Verdient Peter I den Beinamen „der Große“?

Themistokles

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Peter hat zwar viel unternommen um Russland aus der Rückständigkeit zu holen und das Potential seines riesigen Landes auszunutzen. An der sozialen Struktur und der Stellung der Leibeigenen hat er aber nicht gerüttelt. Kann man im das zum Vorwurf machen und sagen seine Reformen gingen nicht tief genug?
In der Peter-Pauls-Festung steht eine Statue, die ihn mit sehr kleinem Kopf (eine beabsichtigte Anspielung auf mangelnde Intelligenz) darstellt. Welche Dinge könnten den Bildhauer zu so etwas gebracht haben? Peter wird auch vorgeworfen Russland auf den falschen Pfad gebracht zu haben.

In der Hoffnung eine interessante Diskussion gestartet zu haben
Themistokles

PS: weiß jemand welche Handwerke er alles beherrschte? es sollen mehr als 14 gewesen sein, bisher habe ich Steinmetz, Schmied, Maler, Drucker, Buchbinder, Hebamme, Bader, Zahnarzt, Kanonengießer, Zimmermann, Kanonier, fehlen noch 3 mindestens.
 
Ich meine man kann ihn schon "den Großen" nennen. Er hat den Grundstein für ein Weltreich gelegt. Vor Peter war Russland wirklich in einem desolaten Zustand, ohne ihn hätte es nie eine europäische Großmacht werden können. Die Tatsache, dass er nichts an der Situation der Leibeignen geändert hat, mag wohl einfach den Grund haben, dass er ein Kind seiner Zeit war. Russland war soweiso rückständig und in anderen europäischen Ländern gab es auch noch die Leibeigenschaft.
 
Den Beinamen "der Große" verdient er schon aufgrund seiner Körpergröße - die Quellen schwanken zwischen 2,01 und 2,13 Meter. :D

Sorry - klink mich schon wieder aus.
 
Themistokles schrieb:
Peter hat zwar viel unternommen um Russland aus der Rückständigkeit zu holen und das Potential seines riesigen Landes auszunutzen. An der sozialen Struktur und der Stellung der Leibeigenen hat er aber nicht gerüttelt. Kann man im das zum Vorwurf machen und sagen seine Reformen gingen nicht tief genug?
In der Peter-Pauls-Festung steht eine Statue, die ihn mit sehr kleinem Kopf (eine beabsichtigte Anspielung auf mangelnde Intelligenz) darstellt. Welche Dinge könnten den Bildhauer zu so etwas gebracht haben? Peter wird auch vorgeworfen Russland auf den falschen Pfad gebracht zu haben.

In der Hoffnung eine interessante Diskussion gestartet zu haben
Themistokles

PS: weiß jemand welche Handwerke er alles beherrschte? es sollen mehr als 14 gewesen sein, bisher habe ich Steinmetz, Schmied, Maler, Drucker, Buchbinder, Hebamme, Bader, Zahnarzt, Kanonengießer, Zimmermann, Kanonier, fehlen noch 3 mindestens.

den Beinamen hat nur einer verdient....und jetzt rate mal wer :cool:
 
Alexandros schrieb:
den Beinamen hat nur einer verdient....und jetzt rate mal wer :cool:
Ein gewisser athenischer Stratege der seine Heimatstadt zu der Seemacht schlechthin machte? :D Oder meinst du den Bauernlümmel aus dem Norden der sich auf sein Pferd setzte, losrannte und unterwegs vergass abzusteigen und seine Männer in die Ferien zu schicken?:fs:

Immerhin war er ein Vorbild für Peter der sogar einen Feldzug in persische Gebiete unternahm und eine Stadt (Derbent glaube ich) jenes Mannes eroberte. Abends las er (oder ließ vorlesen) auch mit Vorliebe in dessen Biographien
 
William Wallace schrieb:
War er nicht auch noch Schiffsbauer und Navigator?

Es heißt, dass er inkognito als Schiffszimmermann in Holland gearbeitet haben soll. Diese erstaunliche Situation (ein mächtiger Herrscher als einfacher Handwerker) hat Lotzing zu seiner Oper "Zar und Zimmermann" inspiriert.
 
