Veränderung und Kontinuität bei Volksmusik

Da ich das Gefühl habe dass man sehr schnell sehr viel an einander vorbei schreiben wird unternehme ich jetzt ein Versuch zur präziseren Konkretisierung des Themas:
Unser Ziel ist es der Frage nachzugehen, ob man von heutiger Musik auf Jahrhunderte oder Jahrtausende zuvor schließen kann.

Es ist wohl klar, dass man für die Beantwortung dieser Frage nicht darauf angewiesen ist, dass die Musik über Jahrhunderte absolut identisch bleibt, aber die Gemeinsamkeiten die eventuell bestehen dürfen auch nicht irgendwelche sein, sondern es muss nachweisbar sein, dass diese Gemeinsamkeiten keinen anderen Grund haben können als eine Kontinuität zwischen früher und jetzt.

Sehr richtig, das ist ein Grundsatz, den ich unterschreiben kann.


Für mich steht es außer Frage, dass es eine Kontinuität gibt, aber ich bin mir selbst nicht sicher wie umfassend sie ist. Sie könnte sich auf sehr grobe Elemente wie z.B. bevorzugte Tonleiter beziehen, aber in manchen Fällen könnte sie auch detalliertere musikalische Erscheinungen betreffen.

Das ist nun eines Sache des Glaubens. Wer will, mag auch daran glauben, daß alle Kompositionen vom Kinderlied bis zum Mozart-Requiem auf Funksprüche Außerirdischer zurückgehen, die vom menschlichen Gehirn empfangen und in Rhythmen, Tonfolgen und dergleichen wiedergegeben werden können, jedoch bislang noch nicht richtig entschlüselt worden sind.

Eine sinnvolle Diskussion muß jedoch mit nachweisbaren Fakten argumentieren können.


Wo, Hyokkose, meiner Meinung nach einen Fehler macht, ist dass er von der Geschichte einzelner Lieder auf alle Musikstücke schließt. Schließlich kann es auch sein, dass manche Lieder sich schneller verändern als andere.
Wenn das ein "Fehler" ist, dann läßt sich dieser dadurch widerlegen, indem Du Musikstücke nachweist, die nur punktuell aufgezeichnet wurden, jedoch nicht schriftlich, sondern mündlich über mehrere Generationen tradiert worden sind, ohne sich tiefgreifend verändert zu haben.
Durch bloße Behauptungen läßt sich kein Fehler nachweisen.

Diese Behauptung ist von mir auch nicht aus der Luft gegriffen: Ich beziehe mich auf heutige Parallelen, denn es gibt Lieder, wie die von den Beatles, die lange im kollektiven Gedächtnis bleiben

Ist das eigentlich noch Dein Ernst? Die Lieder der Beatles sind keine Jahrhunderte alt, sie werden auch nicht mündlich tradiert, sondern sind jeden Tag im Radio, auf Schallplatten und sonstigen Medien und Tonträgern zu hören, meist sogar in der Fassung, wie sie damals von den Beatles aufgenommen wurde. Auch die Noten kann man in jedem Musikgeschäft kaufen. Das hat doch nichts mit "kollektivem Gedächtnis" zu tun.


Manchmal passiert es, dass Melodien aus zwei vollkommen verschiedenen Kulturen sich zufällig ähneln, weil die Menschheit ihre Tonkombinationen längst erschöpft hat.
Und genau deswegen kann man nicht mit Zufallsähnlichkeiten argumentieren (schon gar nicht mit der auf allen Kontinenten verbreiteten Pentatonik), wenn man historische Zusammenhänge zwischen zwei bestimmten Kulturen nachweisen will.

Warum soll es dann unrealistisch sein anzunehmen, dass manche vorallem simple Melodien über eine längere Zeit erhalten geblieben sind?
Weil alle Melodien, auch ganz simple, sich innerhalb weniger Jahrzehnte verändern. Sogar von "Alle meine Entchen" gibt es Varianten. Und diese Varianten verändern sich weiter. Die meisten kommen irgendwann wieder außer Gebrauch, da niemand zehn Variationen desselben Liedes auswendig lernt. Und da (wenn es keine schriftliche Aufzeichnung gibt) niemand weiß, welches die "Originalversion" ist, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Originalversion verschwunden ist.
Nur durch die Verwendung von Notenschrift und Tonträgern lassen sich Originalversionen unverändert konservieren. Diese Mittel standen aber den meisten alten Kulturen nicht zur Verfügung.

