Mio bis 1917 erweitert werden. Für den Kriegsbeginn kam es zu spät, da es erst in 1914 beginnend realisiert wurde. Vor allem die Ausstattung mit Artillerie wies gravierende Defizite auf.

Aufbauend auf den Arbeiten G.A. Leer (1829-1904), der die Gruppierung der „Front“ wesentlich vorantrieb, entwickelte sich ein vielfältiges, teils antagonistisches, Verständnis militärischer Themen. In diesem Sinne konnte man im pre WW1 Russland drei antagonistische Lager identfizieren. 1. Die offizielle Sichtweise um Kriegsminster Sukhomlinov und Generalsstabschef Zhilinskii (1911-1914), so Harrison [1, S. 27], haben die Konsequenzen des russisch japanischen Krieges nicht verstanden und verfügten über ein eher antiquiertes militärisches Verständnis. 2. Die sogenannten „Jungen Türken“ (unter anderem gehörte Svechin zu dieser Gruppe) standen hierarchisch unter der ersten Gruppe, lieferten aber die wichtigsten Einsichten in die Anpassung der militärischen Doktrin. 3. Eine dritte Gruppe verschrieb sich einer rückwärtsgerichteten Romantisierung der Strategieformulierung und suchte im nationalen Pathos den spezifischen Zugang zur Strategie im Rahmen einer „genuin russischen militärischen Tradition“. Der Konflikt wurde in 1913 mit dem kompletten Triumpf von Sukhomlinov beendet und einer Niederlage der Reformkräfte.

Am Vorabend des WW1 wurde das erste mehr oder minder umfassende Werk zur Anleitung der Armee (Regulations on the Field Control of Troops in Wartime) vorgelegt und erst nach Ausbruch des Krieges der Armee zugänglich gemacht. An diesem Punkt kann man unschwer erkennen, in welch problematischen Zustand sich das komplette Verständnis von Operationen und taktischem Verhalten befand [1, S.38].

Pläne für den Aufmarsch 1910 (Danilov) und 1912 (Alekseev): Für Russland kann man einen ähnlichen Konflikt zwischen den rivalisierenden Planungen für den „West-Aufmarsch“ der Armee erkennen. An der Aufstellung lässt sich vor allem die politischen Ziele, abgeleitet aus den antizipierten militärischen Erfolgen erkennen. Der Plan von 1910 war ein aus der militärischen Schwäche geborener reiner Defensivplan, der die russischen Streitkräfte sehr weit nach Osten verlegt hätte und Polen nahezu aufgegeben hätte, samt seiner Befestigungen. Verstärkt wurde diese Sichtweise 1910 durch Einschätzungen des Geheimdienstes, dass Frankreich zunehmend durch Pazifismus und eine dekadente Konsumorientierung geprägt war. Und das es durchaus möglich wäre, dass Frankreich sich für eine Neutralität entschied und somit seinen Revisionismus begrub [3, S. 169]. Eine Sichtweise, die auch Sukhomlinov teilte und zur Schlussfolgerung kam, dass sich Russland in einem zukünftigen Krieg primär auf seine Kräfte verlassen muss.

An diesem Punkt ergeben sich Parallelen zu McMeekin, der die Dynamisierung des Konflikts durch Russland ebenfalls in der Befürchtung sah, dass Russland bei einem Ausscheiden Frankreichs isoliert dastehen würde [2].

In 1912 ergab sich ein verändertes Bild. Die Kenntnis der Planungen von Ö-U war relativ umfangreich und zutreffend, die die Unterlagen eines wichtigen „Kriegsspiels“ den Russen zugespielt worden sind. Anders war die Situation in Bezug auf die Deutschen, deren Schwerpunktbildung im Westen man zwar annahm, aber die Deckungskräfte für die „Ostfront“ nicht genau kannte und auch in ihrem Umfang überschätze. Es wurden ca. 25 aktive deutsche Divisionen im Jahr 1912 in Ost-Preußen angenommen.