Jacobum schrieb:
Es heißt, dass er inkognito als Schiffszimmermann in Holland gearbeitet haben soll. Diese erstaunliche Situation (ein mächtiger Herrscher als einfacher Handwerker) hat Lotzing zu seiner Oper "Zar und Zimmermann" inspiriert.

Wie wir in Geschichte gelernt haben, ist er auf einem Schiff nach Holland als Passagier, Matrose oder ähnliches (Weiß es leider nocht mehr genauer) mitgefahren.
Nur, wer hat ihn in Russland vertreten?
 
Mein Vater erinnert sich vage an eine "Schnapsfigur" die von Peters Saufkumpanen eingesetzt wurde, damit Peter von außen weiterhin regieren konnte. Aber ich les vorsichtshalber in einer nüchternen Biographie nochmal nach wie er hieß.
 
Aus Gudrun Zieglers : Die Romanows

Peter I. privat

Peter trug den Beinamen der Große, doch er hätte genauso gut der Starke heißen können. Er konnte silberne Teller zusammenrollen und Hufeisen verbiegen. Seine Größe, über zwei Meter, beeindruckte. Als er noch jung war, etwa während seiner Reise durch Europa, bemerkten vielen Damen der Gesellschaft, dass er recht angenehme und wohlgestaltete Gesichtszüge hatte. Wären doch nur seine Manieren besser gewesen!
Etwa zwanzig Jahre später hatte in seinem Gesicht etwas Rohes, Furchteinflößendes die Oberhand genommen. Wild und grausam erschien er besonders dann, wenn er seine nervösen Gesichtszuckungen nicht beherrschen konnte. Das Leben hatte ihn, den Giganten, gezeichnet. Er konnte jähzornig, im nächsten Moment ausgleichend, fast milde sein. Aber eigentlich wußte man nie, wie man sich ihm gegenüber verhalten sollte.
In einem Zeitalter, in dem überall in Europa großer Wert auf Pracht und Prunk gelegt wurde, muteten Peters Einfachheit und Schlichtheit sehr merkwürdig an. Er legte keinen Wert darauf, durch großartigen höfischen Prunk auf seine Stellung aufmerksam zu machen. Jedes Hofzeremoniell war ihm zuwider. Baute er seinen Günstlingen Paläste und überschüttete sie mit Ehrenzeichen, so wohnte er selbst am liebsten in einem einfachen Holzhaus. Vielleicht kokettierte er mit dieser Bescheidenheit, doch das wäre dem Volk gegenüber der falsche Weg gewesen. Er war der Zar, und für das russische Volk bedeutete dies vor allem äußerlichen Glanz, je mehr desto besser. Und je glanzvoller die Umgebung des Zaren, desto glanzvoller er selbst, um so tiefer verneigte man sich vor seiner Unnahbarkeit.
Doch die Ausschweifungen des Zaren enttäuschten die Erwartungen des Volkes. Peter trank unmäßig. Das war für einen Russen eigentlich nichts Ungewöhnliches, doch er übertrieb. Schließlich war er der Zar, ein Gesalbter, und kein russischer Bauer.
Auch seine Frauengeschichten erregten Anstoß, holte er sich seine Freuden doch bei den ausländischen "Teufelinnen". Peter war mit seinen Gespielinnen nicht sehr wählerisch, und mit Romantik hatten seine Liebschaften nichts zu tun. Sein Leibarzt behauptete, er habe "eine Legion von Teufeln der Wollust" im Leibe. Er muß auch zahlreiche Nachkommen gehabt haben, wie Markgräfin Wilhelmine, die Peter und seine zweite Gemahlin in Berlin getroffen hatte, berichtete:
"Die meisten Frauen waren deutsche Mägde und taten Hofdamen-, Kammerfrauen-, Köchinnen-, und Wäscherinnendienste. Beinahe alle diese Kreaturen hatten reichgekleidete Kinder auf den Armen, und wenn man sie fragte, ob sie ihnen gehörten, antworteten sie mit einem russischen Kratzfuß: Ich habe dieses Kind durch die Gnade des Zaren bekommen." An die vierhundert Frauenzimmer sollen den Zaren und seine Gattin begleitet haben.
Peter besaß viele Frauen. Doch keiner - mit Ausnahme seiner geliebten Katinka - baute er irgendwelche Luftschlößer oder überhäufte sie mit kostbaren Geschenken. Als Liebhaber war er gradezu krankhaft geizig.
Obwohl Zar Peter nicht gerade ein Kavalier war, der die Frauen zuvorkommend und zärtlich behandelte, und er sich die Frauen nahm, wie es ihm passte, hat er doch eins bedacht: sein umfassendes Reformwerk kam auch den Frauen zu Gute. Er lockerte alle Zwänge, die den russischen Frauen seit Jahrhunderten orientalische Zurückgezogenheit auferlegt hatte; der Terem, das Frauengemach, verlor seinen Schrecken. Die Türen öffneten sich. Nicht nur Licht und Luft drangen in die dunkelen Gemächer ein, sondern auch eine freiere, vergnügliche Lebensart.
 