* * *

Drei verschiedene Varianten von "Alle meine Entchen":
http://www.kinderliederbox.de/liederseiten/alle_meine_entchen/alle-meine-Entchen.gif
http://www.labbe.de/liederbaum/a/alle_meine_entchen_454.gif
http://www.musikzeit.de/theorie/bilder/entchen.gif
 
Ich weiß nicht ob es in Widerspruch steht zu deiner Theorie, aber ich bin Anhänger der Evolutionstheoretischen Erklärung für Musik, die das machen von Musik als einen angeborenen Trieb des Menschen sieht, den es auch bei einigen Tieren gibt.
Das könnte ich durchaus mittragen; allerdings für Musik ganz allgemein, nicht primär für "Lieder" oder "Melodien"...

Für den besonderen Aspekt Melodie und auch Phrasierung sehe ich die "Sprache" allerdings als mustergebend an. Mir fällt da immer ein baptistischer Gottesdienst mit amerikanischen Farbigen ein....

Mir ist schon klar, dass "Sprechen" physiologisch gesehen etwas anderes als "Singen" ist; es geht hier nur um den Strukturaspekt.

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Edit:
Das hier ist nicht schrecklich authentisch, gibt aber einen Eindruck, auch über den antiphonischen Charakter (aber letztlich gibt den auch jedes Pop-Konzert...);vielleicht finde ich noch etwas besseres...
http://de.youtube.com/watch?v=RskdnnzuveI&feature=related
EIn anderes Beispiel:
http://www.youtube.com/watch?v=3VLHR7QovMA&feature=related
 
Zuletzt bearbeitet:
Gut, also als dass stärkste Argument dafür dass es über Jahrhunderte tradierte Elemente der Musik gibt gilt für mich das Beispiel der jüdischen Tonleiter Mi-Sheberah und (von der anderen vergaß ich prompt den Namen^^) Dies sind jedenfalls zwei aus der Sygnagogen-Musik übernommenen Tonleitern und während die Juden an sich gerne und viel musikalisch übernommen haben, so ist zumindest ihre "Kirchenmusik" abgeschottet gewesen von den russischen, rumänischen und bulgarischen Einflüssen die auf dem Klezmer gewirkt haben. Wie dem auch sei zeigen diese Tonleiter und damit gespielte Melodien Parallelen zu orientalischen Stücken (Mi-Sheberah ist nämlich eine harmonische Tonleiter und das in der arabischen Musik gebräuchliche Hijazz-Makam ist eine doppelharmonische, also auch den harmonischen angehörend). Diese Parallele zur arabischen Musik lässt den Schluß zu das die Vorliebe der Orientalen für harmonische Tonleiter noch vor der Auswanderung der Juden nach Europa entstanden sein muss. Gleichzeitig gibt es natürlich Entwicklungen Mi-Sheberah ist im Aufbau nicht identisch zur Doppelharmonischen Tonleiter aber für das westliche Ohren ist beides unverkennbar orientalisch.

Ich bin bereit eine schnelle und grundlegende Veränderung in Rhytmus und Klangfarbe anzuerkennen. Eine solche ist sogar sehr logisch. Aber das Beispiel von Juden und Arabern zeigt dass andere Elemente wie bevorzugte Tonleiter oder harmonische Gestaltung des Liedes durchaus zäh zu sein scheinen. Diesmal eine sinnige Parallele von heute: Die Blues-Tonleiter hat mindestens ein/zwei Jahrhunderte auf den Buckel. Seit sie von den Afrikanern nach Westen gebracht wurde hat sie bis heute nicht aufgehört die Grundlage unserer Unterhaltungsmusik in vielen Liedern zu bilden (und dies über Jazz hinaus).
 
Das ist eine interessante Diskussion, leider fehlt mir das musikalische Fachwissen, um mehr als eine Anmerkung beizutragen.