Für die Mobilisierung der russischen Truppen und den kriegsmäßigen Aufmarsch ergaben sich primär zwei zentrale Probleme. Zum einen wies Russland in 1910 im westlichen Bereich des europäischen Russlands lediglich 1 km Schienenverbindungen auf, im Vergleich zu Deutschland mit 10,6 Kilometer in diesem Gebiet. Zum anderen ist Russland in 1910 zum Territorialsystem der Stationierung seiner Streitkräfte übergegangen und somit befanden sich die Divisionen, die durch Reservisten aufgefüllt werden sollten nicht beispielsweise im Warschauer Bezirk, sondern in ihren Rekrutierungsbezirken in Russland. Zum einen um die Wirtschaftskraft der russischen Wirtschaft direkt zugutekommen zu lassen und zum anderen, als Reaktion nach 1905, als Ordnungsfaktor im Falle von inneren Unruhen [3, S. 171].

Aus diesem Unterschied ergab sich, dass die deutschen und Ö-U Verbände innerhalb von ca. zwei Wochen durch die Leistungsfähigkeit des Schienentransports vollständig mobilisiert und stationiert waren, die entsprechenden russischen Verbände diesen Zustand erst nach ca. 40 bis 50 Tagen erreichen konnte. Am M+15 waren lediglich ca. 50 Prozent der russischen Einheiten disloziert [3, S. 159]. Besonders gravierend war dabei die noch länger dauernde Dislozierung der jeweiligen logistischen Einheiten, die substantielle für ein offensives russisches Vorgehen gewesen wären.

In der Folge wurden durch den Plan A (Offensive gegen Ö-U) und Plan G (basierend auf Danilov`s Defensivplanungen offensiv gegen Ostpreußen ausgerichtet) parallele Angriffsoperationen der russischen Armee geplant, die insgesamt ihre Fähigkeit und die Potentiale überstieg . Die Ursachen liegen dabei in der handwerklichen Durchführung der Kriegsplanung, basierend auf „Kriegsspielen“, die wesentliche Aspekte der Logistik nicht berücksichtigt hatten.

Die russischen Überlegungen zur finalen Aufmarschplanung aus dem Jahr 1912 waren sehr stark durch politischen Überlegungen zur deutschen militärischen Offensivkraft und der Beurteilung der französischen Fähigkeit zum erfolgreichen Widerstand.

Vor dem Hintergrund der einerseits mangelhaften Mobilisierungsfähigkeit der russischen Streitkräfte und andererseits des befürchteten, schnellen Zusammenbruch der „dekadenten“ [3, S. 157] ergab sich die grundsätzliche Notwendigkeit für die russischen Streitkräfte, eine frühzeitige Entlastung für Frankreich zu schaffen, indem Deutschland gezwungen werden sollte, Korps aus dem Westen in den Osten zu verlegen.

Diese Sichtweise, die speziell bei Danilov eher eine skeptische Beurteilung der französischen Widerstandskraft betraf , verstärkte noch den Druck auf die Zeitplanung. Es wurde befürchtet, dass ohne eine frühzeitige russische Offensive die französische Armee kollabiert und Russland sich dem gemeinsamen militärischen Potentials von Deutschland und Ö-U gegenüber sah. Eine Bedrohung, der es kaum militärisch gewachsen gewesen wäre.

Andererseits wurde der Anreiz für eine frühzeitige offensive russische Operationen gegen Deutschland zusätzlich durch die Aussicht verstärkt, lediglich gegen eine relativ schwache deutsche Position angehen zu müssen.

Zusätzlich wurde der Zeitdruck durch die Erwartungshaltung der Franzosen verstärkt, die erwarteten, dass die Russen am M+15 mit einer Großoffensive gegen Deutschland beginnen sollten. Das sollte eine substantielle Entlastung für die Franzosen erbringen.

Die überoptimistische Einschätzung der eigenen offensiven Potentiale durch die russischen Planer, so die Vermutung von Snyder [3, S. 196-198], entspringt dabei einer psychologischen Selbsttäuschung. Sofern sich die eigenen Streitkräfte in der Position einer relativen stabilen und geordneten Organisation befinden, verstärkt es die Bereitschaft für offensive Planungen und ein offensives Vorgehen. Meistens unter weitgehendem Ausblenden der Potentiale des Gegners und ist die psychologische Erklärung für die Überschätzung des Zustands der russischen Streitkräft im Sommer 1914. Eine Form der Selbsttäuschung, die ebenfalls nach 1911 für die französischen Streitkräfte galt.