Und hier noch ein Bericht aus "Die Zeit" 12/2003

DIE ZEIT 12/2003
Stadt in den Lüften

Wie Zar Peter I. sich vor 300 Jahren mit brutaler Gewalt einen Traum erfüllte ? und aus dem Nichts einen Ort schuf, der heute zu den schönsten der Welt zählt: Sankt Petersburg Von Dietrich Geyer
Im Anfang war der Zar: Sankt Petersburg ist ohne Peter den Großen nicht zu denken. Und das Imperium, das er hinterließ, nicht ohne diese Stadt. Die Geschichte dieser wundervollen Metropole, die heute eine der schönsten Europas ist, beginnt am Dreifaltigkeitstag 1703, am 16. Mai nach dem Julianischen Kalender, mit einem sagenumwobenen Gründungsakt. Den Platz im Mündungsdelta der Newa hatte der Herrscher höchstpersönlich ausgesucht, denn es war Krieg, und alles hing daran, die Flusslandschaft zwischen Ladoga-See und Ostseeküste, die den Schweden eben erst entrissen worden war, mit einer Festung gegen feindliche Anschläge zu sichern.
Der Entschluss, den exzentrisch gelegenen Ort sogleich mit dem Namen des Apostels Petrus auszustatten, lässt vermuten, dass sich der Zar schon damals mehr vorgenommen hatte, als eine Festung zu bauen mit einer Stadt, einem Hafen und einer „Admiralität“. Offenbar wollte er, als er seinen Schutzpatron, den ersten Bischof Roms, für Petersburg in Anspruch nahm, ein symbolträchtiges, in die Ökumene ausgreifendes Zeichen setzen, wollte vor den Augen Europas demonstrieren, welch hohen Begriff er als christlicher Monarch von seiner eigenen Bestimmung hatte. Die Holzfigur des Apostels, die, mit den beiden Schlüsseln zum Paradies versehen, das erste Tor der Festung schmückte, verwies auf die sakrale Würde des Herrschers selbst. Es war das alte Verlangen der Moskauer Autokraten, mit dem Kaiser, dem Haupt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, auf gleichem Fuß zu stehen.
Die ursprüngliche Namensform „Sankt Piters Burch“ wurde binnen kurzem eingedeutscht. Der russischen Fassung „Sankt Peterburg“ fehlte nur das s des deutschen Genetivs. Eine Übersetzung, die den Russen leichter von der Zunge hätte gehen können, gab es damals und auch später nicht. Gleiches galt für die überwiegend deutsche Nomenklatur der neuen Dienstränge und Behörden. Dieser Eigensinn war der Ausdruck für die Entschlossenheit des Zaren, Moskowien aus seiner Selbstbezogenheit herauszureißen und mit dem übrigen Europa auf Dauer zu verbinden. Geistliche Würdenträger benutzten die kirchenslawisch eingefärbte Wendung „Grad svjatago Petra“ (Stadt des heiligen Petrus). In der Umgangssprache kam die Kurzform „Piter“ auf, in der gelehrten Welt „Petropolis“.
Zum Ursprungsmythos der Stadt gehört ein Blütenkranz seltsamer Geschichten. Auch hier war nicht der segenstiftende Apostel, sondern der Zar die wahrlich beherrschende Figur. Besonders fromm ist der Bericht, demzufolge Peter an jenem 16.Mai ein Kästchen mit einem Splitter vom Märtyrerkreuz des heiligen Andreas in die Erde senkte, jenes „Erstberufenen“ Bischofs, der nach kirchlicher Überlieferung den griechischen Glauben zu den Russen brachte. Eher weltlich klingt dagegen die Historie vom flügelschlagenden Adler, der sich auf dem Handschuh Peters niederließ, um dann in den Himmel zu entschwinden, oder die Erzählung von den beiden Birken, deren Spitzen der Zar zusammenband, um den Platz des ersten Festungstores zu markieren. Immer wieder war es der Herrscher, der Fantastisches bewirkte: Eigenhändig habe er einen Felsen nach dem anderen aus dem Schlamm gehoben und Petersburg nicht auf dem Boden, sondern in den Lüften aufgerichtet. Erst als er damit fertig war, habe er die Stadt sanft auf die Erde herabgeholt, ohne dass sie in Sumpf und Schlick sogleich versunken wäre.