In der religiösen Lithurgie und Kirchenmusik sollten sich doch einige Beispiele finden lassen, für Melodien, Sprachmodulationen, ritualisierte Antworten der Gemeinde, die eine lange Tradition haben und die sich wenig verändert haben.
Z.B. den Gebetsruf im Islam oder den Abschiedssegen der christlichen Kirche.
Ein Kirchenlied, das ich wegen seiner altanmutenden Melodie besonders schätze http://www.liederlexikon.de/lieder/es_kommt_ein_schiff_geladen/liedkommentar.pdf

ist über 500 Jahre alt.
 
Gut, also als dass stärkste Argument dafür dass es über Jahrhunderte tradierte Elemente der Musik gibt gilt für mich das Beispiel der jüdischen Tonleiter Mi-Sheberah und (von der anderen vergaß ich prompt den Namen^^)
Eventuell meinst Du "Ahava Rabboh" (wie in "Hava Nagila" :) )

Aber jetzt sind wir ja bei einer Skala, also dem Tonmaterial und dessen Beziehungen untereinander....
Ganz offensichtlich hört man sich da ein: Wir Mitteleuropäer empfinden da manches mit zu vielen Halbtönen als "orientalisch", wo wir es dann genauer einordnen, hängt meist von Instrumenten und Klangfarben ab....

Zwischen 1650 und 1850 haben "wir Mitteleuropäer" ganz klar im Dur/Moll Schema gehört. Ich bin ja gerne bereit, für eine existierende Musikkultur so eine Orientierung an einer oder mehreren Skalen anzunehmen. Mit den indischen Ragas wird es schwieriger, weil es ja geradezu ein Charakteristikum "klassischer" Indischer Musik ist, für verschiedene Stücke, verschiedene Skalen zu benutzen.

Möglicherweise halten sich diese Skalen auch über einige Jahrhunderte. Die Auflösung der europäischen Musik über die temperierte Skale zu Halbtönen und dann in der U-Musik zu dem, was Du wahrscheinlich ganz richtig Blues-Skalen nennst (und was mein Großvater "Negermusik" nannte), ist natürlich wieder eine Sache von "Kulturkontakten". Aber - nicht wahr - die europäische Symphonik war doch die überlegenere Musik, oder?

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Edit: Für Interessierte hier noch ein Link: http://de.wikipedia.org/wiki/Tonleiter
 
Zuletzt bearbeitet:
Ein Kirchenlied, das ich wegen seiner altanmutenden Melodie besonders schätze http://www.liederlexikon.de/lieder/es_kommt_ein_schiff_geladen/liedkommentar.pdf
ist über 500 Jahre alt.
Auf jeden Fall der Text, nachdem man 100 Jahre lang mehr oder weniger kritische Textforschung getrieben hat. Der von Dir verlinkte PDF ist sehr instruktiv.... Noten kennen wir von ca 1600 vielleicht auch etwas früher: Dowland, Schein, Scheid, Schütz, Isaak.

Innsbruck, ich muss Dich lassen; O Haupt voll Blut und Wunden; O Heiland reiß die Himmel auf,....

Aber wir haben diese Lieder (und ihre Melodien) wiederentdecken müssen!

YouTube - Thomas Bremser sings "Es kommt ein Schiff geladen"
 
Ja Skalen könnten meiner Meinung nach das zäheste Element einer Musikkultur sein. Was Europa betrifft so hören wir wahrscheinlich Dur/Moll schon seit der Antike, denn die altkirchlischen Tonleitern zu denen das "normale" Dur und Moll zählen sind nach griechischen Stämmen benannt und soweit ich mich erinnern kann auch im alten Griechenland zuerst niedergeschrieben worden.
 
Gut, also als dass stärkste Argument dafür dass es über Jahrhunderte tradierte Elemente der Musik gibt gilt für mich das Beispiel der jüdischen Tonleiter Mi-Sheberah und (von der anderen vergaß ich prompt den Namen^^)
Daß Tonleitern sich über Jahrhunderte halten können, habe ich auch nicht bestritten. Allerdings macht eine Tonleiter noch keine "Liedstruktur". Meiner Bitte, einmal genau zu beschreiben, was Du unter "Liedstruktur" verstehst, bist Du leider immer noch nicht nachgekommen.