Somit ergibt sich für mich als vorläufiges Fazit, dass Russland militärisch eigentlich nicht in der Lage war, einen Krieg mit Aussicht auf Erfolg zu führen. Aber genau dieser Umstand der eigentliche Angelpunkt für die russischen Haltung ist. Russland dynamisierte die Situation und instrumentalisierte den Pan-Slawismus, da es hoffte, die Potentiale Frankreichs und GB für die Verbesserung seiner Position als Großmacht nutzen zu können und teilweise das Erbe des Ottomanischen Reichs antreten zu können.

Dieses Fazit relativiert m.E. absolut nicht die Ergebnisse von Fischer zum deutschen Anteil am Ausbruch des WW1, dennoch wird die Tiefenschärfe für die komplizierten Prozesse, die zum WW1 führten, auch für die Haltung Russlands erhöht.

1. R.W. Harrison: The Russian Way of War. Operational Art, 1904 – 1940, 2001 University Press of Kansas
2. S. McMeekon: The Russian Origins of the First World War, 2011, Belknap Press of Harvard University Press
3. J. Snyder: The Ideology of the Offensive. Military Decision Makin and the Disasters of 1914, 1984, Cornell University
 
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Thanepower: Eine schlüssige, breit angesetzte Analyse der russischen Position vor 1914!

Dennoch kommt mir

a) das reaktive Element Russlands auf dem Balkan zu kurz, bei dem man weit weit mehr Getriebener der verschiedenen Krisen gewesen ist. Die russische Aktion zeigte sich hier - neben den Pleiten, Bulgarien unter komplette Kontrolle zu bekommen - in der Ziehung der absoluten Grenzlinie gegenüber Serbien gegen einen österreichischen Angriff zur Beseitigung des serbischen Staates. Gegen die sicher selbst gerufenen/verstärkten panslawistischen Geister hätte der Zarismus diese neuerliche Demütigung durch eine zweitrangige Macht - die sich in der russischen Wahrnehmung ohnehin in der Auflösung und im Verfall befand - kaum überlebt. Liman-von-Sander-Krise zeigt das ebenfalls, Agierender war wie in der ökonomischen Penetration des Osmanischen Reiches zunächst einmal das Deutsche Reich. Russland befand sich in der Position des "Verschnupften", zudem von GB hintergangen.

b) das aktive Element in Persien und im Mittleren Osten, Treiber gegen Großbritannien, zu kurz. 1914 war für GB im geforderten brit.-russ. Marineabkommen ein Wendepunkt entstanden, eine Situation des Offenbarungseids. Das war nach Liman-von-Sanders und bei zunehmenden Spannungen in Persien aus russischer Sicht der Test für die Haltbarkeit des Interessenausgleiches 1907.

In jedem Fall ist dem Ergebnis zuzustimmen, dass Russland im Juli 1914 im Prinzip nicht kriegsbereit gegen die Mittelmächte gewesen ist, bzw. dieser Krieg extreme Risiken bot.

Dowlings Resümee für das Buch von McMeekin:

"There are occasions, however, where McMeekin goes well beyond the documents into assumption and speculation. His discussion of Russian behavior during the July crisis, for example, begins with the admission that documentation is almost completely lacking. McMeekin notes particularly that “not a single scrap” regarding a summit of the tsar and his ministers from 20 to 23 July 1914 has ever surfaced. He nevertheless reconstructs “a basic narrative of Russian intentions during the July crisis” (p. 47). McMeekin also surmises that French and Russian diplomats “must obviously have discussed the impending Austrian ultimatum in detail and prepared a joint response”, “bland official communiqués not- withstanding” (p. 51) When Maurice Paléologue, France’s ambassador to Russia in 1914, records in his diary that Grand Duke Nicholas’s wife told him at a banquet that there would be war, moreover, McMeekin concludes that she was “the wife of the man who would soon take over as commander-in-chief of Russia’s armies. He must himself have said something similar”(p. 54). A note from Yanushkevich to Sazonov on negotiations to keep Turkey out of the war in August 1914 is presented as “a precious glimpse into Russia’s real war aims”(p. 107). Such provocation and hyperbole are undoubtedly intentional. The aim likely is to force scholars to re-examine Russia’s aims and role in 1914. McMeekin surely knows he cannot “prove” that Russia was responsible for starting the First World War; he admits as much in a footnote which, however, ends with a plea: “Surely we should at least consider the German point of view regarding whether or not a Russian mobilization directed against Berlin ‘meant war’”(260n78). Had McMeekin written a “scholarly” tome in a “normal” tone, this plea might well go unnoted, and McMeekin’s scholarship truly deserves notice. His work on Russian aims in the Middle East is unmatched and enlightening, if also framed in a somewhat confrontational manner. Like A. J. P. Taylor and (more recently) his fellow ex-pat in Turkey Norman Stone, McMeekin has authored a polemic that will provide careful readers with debating material for years to come."