Rasch wurde offenkundig, dass der Zar sein ganzes Land für Petersburg in Dienst nehmen wollte – mit der gleichen Unerbittlichkeit, mit der er seine Untertanen für andere Zwecke zu verbrauchen pflegte. Es werden, schrieb der kaiserliche Resident Otto Pleyer aus Moskau nach Wien, „alle Teutsche und russische Matrosen, und schiffers aus dem ganzen reich dahin zusammen berueffen, wie dann auch fast alle anderen russischen Handwerker und Arbeitsleut dahin entbothen werden. Auch wird aller Butter, Korn, knobloch, Zwiffel und andere Victualien mehr und mehr aus Moscau dahin verschaffet, wodurch eine solche Teurung hier einreisset, dass man fast auf die lenge kaum wird seine notdurfft zu leben erkaufen und bekommen können.“
Andere Unbilden kamen hinzu. Keine waren belastender als der Krieg, den Peter im Bündnis mit August dem Starken, dem sächsischen Kurfürsten und polnischen König, und dem Dänenkönig Christian V. angezettelt hatte, um die Hegemonie Schwedens im Ostseeraum zu brechen. Über die Jahre hin blieb Petersburg in den Großen Nordischen Krieg (1700 bis 1721) verstrickt, glich die Stadt einem militärischen Großunternehmen, wurden Hekatomben von Menschenleben, die das ehrgeizige Projekt verschlang, „dem Unfall des Krieges“ zugerechnet – als ob, wie es hieß, diese Toten „vom Feind erschlagen“ wären. Kanonenschüsse, Trommelschläge und Hornsignale gehörten zum phonetischen Repertoire eines Kommandoregimes, dem in Petersburg niemand entkommen konnte – der zwangsangesiedelte Adel so wenig wie die Kaufmannschaft, vom gemeinen Volk zu schweigen. Vorbild war der Militär- und Steuerstaat des neuzeitlichen Absolutismus, dessen Räderwerk in Russland erst noch geschaffen werden musste. Auf dem Weg dorthin sollte Petersburg Schaubühne, Laboratorium und öffentlicher Exerzierplatz sein: ein „großes Fenster, im Norden aufgestoßen, durch welches Russland nach Europa blickt“. Graf Francesco Algarotti, ein reisefreudiger Italiener, war 1739 der Erfinder dieser Fenstermetapher, die durch Alexander Puschkins Poem vom Ehernen Reiter berühmt werden sollte.
Tausende sterben an Entkräftung und Seuchen
Bei seinem Verlangen, an der See Fuß zu fassen, berief sich der Zar auf historisches Recht. Von Alters her hatte das Terrain, auf dem Petersburg sich auszubreiten begann, zu Groß-Nowgorod gehört, jener weiträumigen Stadtrepublik, die von IwanIII. 1478 unterworfen und dem Moskauer „Vätererbe“ zugeschlagen worden war. Anfang des 17.Jahrhunderts, in einer „Zeit der Wirren“, war der Zarenstaat gelähmt, sodass Michail Fjodorowitsch, der erste Herrscher aus dem Hause Romanow, Ingerien und Karelien 1617 an Schweden abtreten musste, auch Narwa mit der Festung Iwangorod. Russland war von der Ostseeküste abgeschnitten. Revisionsversuche, auch militärische, missglückten.