Dr. Iotchev schrieb:
(Mi-Sheberah ist nämlich eine harmonische Tonleiter und das in der arabischen Musik gebräuchliche Hijazz-Makam ist eine doppelharmonische, also auch den harmonischen angehörend).
Deine Terminologie ist etwas merkwürdig. Vermutlich überträgst Du den europäischen Terminus "harmonische Molltonleiter" auf das "orientalische" Tonsystem, dadurch kommt es zu einer falschen Schlußfolgerung:

Dr. Iotchev schrieb:
wie bevorzugte Tonleiter oder harmonische Gestaltung des Liedes durchaus zäh zu sein scheinen.
Von "harmonischer Gestaltung" kann keine Rede sein. Eine bestimmte Harmonik ist mit dieser Tonleiter nicht verbunden.

Dr. Iotchev schrieb:
Diesmal eine sinnige Parallele von heute: Die Blues-Tonleiter hat mindestens ein/zwei Jahrhunderte auf den Buckel. Seit sie von den Afrikanern nach Westen gebracht wurde hat sie bis heute nicht aufgehört die Grundlage unserer Unterhaltungsmusik in vielen Liedern zu bilden (und dies über Jazz hinaus).


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Eventuell meinst Du "Ahava Rabboh" (wie in "Hava Nagila" :) )

Das ist nicht dieselbe Skala, aber sie besteht aus demselben Tonmaterial:
Spanische und jüdische Tonleiter ? Wikipedia
Dieses Tonsystem ist von der iberischen Halbinsel bis nach Indien verbreitet.

deSilva schrieb:
Zwischen 1650 und 1850 haben "wir Mitteleuropäer" ganz klar im Dur/Moll Schema gehört.
Das Dur-Moll-Schema ist auch heute noch vorherrschend, mittlerweile nicht nur in Mitteleuropa. Schalte mal ein Radio ein und zappe Dich durch die verschiedenen Sender...
 
Eine Tonleiter die sich über Jahrhunderte hält ist zwar kein Beweis für eine sich erhaltende Liedstruktur, aber wohl ein Beweis für die Weitergabe von musikalischer Kultur über mehrere Jahrhunderte. Du warst der jenige der nach konkreten Strukturen fragte, ich habe lediglich behauptet dass die heutige Musik Spuren enthalten kann die Jahrhunderte alt sind. Mehrnoch: Diese Spuren können Kulturspezifisch sein, also ein Kontinuum innerhalb einer Kultur darstellen.

Und jetzt klär ich meinen Gebrauch des Wortes "harmonisch" dass ich hier in zweierlei Art gebraucht habe. In Bezug auf Tonleiter bezieht es sich auf Skalen welche folgende Sequenz von Tonabständen enthalten: einhalb, einundhalb, einhalb (1/2, 1 1/2, 1/2). Von diesen Skalen wird nicht nur das "harmonische Moll" harmonisch genannt, sondern auch der sogenannte Zigeuner-Dur, auch als persische, byzantinische oder arabische Tonleiter bekannt, wird aber neutralerweise auch Doppelharmonisch genannt (Doppelharmonisch!) Warum er Doppelharmonisch heißt sieht man ganz leicht an seiner Struktur: 1/2, 1 1/2, 1/2, 1, 1/2, 1 1/2, 1/2 Man sieht besagte Sequenz die für harmonische Tonleiter typisch sind kommt hier zweimal vor.
Auch sprach ich von Harmonie-Gestaltung. Damit meine ich die Regeln von welche Tonleiter und Tonarten beim Zusammenspiel von Instrumenten zusammenpassen. Die Regel etwa dass man C-Dur mit A-Moll zusammenspielen darft ist eine solche Harmonie-Gestaltungsregel, ich sage es so, weil die Lehre von dem Zusammenpassen von Tonarten und Skalen als Harmonielehre bekannt ist.
 
Eine Tonleiter die sich über Jahrhunderte hält ist zwar kein Beweis für eine sich erhaltende Liedstruktur
Daher habe ich ja so oft nach den von Dir genannten Liedstrukturen gefragt und leider nie eine Antwort erhalten.

Und jetzt klär ich meinen Gebrauch des Wortes "harmonisch" dass ich hier in zweierlei Art gebraucht habe.
Mir ist schon klar, was Du mit "harmonisch" bei der Tonleiter gemeint hast, das sollte man aber nicht mit Harmonik im Sinne der Harmonielehre verwechseln.
Was wir bisher haben, sind (weit verbreitete) Tonleitern bzw. noch nicht einmal das, sondern nur das Tonmaterial, das diese Tonleitern benutzen. Von Liedstrukturen sind wir da noch meilenweit entfernt.
 