Dowling, JoMH 2012, S. 583.
 
In jedem Fall ist dem Ergebnis zuzustimmen, dass Russland im Juli 1914 im Prinzip nicht kriegsbereit gegen die Mittelmächte gewesen ist, bzw. dieser Krieg extreme Risiken bot.

Und dennoch sah man in einem Warten noch größere Gefahren für die russische Großmachtstellung und ihre Vorstellungen einer angemessenen Süd-West-Expansion. Russland war getrieben, aber nicht ziellos.

Es war das Zeitfenster, das man für 1914 in Gefahr sah. Gerade weil Russland schwach war, auch maritim im Schwarzen Meer, stellte sich die Frage, wie man die Westmächte erfolgreich instrumentalisieren konnte, in einem Krieg gegen die Achsenmächte.

Es war sicherlich aus russischer Sicht immer eine ambivalente Allianz, begleitet durch die Frage, an welchem Punkt die Franzosen ihre Interessen höher gewichten im Vergleich zu ihren Bündnisverpflichtungen. Und noch problematischer war sicherlich, bereits traditionell, zu GB.

Und der Preis war für Russland die Kontrolle über den Balkan, indem man die entsprechende Erbteile von Ö-U und des Ottomanischen Reichs übernahm.

An diesem Punkt der historischen Konstanz des russischen Imperialismus sehe ich sogar eine Übereinstimmung zwischen McMeekin und Geyer

Der russische Imperialismus - Dietrich Geyer - Google Books

Vor diesem Hintergrund und er Kenntnis der Dislozierung der Armeen der Achse war die Bereitschaft für einen Waffengang sicherlich ein überschaubares Risiko. Und sicherlich geringer wie wenn Russland alleine gegen die Achse hätten kämpfen müssen.

Nachtrag: Ich finde Vergleiche häufig problematisch. Und auch in diesem Fall ist der Vergleich zu Taylor eher irreführend, da Taylor bewußt wichtige Aspekte seines Gegenstands (den "Intentionalismus" Hitlers) und die Position der UdSSR ignoriert. Das macht McMeekin nicht, sondern er beschäftigt sich, ähnlich wie Fischer, primär mit der Motivation aus einem nationalen Sichtwinkel.

Das ist durchaus eine subjektive Sicht, aber wie bei Fischer halte ich persönlich es für eine legitime Vorgehensweise. Eine subjektive Sichtweise, die man mit Fischer und anderen abgleichen muss, um sie zu objektivieren.
 
Und dennoch sah man in einem Warten noch größere Gefahren für die russische Großmachtstellung und ihre Vorstellungen einer angemessenen Süd-West-Expansion. Russland war getrieben, aber nicht ziellos.

Ohne Zweifel. Die russischen Aktivitäten im Frühsommer 1914 betrafen aber zunächst nicht Zuspitzung der Krise, sondern völlig getrennt die Festlegung Großbritanniens nach Liman-von-Sanders und im Zuge der der deutsch-britischen Entspannung. In der Juli-Krise zog man (nachweisbar ?!) die scharfe Trennlinie (nachvollziehbar ?!) mit dem Beistand für Serbien und der eindeutigen Warnung an Ö-U. Es gibt keine Hinweise, und hier spekuliert auch McMeekin nur ins Blaue, dass man etwa Anfang Juli auf den Krieg aus war.

Es war das Zeitfenster, das man für 1914 in Gefahr sah. Gerade weil Russland schwach war, auch maritim im Schwarzen Meer, stellte sich die Frage, wie man die Westmächte erfolgreich instrumentalisieren konnte, in einem Krieg gegen die Achsenmächte.

Ganz richtig! Für diesen Hinweis auf die spezielle maritime russische Sicht 1914, eng verwoben mit der Dardanellenfrage und dem aufgelegten (gewaltigen!) Rüstungsprogramm, bin ich hier im Forum einmal beinahe gesteinigt worden.=):D

Allerdings deutete Ende Juni 1914 alles darauf hin - so jedenfalls die Signale - dass man mit GB klarkommen werde. Auch diese Entwicklung bietet mE keine hinreichende Argumentation im Hinblick auf ein vorsätzliches russisches Zuspitzen in den Weltkrieg (mit Ausnahme der späten Phase, als die defensiv gezogene Grenzlinie für Ö-U in die russische Mobilmachung übergeleitet wurde).