Doch unter Peter wandte sich das Blatt. Den Ausschlag gab der Entschluss Karls XII., die Russen nach ihrer Niederlage vor Narwa im November 1700 vorerst dem eigenen Unglück zu überlassen. Statt nach Osten vorzudringen, ging er daran, König August aus Polen-Litauen in dessen sächsische Erblande zurückzujagen. Das erlaubte dem Zaren, neue Operationen in Richtung Ostseeküste zu wagen. Nach Nöteborg, dem alten Oreschok – von Peter nach der Eroberung in Schlissel-Burch umbenannt –, fiel im Frühjahr 1703 die newaabwärts gelegene schwedische Festung Nyenschantz und brannte bis auf die Grundmauern nieder. Der Zar befahl, den Ort aufzugeben – und zwei Kilometer westlich davon, auf der „Hasen-Insel“, dem „Lust-Eiland“ eines schwedischen Majors, mit dem Bau Sankt Petersburgs zu beginnen.
Diese Entscheidung war wohlbegründet. Die kleine Insel lag an einer Stelle, wo die Newa (nach Ansicht des hannöverschen Gesandten Friedrich Christian Weber) „doppelt so breit wie die Elbe bei Hamburg“ war und erwarten ließ, dass von ihr aus die auseinander strebenden Flussarme gegen feindliche Anschläge zu sichern wären. Ein schmaler Wasserarm, der die neue Festung von der ungleich größeren „Birkeninsel“, der so genannten Petersburger Seite, trennte, bot sich als Ankerplatz und Winterquartier für die Galeerenflotte an. Noch im Gründungsjahr der Stadt konnte dort ein holländisches Handelsschiff empfangen werden; Kapitän und Mannschaft wurden mit Geschenken überhäuft. 1704 gelang es, die Schweden von der Ostseeinsel Retusaari (Kotlin) zu vertreiben und dort – 28 Kilometer von Petersburg entfernt – das Kastell Kronschlott zu errichten. Die Erwartung, dass sich so die Newa von der See her sperren ließe, hat nicht getrogen. In den folgenden Jahren entwickelte sich aus dieser Bastion die Flottenbasis Kronstadt, die maritime Vormauer für Sankt Petersburg.
Zehntausende dienstpflichtiger Untertanen wurden nun Jahr für Jahr zur Arbeit an die Newa befohlen: von städtischen Steuergemeinden, Adelsdörfern und Klosterämtern gestellt, mit Äxten und anderen Gerätschaften ausgestattet, von Militärkommandos bewacht, nicht selten in Ketten geführt, um die Unglücklichen am Entweichen zu hindern. Ein beträchtlicher Teil der Zwangsrekrutierten ging auf den langen Transportwegen durch Entkräftung, Tod oder Flucht verloren. Entlaufene Bauern, Deserteure und Sträflinge, an aufgerissenen Nasenflügeln und anderen Schandmalen leicht zu erkennen, hatten die Lücken zu füllen. Schwedische Kriegsgefangene und Soldaten der Garnisonsregimenter kamen hinzu. Unter den elendesten Bedingungen hatten diese Menschen ihr Leben zu fristen: in Erdlöchern oder Holzverschlägen, die bei Sturmfluten unter Wasser standen, miserabel verpflegt, kärglich entlohnt, mit grausamen Strafen bedroht, von Mangelkrankheiten und Epidemien heimgesucht. Petersburg wurde, wie man später sagte, „auf Knochen gebaut“, und niemand zählte die Opfer.
Ende Juni 1703, sechs Wochen nach Beginn der Schanzarbeiten, hatte der Zar auf dem Festungsgelände den Grundstein für eine den Aposteln Peter und Paul geweihte Kirche gelegt. Von dem Tessiner Architekten Domenico Trezzini wurde das Gotteshaus, die künftige Grabstätte der Romanows, zunächst in Holz errichtet, nach 1714 dann auch in Stein. Ihre steil aufragende Turmspitze blieb eines der markantesten Wahrzeichen der Stadt.