Nachwievor bist DU derjenige der nach Liedstrukturen fragt. Mein allgemeines Anliegen war die Behauptung das musikalische Kultur sich über Jahrhunderte halten kann, Liedstruktur ist von dir in einem so engen und speziellem Sinne gefasst, dass du andere Dimensionen der musikalischen Kultur wie gebrauchte Instrumente, gebrauchte Tonleiter etc. vernachlässigt. Mag sein das Skalen sehr grobe Elemente der Musik sind, aber sie können ebenfalls kulturspezifisch sein und ihre Erhaltung über längerem Zeitraum ist daher ein Beweis von Kontinuität.
 

Na, immerhin mal ein musikwissenschaftlicher Hinweis. Ich werde mir den Aufsatz mal besorgen.

Nun habe ich mir den Aufsatz studiert und muß feststellen, daß er auf etwas ganz anderes hinausläuft als das, was die erste Seite vermuten läßt. Walter Wiora bezieht sich hier auf Untersuchungen von Zoltán Kodály, der Ähnlichkeiten zwischen ungarischen und "tscheremissischen, tatarischen, mongolischen Melodien" festgestellt hat. Wiora will Kodálys Ergebnisse nicht in Zweifel ziehen, gibt dann aber - völlig zu Recht - zu bedenken:

Wiora schrieb:
Nun gehört es aber zu den methodischen Regeln vergleichender Forschung, nicht bilateral, sondern multilateral zu vergleichen und so möglichst die gesamte Verbreitung eines Typus zu ermitteln. Es ist daher nicht nur nach östlichen, sondern auch nach westlichen Parallelen jener altungarischen Melodik zu fragen. Schon in früheren Veröffentlichungen habe ich auf solche Parallelen hingewiesen und betont, daß sie nicht als vereinzelte Übernahmen aus dem Osten gedeutet werden können. Im folgenden möchte ich diese These festigen und ausbauen; ich möchte zeigen, daß sich der eingangs beschriebene Typenkreis in den verhältnismäßig wenigen Quellen volksmäßiger Musik, die aus dem Mittelalter überliefert sind, so oft findet, daß kein Zweifel bestehen kann: Er war damals auch in Westeuropa ziemlich verbreitet.

Nicht nur das: Die von Kodály festgestellten Parallelen zwischen ungarischen und tscheremissischen etc. Melodietypen sind auch weit darüberhinaus zu finden:
Wiora schrieb:
Noch viel weiter zurück führt die Frage nach dem Ursprung und den Wurzeln unseres Typenkreises, wenn man Traditionen von Naturvölkern heranzieht. Es finden sich hier Faktoren des Typus, z. B. absteigende Motivtransposition im Oktavumfang, und auch Gebilde, die ihm im ganzen nahekommen. Hier ist besonders an Erscheinungen zu denken, die sich bei Indianern, wie den Sioux, aber auch auf Neu-Guinea und bei afrikanischen Viehzüchtern finden. Sie gehen vielleicht auf einen gemeinsamen Ursprung zurück.

Also sind wir auch hier letztlich nur wieder bei weltweit verbreiteten Mustern gelandet. Ob man hier einen gemeinsamen Ursprung vermuten will, ist Geschmackssache, nachweisen läßt sich hier gar nichts. Es gibt aber zwei Erklärungsmöglichkeiten:

a) Will man einen gemeinsamer Ursprung in Zeit und Raum festmachen, bleibt keine andere Schlußfolgerung übrig, als daß die Melodietypen vor über 70.000 Jahren vom Homo sapiens in Afrika entwickelt wurden, von dort aus in die ganze Welt getragen und getreulich überliefert worden sind.

b) Oder man hält sich an die aus meiner Sicht vielleicht weniger spannende, aber doch recht vernünftige Erklärung, sich die Vertreter des Homo sapiens hinsichtlich der Ohren, der Kehlköpfe und die Gehirne auf der ganzen Welt doch weithend ähnlich sind, so daß es bei der Produktion von Melodien zwangsläufig immer wieder zur Herausbildung ähnlicher Muster kommt.
 