Es war sicherlich aus russischer Sicht immer eine ambivalente Allianz, begleitet durch die Frage, an welchem Punkt die Franzosen ihre Interessen höher gewichten im Vergleich zu ihren Bündnisverpflichtungen. Und noch problematischer war sicherlich, bereits traditionell, zu GB.
Hier fehlt bei McMeekin eine breite ökonomische Darstellung der Vorgeschichte. Böse gesagt, kann man Frankreich 1914 bereits aufgrund des finanziellen Engagements in Russland als (russische) Geisel bezeichnen.

Und der Preis war für Russland die Kontrolle über den Balkan, indem man die entsprechende Erbteile von Ö-U und des Ottomanischen Reichs übernahm.
An diesem Punkt der historischen Konstanz des russischen Imperialismus sehe ich sogar eine Übereinstimmung zwischen McMeekin und Geyer

Die Übereinstimmung sehe ich auch.

Was aber war 1914 das Besondere? Der "Preis" stand seit 40 Jahren im Raum, Zuwarten auf den österreichischen Kollaps (zynisch bemerkt) war man also schon länger gewohnt. Alle Prognosen zB in Frankreich und Großbritannien gingen von einem deutlichen Machtzuwachs in Russland aufgrund der hohen Steigerungsraten in Industrie und Militär aus (was in GB während der Marineverhandlungen fast zu einer Art "scare" vor der künftigen Militärmacht Russland führte). Warum also sollte man das Zuwarten aufgeben, wenn sich die Lage nur verbessern kann. Das spricht doch gerade gegen die Zuspitzungsthese.
 
Somit ergibt sich für mich als vorläufiges Fazit, dass Russland militärisch eigentlich nicht in der Lage war, einen Krieg mit Aussicht auf Erfolg zu führen. Aber genau dieser Umstand der eigentliche Angelpunkt für die russische Haltung ist. Russland dynamisierte die Situation und instrumentalisierte den Pan-Slawismus, da es hoffte, die Potentiale Frankreichs und GB für die Verbesserung seiner Position als Großmacht nutzen zu können und teilweise das Erbe des Ottomanischen Reichs antreten zu können.

1908/09 und 1912/13 drängte die russische Regierung Serbien noch zur Zurückhaltung. 1914 ließ Russland dann wissen, man werde dem Schicksal Serbiens nicht gleichgültig gegenüberstehen. Dies ermutigte Serbien, das Ultimatum Österreich-Ungarns nicht in seinem ganzen Umfang zu akzeptieren.
Mir erscheint dieser Vorgang immer ein wenig wie der Blankoscheck Wilhems II..
Warum wollte Russland gerade jetzt Serbien zur Seite stehen? Es gab keinen Bündnisvertrag.
Bei der Zusammenkunft des Ministerrates am 24. Juli betonte Sasonow, dass vor allem Deutschland hinter Ö-U stand. Es war also klar, worauf es hinauslaufen konnte.

Mir erscheint es fast so, als suchte man im außenpolitischen Konflikt ein Instrument, um gegen den inneren Feind auf der Welle des Panslawismus losschlagen zu können.
 
1908/09 und 1912/13 drängte die russische Regierung Serbien noch zur Zurückhaltung. 1914 ließ Russland dann wissen, man werde dem Schicksal Serbiens nicht gleichgültig gegenüberstehen. Dies ermutigte Serbien, das Ultimatum Österreich-Ungarns nicht in seinem ganzen Umfang zu akzeptieren.

Die minimale Abweichung voim Ultimatum erforderte keinen Krieg mehr, wie selbst KaWeZwo eingeräumt hat. Das war eine Lapalie, hätte man nicht mit deutscher Hilfe oder Fahrlässigkeit der Kriseneinschätzung die Absicht gehabt, nun aufs Ganze zu gehen. Oder zugespitzt: im Prinzip war es egal, wie Serbien antwortet.