Unweit der Festung gab es erste Kristallisationskerne städtischen Lebens: Amtsgebäude, Handelshöfe, Ladenreihen, Plundermärkte. Mittelpunkt dieses Areals war ein großer Platz, der seinen Namen von einer unscheinbaren Holzkirche, der „Leben spendenden Heiligen Dreifaltigkeit“, empfing. Bis zu Peters Tod blieb die „Troiza“, um ein Refektorium und den Glockenturm erweitert, der bevorzugte Ort für Staatsakte und höfische Zeremonien. Das erste Quartier des Zaren, ein aus Fichtenstämmen gezimmertes Häuschen, lag nicht weit davon entfernt.
Auf der linken Uferseite wurde 1704 mit dem Bau der Admiralität begonnen, einer großen befestigten Werftanlage. In ihrer Umgebung entstanden Stapelplätze, Seilereien und Werkstätten, dazu Holzhäuser und Lehmhütten, in denen Seeoffiziere, Schiffsbaumeister und Zimmerleute unterkamen. Newaaufwärts, der Festung gegenüber, bezogen Ausländer im Zarendienst Quartier, Protestanten und Katholiken gleichermaßen, die in der „Teutschen Slaboda“ bald ihre eigenen Gotteshäuser bauten. In unmittelbarer Nähe war Peters erstes „Winterpalais“ platziert: ein zweistöckiger Holzbau, nicht aufwendiger als die benachbarten Häuser, die den höchsten Chargen der Marine, Generaladmiral Apraksin und Vizeadmiral Cornelius Cruys, überlassen waren. Östlich davon wurde Raum für einen herrschaftlichen „Sommergarten“ freigeschlagen. Mit einem schlichten Palais in holländischem Barock, mit Alleen, Götterstatuen, Grotten, Orangerie und Tiergehegen bezeugte diese Parkanlage den Stil der neuen Zeit.
Niemand vermag zu sagen, wann der Zar auf den Gedanken kam, die Stadt zur Kapitale seines Reiches zu machen. 1704, nach der Einnahme von Dorpat und Narwa, hatte er Petersburg in vertraulichen Briefen erstmals stoliza, Hauptstadt, genannt und von seinem „Paradies“ gesprochen. Auch in den kritischsten Phasen des Krieges widerstand er allen Anfechtungen, die Stadt um eines Verständigungsfriedens willen preiszugeben. Beobachter meinten gar, dass der Zar bereit sei, „sein Reich und Cron auf die Spitze des wanckelbaren Glücks zu setzen“, nur um „Piter“, sein Lieblingsprojekt, zu retten.
Die Entscheidung, an der Newa die Machtzentrale Russlands einzurichten, hing allein vom Verlauf des Krieges ab. Erst nach dem Sieg vor Poltawa, der den Schwedenkönig im Sommer 1709 dazu zwang, zum Sultan ins Asyl zu flüchten, wurde die Hauptstadtfrage wirklich aktuell. „Jetzt schon“, schrieb Peter, „ist der Grundstein für Sankt Petersburg mit Gottes Hilfe ganz gelegt.“ Auch seinen Wunsch, „die Residenz in Piterburch zu haben“, sah er nun erfüllt. 1710, als er Estland und Livland unterworfen hatte, wurde die Herrscherfamilie aus Moskau anlässlich einer Hochzeit erstmals nach Petersburg befohlen. Im gleichen Jahr wurde die Fürbitte für „die Zarenstadt Sankt Petersburg“ in die Kirchengebete aufgenommen. Doch erst 1712, nach der Rettung der russischen Armee aus der türkischen Umklammerung am Pruth, war der Weg frei, um mit dem „Transport der Kapitale“, des Hofes und der wichtigsten Zentralbehörden zu beginnen. Seither gab es keine Großmacht mehr, die stark genug gewesen wäre, um Petersburg dem Zaren wieder zu entreißen. Die Peter-Pauls-Festung (in deren Folterkellern 1718 der von seinem Vater verstoßene Thronfolger Alexej ums Leben kam) wurde nur noch als Gefängnis, Arsenal und Münze gebraucht.
 