Dein a) und b) widersprechen sich ja nicht zwangsläufig ;) Es hat ja nichts mit spannend sein zu tun, aber gerade weil die Menschen sich so ähnlich sind und ähnlich geblieben sind, ist es kein utopisches Szenario anzunehmen dass die ersten Menschen Lieder erdacht haben die auch heute Gefallen finden würden, für die dann auch entsprechend die Möglichkeit einer langen Weitergabe bestand (oder besser das Potenzial), die vielleicht dann viel vom Original eingebüßt haben aber dennoch Kontinuität erkennen lassen. Die Walzerstruktur zum Beispiel ist etwas dass sich seit der klassichen Musik bis heute erhalten hat und zwar vorallem in der deutschen Volksmusik bis hin zum Schlager noch heute ein beliebter Grundstein von Kompositionen bildet (Für mich bleibt es noch fragwürdig ob dieser Rhytmus zuerst in der Volksmusik oder in der Klassik entstand). Der Walzer hat seine Popularität in dieser Kultur durch die Jahrhunderte nichts eingebüßt, zwar haben sich die dadrüber gespielten Melodien und Klangfarben sicherlich oft verändert aber der Rhytmus ist schon Jahrhunderte alt. Er ist ferner insofern kulturspezifisch, als dass er in Europa zwar weitverbreitet ist, aber darüber hinaus merklich seltener anzutreffen ist (Das kann ich als jemand behaupten der Musik aus 30 Ländern und allen Kontinenten in seiner Sammlung hat).
 
Bereits in Beitrag 53 habe ich auf die Anfälligkeit gerade der Volksmusik für Veränderungen samt Literaturangabe hingewiesen. Die Argumentation ist einfach und einleuchtend. Was nicht aufgeschrieben ist, kann sich schnell wandeln.
 
aber gerade weil die Menschen sich so ähnlich sind und ähnlich geblieben sind, ist es kein utopisches Szenario anzunehmen dass die ersten Menschen Lieder erdacht haben die auch heute Gefallen finden würden
Wir waren uns eigentlich einig, daß es nicht darum geht, utopische oder weniger utopische Szenarien zusammenzuphantasieren, sondern

[...] sondern es muss nachweisbar sein, dass diese Gemeinsamkeiten keinen anderen Grund haben können als eine Kontinuität zwischen früher und jetzt.

Alles andere ist Firlefanz.

* * *

Nachwievor bist DU derjenige der nach Liedstrukturen fragt.

Was soll das denn jetzt? Natürlich frage ich danach, denn Du bist der, der die ganze Zeit nebulös von "grundlegenden Strukturen", "Liedstrukturen" und dergleichen spricht und nie erläutert, was darunter eigentlich zu verstehen sei:

Egal wie die Sowjetunion Folklore verfälscht hat, durch das neustimmen von Instrumenten kann man nicht die grundliegende Struktur von Liedern verändern und ein Großteil des Charakters dürfte erhalten geblieben sein.

Für eine Dorfgemeinschaft in Sibirien, Irland, Bulgarien, Bayern... man nenne es, gab es zu wenig Anregung von außen, um Liedstrukturen die sich nunmal bewährt haben zu verändern.

Also erneut meine Bitte: Bitte zähle präzise die Parameter auf, die unter "Liedstrukturen" zu verstehen sind, dann läßt sich anhand konkreter Beispiele verifizieren, was davon mehrhundertjährigen Bestand hat.

Da kam von Dir bislang nichts Sinnvolles.
Die Tonleiter kann ja nicht gemeint sein, denn genau die läßt sich durch anders gestimmte Instrumente entscheidend verändern.

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Die Walzerstruktur zum Beispiel ist etwas dass sich seit der klassichen Musik bis heute erhalten hat
Was genau ist "Walzerstruktur"? Wenn ich Deinen weiteren Text richtig verstehe, meinst Du dieses Mal offensichtlich nur das simple rhythmische Muster "Hum-ta-ta", sonst nichts.
 