Die österreichische Tendenz mit deutschem Rückenwind, nun mit Serbien tabula rasa zu machen und endlich abzurechnen, war auf russischer Seite mit Händen greifbar. Das hätte eine strategische Umwälzung auf dem Balkan bedeutet, die nicht tolerabel war. Der russische Beistand - Vertrag hin oder her - bedeutete, dass Russland nicht auf Verzicht seiner imperialistischen Interessen zu Gunsten Österreichs auf dem Balkan bereit war: bis hierher und nicht weiter. Das hat man (rechtzeitig) glasklar transportiert: die Liquidierung Serbiens würde nicht hingenommen werden.
 
...nun aufs Ganze zu gehen. Oder zugespitzt: im Prinzip war es egal, wie Serbien antwortet.
Wilhelm Zwo und Bethmann Hollweg waren sicherlich eher bereit zu kämpfen, als nachzugeben, wenn Russland seine Unterstützung für Serbien aufrecht erhielt. Das ist klar.
Aber ganz so grimmig war man in Deutschland auch nicht und es gab, um es mal so auszudrücken, durchaus Muffensausen. Das zeigt vielleicht der "Halt-in-Belgrad-Plan" (28./29. Juli), also dass man auf eine vollständige Besetzung Serbiens verzichtete, um Belgrad als Pfand zu haben und Serbien nicht liquidieren zu müssen. Das tat man aus Rücksicht auf Englands Neutralität, die nun, kurz vor "Anpfiff" zu bröckeln begann. Allerdings, das gebe ich gerne zu, war es da schon fast oder ganz zu spät. Man hätte die Augen öffnen und massiv auf Wien einwirken müssen. Zudem unterlief Moltke Bethmann Hollwegs jetzt einsetzende Anstrengungen, Österreich-Ungarn zu mäßigen und drängte Conrad, die k.u.k.-Armee sowohl gegen Serbien wie auch gegen Russland aufmarschieren zu lassen. Am 30. Juli traf dann der erste Bericht über die Mobilmachung in Russland ein. Dann begann das eine in das andere zugreifen.

Ich wollte nur sagen, man war auf deutscher Seite anderen Wegen nicht gänzlich abgeneigt. Sicher hätte eine etwas zielgerichtete englische Diplomatie die deutsche Seite bewogen, maßvoller zu agieren und letztendlich nicht aufs Ganze zu gehen.
 
Am 30. Juli traf dann der erste Bericht über die Mobilmachung in Russland ein. Dann begann das eine in das andere zugreifen.
Der Automatismus begann, wie du selbst richtig schreibst, früher.
Hier gab es einen schleichenden Prozeß in der Krise, der zum Primat der militärischen Aufmarschpläne überleitete, für die "Zeit" alles war. Ich würde diesen Wechsel bzgl. der entscheidenden Einflussnahme in die letzte Juli-Woche legen. Mit dem "Eingreifen" der dt.-österr. Militärs in die Krise war die politische Lösung nahezu verbaut.

Ich wollte nur sagen, man war auf deutscher Seite anderen Wegen nicht gänzlich abgeneigt. Sicher hätte eine etwas zielgerichtete englische Diplomatie die deutsche Seite bewogen, maßvoller zu agieren und letztendlich nicht aufs Ganze zu gehen.
Deutscherseits war es Teil dieser Risikostrategie, Eskalationen als Mittel der Politik zu verwenden, und dann wieder abzuwinken. Das hatte seit 1905 (Marokko 1) Methode, eigentlich schon seit dem russ.-jap. Krieg 1904. Im Juli 1914 waren die Dinge allerdings auf die kontinentale Konfrontation zugespitzt, und der point of no return (über den man streiten kann, der aber in jedem Fall vor dem 28.7.1914 mit der österreichischen Kriegserklärung liegen muss) wurde verpasst.
 
1908/09 und 1912/13 drängte die russische Regierung Serbien noch zur Zurückhaltung. 1914 ließ Russland dann wissen, man werde dem Schicksal Serbiens nicht gleichgültig gegenüberstehen.

Russland konnte sich einen weiteren "Gesichtsverlust", ich meine das Zurückweichen vor dem deutschen Ultimatum in der Bosnienkrise", nicht leisten.

Zu Russland läßt sich noch anmerken, das vor dem Hintergrund der Niederlage des Osmanischen Reiches im 1.Balkankrieg, das 1. das Deutsche Heer einen enormen Prestigeverlust erlitten hatte, da sich dort ja eine deutsche Militärmission unter General von der Goltz Pascha befand. Diese hatte das Ziel das türkische Heer den Erfordernissen der Zeit anzupassen.