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Zu den Heiligen kommen die antiken Götter des Barock
Der Krieg freilich war noch nicht zu Ende. Russische Truppen standen in Pommern und Mecklenburg und griffen nach den holsteinischen Herzogtümern. Durch ihre schiere Präsenz war die petrinische Militärmacht zu einem beunruhigenden Faktor geworden. Umso mehr kam es darauf an, den Regierungen und dem Publikum im Westen den neuen Rang Sankt Petersburgs bewusst zu machen. Nichts konnte den Willen des Zaren, sein Reich zu „policiren“, eindrücklicher bezeugen als der Verweis auf diese Stadt. Sie sollte dem übrigen Europa glaubhaft machen, dass Russland von seiner bisherigen Geschichte Abschied genommen habe: Abschied von der moskowitischen Welt, die über die Zeiten hin als Hort rüder Despotie und Tyrannei gegolten hatte.
An solcher Aufklärung hat es der Zar nicht fehlen lassen. 1712 befahl er, „mit dem Trommelschlag [zu] publiciren“, „dass dero Truppen nicht länger Moscowiter, sondern Russen genennet würden“. Auch sollte Petersburg jetzt zur Handelsmetropole werden. Peter beschloss, die Stadt nach Wassili Ostrow hin, der großen, dem Meer zugewandten Insel im Newa-Delta, zu erweitern und dort ein „neues Amsterdam“ zu bauen: eine Stadt der Grachten und Kanäle, des Seehandels und des einträglichen Bürgersinns, deren offenbarer Nutzen ihm schon auf seiner legendären Hollandreise aufgegangen war.
Doch die Widerstände, naturgegebene vor allem, waren nicht gering. Mit der Idee einer weltoffenen Handelsmetropole mussten zugleich Ansprüche verbunden werden, die sich aus dem Verlangen nach majestätischer Gloire, militärischer Macht und polizeistaatlicher Ordnung ergaben. Als Muster dafür bot sich die Geometrie barocker Fürstenstädte an, mit linearer Straßenführung und weiten Plätzen, ausgedehnten Parkanlagen und „Lustorten“ in gestalteter Natur. Seit der Zar 1717 die Königsschlösser in der Umgebung von Paris gesehen hatte, drängte er darauf, vor der Stadt, in Peterhof, „ein anderes Versailles“ zu schaffen. In den wenigen Jahren, die ihm blieben (Peter starb, 52-jährig, am 28.Januar 1725), wurden die unterschiedlichsten Möglichkeiten durchgespielt – nicht nur auf dem Reißbrett namhafter Architekten, sondern durch aufwändige Versuche, die favorisierten Projekte auch tatsächlich umzusetzen.
Bei alledem versteht sich, dass die Traditionen, in denen die Russen lebten, durch die Westwendung ihrer Machthaber nicht einfach abgeworfen werden konnten. Aus diesem Faktum kamen tiefe Widersprüche. Sie spiegelten sich nicht zuletzt im Zaren selbst, in der Pathologie seiner psychischen und physischen Natur. Trotz der abgründigen Verachtung, die er dem moskowitischen Lebensstil entgegenbrachte, hat er sich von den überlieferten Formen rechtgläubiger Frömmigkeit nie losgesagt. Um Vergebung der Sünden und die Rettung der Seelen zu beten – dieses Bedürfnis verließ ihn selbst auf Hinrichtungsplätzen, in Folterkellern oder im Rausch der berüchtigten „Saufsynoden“ nicht. Abwegig zu denken, es könnte diesem Kraftmenschen darum gegangen sein, das „heilige Moskau“ durch ein säkulares Kunstwerk zu ersetzen. Auf die spirituelle Aura der alten Hauptstadt ließ sich nicht verzichten. So wurden die Siege der russischen Waffen, in Anwesenheit des Herrschers und des Hofes, auch in Moskau mit dem gleichen zeremoniösen Aufwand an Gottesdiensten und Triumphzügen, an Kanonendonner, Festgelagen und Feuerwerken gefeiert wie in Petersburg. Darüber hinaus blieb Moskau die Würde, Krönungsstadt des Reiches zu sein.
Als der Zarenhof an die Newa wechselte, gab es dort bereits eine Topografie sakraler Orte: etliche in Holz aufgeführte Kirchen, rechtgläubigen Heiligen und Märtyrern geweiht; hernach kam das Alexander-Newski-Kloster hinzu: am Südende der über die Sümpfe hinweg geführten „Großen Perspektive“, des später so berühmten Newski Prospekt. Peters geistliche Berater, Erzbischof Feofan (Prokopowitsch) voran, wurden nicht müde, Petersburg als „Neu-Jerusalem“ zu preisen. Umso anstößiger war es für viele Gläubige, dass der Zar seine Favoritenstadt nicht nur in fromme Gewänder kleidete, sondern auch den antiken Götterhimmel auf die Erde holte. Der Zarenmythos wurde mehr und mehr in allegorischen Stilfiguren barocker Panegyrik ausgedrückt. Die rechtgläubige Kirche, zu einem Ressort der Staatsanstalt mutiert, war zuschwach, um den Einzug heidnischer Götter abzuwehren. Zeus und Mars, Neptun, Herkules und Bacchus gesellten sich zu den heiligen Ikonen, um die Paläste und Gärten der weltlichen Macht zu zieren. Wenn der Zar vom „Paradies“ sprach (und das tat er gern), meinte er nicht das himmlische, sondern meinte Petersburg, in dessen Sommergarten Venus, Apoll, Minerva und Diana standen.
Peter wünschte, dass die von Überschwemmungen und Feuersbrünsten heimgesuchte Stadt Symbol für den „Endzweck“ seiner Regierung sei – Beweis für die Entschlossenheit, Russland auf das Niveau der europäischen Zeit zu heben und im System der großen Mächte auf Dauer zu verankern. Sankt Petersburg sollte ein Zentrum des Welthandels werden, ein Kraftwerk der neuzeitlichen Wissenschaften, sollte bezeugen, dass der vernunftgelenkte Wille fähig wäre, Berge zu versetzen und (wie der Zar gesagt haben soll) aus „einer Heerde unvernünfftiger Thiere“ Menschen zu machen. Und wenn auch das letzte Projekt nicht ganz glückte, weder in Sankt Petersburg noch sonstwo auf der Welt, so schien doch über der so blutig geborenen Stadt ein besonderer Stern zu leuchten: Sie wurde tatsächlich, wie der Zar es befohlen hatte, eine der großen Kunst- und Kulturmetropolen Europas – und von keinem Feind je bezwungen.
 