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Letztendlich kann man die Skalen ja zu den strukturellen Elementen zählen, da sie bestimmend dafür sind welche Töne maximal in einem Lied vorkommen können. Wenn in einer Kultur eine Skala über Jahrhunderte bestimmend bleibt dann fangen die Tonkombinationen schneller an sich zu wiederholen da ja die Kombinationsmöglichkeiten durch die Skala natürlicherweise beschrenkt sind. Das gilt vorallem für pentatonische Skalen.
 
Letztendlich kann man die Skalen ja zu den strukturellen Elementen zählen, da sie bestimmend dafür sind welche Töne maximal in einem Lied vorkommen können.

Welche "strukturellen Elemente" müssen Deiner Meinung nach vorhanden sein, um von einer "Liedstruktur" sprechen zu können?
 
Eigentlich müsst ich mich erstmal längst für einen großen Fehler entschuldigen, der mir nunmal öters unterläuft dessen ich mir eigentlich bewust sein müsste: Wer extreme Aussagen trifft macht sich angreifbar. Ich habe zu absolute Aussagen getroffen mit der Behauptung Strukturen würden über Jahrhunderte gleich bleiben und werde zurecht auseinander genommen. Man muss natürlich genaustens konkretisieren was man unter Weitergabe von musikalischen Struktur und/oder Kultur versteht und das werde ich ein letztes Mal probieren.

Ich gehe grundsätzlich von volgender Situation aus:

Musiker einer bestimmten Periode greifen ihre Kunst nicht aus der Luft sondern bauen auf vorhandene Fundamente die sie nach ihrem Geschmack verändern, sodass die neue Musik sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede zu ihrem Vorgänger aufweist. Dies ist zum Beispiel beobachtbar bei der Rockmusik die sich zwar vom Jazz unterscheidet, aber an Stellen noch erkennen lässt, dass sie von jenem abstammt. Nun ist natürlich die Frage ob bei einer solchen Entwicklung immernoch ein Link zu erkennen ist zwischen Vorgänger und Nachfolger Musik, wenn diese Jahrhunderte lang dauert. Welche strukturellen Elemente sich länger halten und welche schneller verschwinden, dass hängt von vielen Faktoren ab. Die Einfachheit, die Popularität und die Weitergabemöglichkeit des Elements spielen sicherlich eine Rolle, aber auch und vorallem wichtig ist von welchem Element wir reden. Ein Rhytmus verändert sich nachweisbar schneller als eine Skala. Das ist auch wieder an der Rockmusik gut erkennbar, die immernoch Bluesskalen benutzt (wenn auch nicht nur) obschon Rhytmik und Klangfarbe der Instrumente stark vom Jazz abweichen (können).

Ich weiß das was jetzt kommt mir als fiese Entgleisung angerechnet werden wird, aber: Wenn wir davon ausgehen, dass jede Generation ihre Musik auf der Grundlage bereits vorhandener geschaffen hat (Wie alle Generationen die wir kennen es getan haben), dann können wir selbst dann von Kontinuität sprechen, wenn das Endergebnis nicht dem Ursprungsmodell ähnelt. Und dann kann man auch von indirekter Beeinflussung zwischen weitentfernten Generationen sprechen. Dann lässt vielleicht C keine direkte Spur erkennen von A, aber wohl von B, welches sich aus A entwickelt hat.
 
@Dr. Iotchev
Du hast natürlich ein riesengroßes Thema angeschnitten.

(1) Die Tradition
Musik kann man entweder als "Handwerk" oder "Kunst" ansehen, je nach Professionalität auch als "Hobby". Kinder lernen z.B. von der Mutter das Singen und vom Vater das Gitarre spielen. Und - im Gegensatz zum Handwerk - gibt es "gemeinsame Veranstaltungen"; in meiner Familie war früher der - wenn auch nicht regelmäßige - Kirchgang üblich: Da wurde natürlich gesungen (zwischen 100 und 500 Jahre alte Sachen). Mann kann auch zu einem "Meister" in die Lehre gehen, etwas weniger formal: im Kirchenchor singen: Da lernt man was!

Änderungen hierbei wären biologisch betrachtet "Mutationen": Übermittlungsfehler, Erinnerungslücken, Fehlinterpretationen...