Bis dato waren also auch entsprechende russische Truppen durch die Türken gebunden und der Aufmarsch gegenüber Preussen und Polen hätte wohl nicht zahlenmäßig in so einem Umfange erfolgen können, wie die Franzosen es sich gewünscht haben. Das osmanische Heer galt bis zum Zeitpunkt der Niederlage in den Augen der Europäer nämlich durchaus als ernstzunehmender Faktor.
 
Zuletzt bearbeitet:
Vor diesem Hintergrund und er Kenntnis der Dislozierung der Armeen der Achse war die Bereitschaft für einen Waffengang sicherlich ein überschaubares Risiko. Und sicherlich geringer wie wenn Russland alleine gegen die Achse hätten kämpfen müssen.

Was mich daran interessiert: Konnte Russland sicher sein, dass Frankreich wirklich eine Entlastung darstellen würde? Der Plan ging ja nur wirklich auf, weil das deutsche Militär den schon fast dummen Schlieffen-Plan in Händen hielt. Eine etwas flexiblere militärisch/diplomatische Denkweise auf deutscher Seite hätte trotz aller Verwicklungen wahrscheinlich einen Deutsch-Russischen Krieg zur Folge gehabt. Zwar wäre Frankreich durch seine Kriegserklärung involviert, hätte jedoch nie einen wirklich massiven Angriff auf Deutschland riskiert (tat es 1870/71 ja auch nicht). England wäre mit Wahrscheinlichkeit neutral geblieben, wenn Deutschland keinen Angriff in Richtung Westen gewagt hätte.
 
Rurik schrieb:
Was mich daran interessiert: Konnte Russland sicher sein, dass Frankreich wirklich eine Entlastung darstellen würde?

Ich würde die Frage anders stellen. Konnte Frankreich sicher sein, das Russland wirklich eine Entlastung sein würde?

Die Russen haben den Franzosen doch bis zuletzt eigentlich keinen reinen Wein über ihre tatsächliche Aufmarschpläne eingeschenkt. Fakt ist, das die Masse der russischen Streitkräfte gegen Österreich-Ungarn vorging und gegen das Deutschen Reich "nur" zwei Armeen. Das war nicht im Sinne Frankreich, die sich ein sicher stärkere Entlastung gewünscht hätte. Aber die Russen hatten eben ihre ganz eigenen Vorstellungen.
 
Deutscherseits war es Teil dieser Risikostrategie, Eskalationen als Mittel der Politik zu verwenden, und dann wieder abzuwinken. Das hatte seit 1905 (Marokko 1) Methode, eigentlich schon seit dem russ.-jap. Krieg 1904.

Zu diesem Spiel wären Wilhelm II. und von Bethmann auch gerne nach Bekanntwerden der serbischen Antwort auf das Ö-U Ultimatum zurückgekehrt, allerdings hatten sie nach dem 5. Juli und dem durch beide ausgestellten "Blankoscheck" keine wirkliche Eingriffsmöglichkeit mehr auf die Krise ohne - 1914 unvorstellbar! - ihr Gesicht zu verlieren. Sie spielten - wie schon jahrelang zuvor- mit dem Feuer, jedoch wurde ihnen das "Heft des Handelns" aus der Hand genommen: Der deutsche Generalstab wollte den Krieg, der nach seiner Meinung 1. "sowieso kommen musste" und 2. "je früher desto besser" zu führen sei.

Da konnte auch die englische Diplomatie nichts bewirken: Als sie die Krise vollends erkannte, war der deutsche Generalstab schon im Begriff "aufs Ganze zu gehen", ja, eher im Gegenteil: Durch die offensichtlichen Ausflüchte die Grey auf die deutsche Nachfrage zur russisch-englischen Marinekonvention kurz vor der Julikrise nahm verstärkte sich die Angst im deutschen Generalstab massiv, die Entente würde nachdem sie militärisch überlegen sei (1916/17) den Krieg gegen die Mittelmächte führen; diesem Krieg müsse man nun zuvorkommen.

Meines Erachtens sehr nachvollziehbar beschrieben durch Dieter Hoffmann
"Der Sprung ins Dunkle - oder wie der 1. Weltkrieg entfesselt wurde",
Militzke Verlag, Leipzig
 
Zu diesem Spiel wären Wilhelm II. und von Bethmann auch gerne nach Bekanntwerden der serbischen Antwort auf das Ö-U Ultimatum zurückgekehrt, allerdings hatten sie nach dem 5. Juli und dem durch beide ausgestellten "Blankoscheck" keine wirkliche Eingriffsmöglichkeit mehr auf die Krise ohne - 1914 unvorstellbar! - ihr Gesicht zu verlieren. Sie spielten - wie schon jahrelang zuvor- mit dem Feuer, jedoch wurde ihnen das "Heft des Handelns" aus der Hand genommen: Der deutsche Generalstab wollte den Krieg, der nach seiner Meinung 1. "sowieso kommen musste" und 2. "je früher desto besser" zu führen sei.

Da konnte auch die englische Diplomatie nichts bewirken: Als sie die Krise vollends erkannte, war der deutsche Generalstab schon im Begriff "aufs Ganze zu gehen", ja, eher im Gegenteil: Durch die offensichtlichen Ausflüchte die Grey auf die deutsche Nachfrage zur russisch-englischen Marinekonvention kurz vor der Julikrise nahm verstärkte sich die Angst im deutschen Generalstab massiv, die Entente würde nachdem sie militärisch überlegen sei (1916/17) den Krieg gegen die Mittelmächte führen; diesem Krieg müsse man nun zuvorkommen.

Meines Erachtens sehr nachvollziehbar beschrieben durch Dieter Hoffmann
"Der Sprung ins Dunkle - oder wie der 1. Weltkrieg entfesselt wurde",
Militzke Verlag, Leipzig


Der Kriegsminister Falkenhayn wurde das erste Mal am 05.Juli 1914 mit der Julikrise befasst. Wilhelm II. stellte ihm die Frage, ob das Heer für alle Fälle bereit sei. Falkenhayn bejahte dies und fragte, ob irgendwelche Vorbereitungen zu treffen seien. Der Kaiser verneinte und entließ Falkenhayn aus der Besprechung.

Am gleichen Tage noch informierte Falkenhayn Moltke schriftlich, Moltke war auf Kur in Karlsbad, üb er das Gespräch mit Wilhelm. Des Weiteren wurde Moltke über eine Äußerung Bethmann in Kenntnis gesetzt, das dieser Zweifel habe, das es Österreich-Ungarn ernst sei. Er empfehle dem Kaiser den Antritt seiner Urlaubsreise. Auch Falkenhayn glaube, das diese Krise so ausgehen werden wie die vorherigen, nämlich ohne entschlossenes Handeln.
Am 08.Juli trat Falkenhayn eine Dienstreise an und begab sich anschließend für 14 Tage in den Urlaub. (1)

In den ersten Wochen der Julikrise war es das Auswärtige Amt einschließlich beider Bethmann Hollwegs, den Reichskanzler und sein Bruder in der Botschaft in Wien, die den begrenzten militärischen Konflikt wollten.

Auch aus den Memoiren anderer Generalstabsoffiziere geht hervor, dass die deutsche Militärelite die Wahrscheinlichkeit eines Krieges für gering hielt. (2)

Falkenhayn kehrte am 24.Juli aus seinem Urlaub zurück. Moltke kam am 26.Juli aus Karlsbad zurück nach Berlin. Erst ab diesen Zeitpunkte begannen die Militärs zielstrebig sich in die Politik einzumischen und auf den Krieg zuzusteuern.


(1) Afflerbach, Falkenhayn, S.147ff

(2) Groener, Erinnerungen, S.141
Freytag-Loringhoven, Menschen, S.187
Wenninger, Tagebucheintrag vom 27.07..1914
Wrisberg, Heer, S.1
 
@Turgot: Schöner Abriss für die deutsche Seite.

Nichts kann besser verdeutlichen, wie man den "Blankoscheck" nächst intern einschätzte: Risikomanagement, Eskalation, und politisches Spiel mit der Krise wie gehabt, um die Kontrahenten zu entzweien, Pflöcke setzen und Kapital zu schlagen.

Übrigens läßt sich daraus auch ableiten, dass man der brit.-russ. Marinekonvention schon aufgrund der unüberbrückbaren und bekannten scharfen Gegensätze nicht allzuviel Bedeutung zumaß. Es spielte gerade in der Endphase keine beachtliche Rolle in den Akten.
 
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