(2) Innovationen
Verschiedene Musiktreibende sind in der Lage, zu "komponieren". (Ich weiß aus meinem Bekanntenkreis, dass viele gute Musiker dazu auch NICHT in der Lage sind!) Das muss man unterscheiden von einer:
- Improvisation (also der eher situationsabhängigen Abwandlung oder "Ausschmückungen" in einem vorgesehenem Rahmen.)
- Text-Parodie (d.h. der Erfindung eines neuen Textes zu einer bekannten (insbesondere beliebten!) "Melodie"

Diese beiden Verfahren sind in der Interpretation von Volksmusik beliebte Abwandlungen (Bänkelsänger).

Eine wirkliche Neukomposition ist jetzt an vielerlei Randbedingungen geknüpft; ein Übergang stellt die
- Melodie-Parodie (manchmal auch "Kontrafaktur" genannt) dar, bei der zu einem bekannten Harmoniegerüst eine (völlig) neue Melodie erfunden wird. Dem musikalischen Laien erscheint das dann "neu", obwohl ihn es iregendwie an etwas Bekanntes erinnert. Ein einfachstes Harmonieschema ist etwa T-S-T-D7-T

Eine andere Randbedingung ist die Form ("Strophen", "Wiederholungen", "Rondo", "Kanon"...)

Komponisten, die sich an soclhe Randbedingungen halten, bewegen sich im Rahmen eines "Stils", der erkennbar eine Tradition beinhaltet. Auch wenn ich weder die Melodie noch das Harmonieschema je gehört habe, kann man meist sagen: "George Gershwin" oder: "Barock".

(3) Dr.Iotchev hat sicherlich an solche charakteristischen Merkmale gedacht. Die offene Frage ist aber, wie lange sich so ein "Stil" hält, in welcher Form er größeren Modifikation unterworfen ist (Von innen heraus? Durch Kulturkontakte?), und inwieweit sich -wie man das in der Statistik nennt -innere und äußere Varianz sich überhaupt signifikant unterscheiden...

Besonders interessant ist es ,wenn bisher unterbewertete Elemente plötzlich in den Vordergrund geraten (z.B. komplexe Rhythmen, oder sogar Polyrhythmen) oder bisher als wesentlich betrachtete Elemente ihre Bedeutung verlieren (Terz-Harmonie).

(4) Ein mWm historisch wenig untersuchtes Gebiet ist der Zusammenhang zwischen Tanz und Musik. Tanzmusik MUSS rhytmisch sein,sonst nichts :) Das war auch mein Einreden oben gegen das Gewicht der "Melodie"...
Wir wissen leider ziemlich wenig über alte Tänze; vieleLeute trauen sich heute ein Menuett zu, aber so ganz sicher sind wir eigentlich doch nicht, wie das im 18.Jh. wirklich aussah; aber es gibt wenigstens schon einige Aufzeichnungen. Davor gibt es eher nichts (Sarabande, Gavotte, Gigue, Bourree...). Wir kennen natürlich ganz genau die Noten zur Musik und Hinweise auf die Instrumentierung; das Tempo kann man raten... Und dann finden sich Bemerkungen wie: "ausgelasse", oder "hüpfend", oder "züchtig" oder "verspielt".

Wir wissen praktisch nichts Konkretes über diese Bewegungsmuster!

Aber diese Bewegungsmuster haben sicherlich die (Volks-)Musik bestimmt. "Contre Dances" und "Reigen" sind etwas anderes als ein "Wiener Walzer" oder eine "Polka".
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich weiß das was jetzt kommt mir als fiese Entgleisung angerechnet werden wird, aber: Wenn wir davon ausgehen, dass jede Generation ihre Musik auf der Grundlage bereits vorhandener geschaffen hat (Wie alle Generationen die wir kennen es getan haben), dann können wir selbst dann von Kontinuität sprechen, wenn das Endergebnis nicht dem Ursprungsmodell ähnelt. Und dann kann man auch von indirekter Beeinflussung zwischen weitentfernten Generationen sprechen. Dann lässt vielleicht C keine direkte Spur erkennen von A, aber wohl von B, welches sich aus A entwickelt hat.<!-- / message -->

Also wie sich eine Sprache im Laufe der Zeit wandelt und dabei Neues aufnimmt und intergriert? Der Gedanke erscheint mir eigentlich plausibel. Aber im Gegensatz zur Sprache gibt es auch immer wieder Neuschöpfungen (Kompositionen), die aus diesem Kreis ausbrechen.
 
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