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Themistokles schrieb:
Mein Vater erinnert sich vage an eine "Schnapsfigur" die von Peters Saufkumpanen eingesetzt wurde, damit Peter von außen weiterhin regieren konnte. Aber ich les vorsichtshalber in einer nüchternen Biographie nochmal nach wie er hieß.
Die heimische Biographie von Henri Troyat erwähnt nur, dass "Für die Zeit seiner Abwesenheit [...]die Staatsregierung einem aus drei Mitgliedern bestehenden Rat anvertraut" wurde. Die Ruhe in Moskau wurde durch fürst Romodanowski gesichert.
 
Bei der Frage, ob en Herrscher den Titel "der Große" verdient, darf man sich nicht an moralischen Fragen orientieren, denn um Strukturen tiefgreifend zu verändern, muss man eine Machtfülle anhäufen, die an sich schon unmoralisch ist, und zu der man nicht glangt, wenn man auf irgendetwas Rücksicht nimmt.

Das gibt mir allerdings zu denken, denn die Frage ist, ob Strukturen überhaupt so tiefgreifend wie nötig verändert werden können, wenn man den Job keinem größenwahnsinniger Schweinehund überlassen will.

So hat es zwar einen Epoche machenden "Code Napoléon" gegeben, es wird jedoch nie einen "Code Merkel" geben - selbst wenn man ihn bräuchte.
 
Klaus schrieb:
So hat es zwar einen Epoche machenden "Code Napoléon" gegeben, es wird jedoch nie einen "Code Merkel" geben - selbst wenn man ihn bräuchte.

Das überlass mal den späteren Geschichtsschreibern.

Wie ist das denn überhaupt mit den Beinamen-Der Gebrechliche, der Grosse, der Bär, der Grausame?
Entstanden diese Beinamen in der Zeit der Regierung? Oder wurden sie den Machthabern erst später angedichtet.
interessiert mich wirklich.
 
Klaus schrieb:
Bei der Frage, ob en Herrscher den Titel "der Große" verdient, darf man sich nicht an moralischen Fragen orientieren, denn um Strukturen tiefgreifend zu verändern, muss man eine Machtfülle anhäufen, die an sich schon unmoralisch ist, und zu der man nicht glangt, wenn man auf irgendetwas Rücksicht nimmt.
Mir ging es nicht (oder zumindest nicht bewusst) um Moral, sndern darum, dass er ein modernes Russland schaffen wollte und die Basis der Bevölkerung völlig vernachlässigte.
 
Wie ist das denn überhaupt mit den Beinamen-Der Gebrechliche, der Grosse, der Bär, der Grausame?
Entstanden diese Beinamen in der Zeit der Regierung? Oder wurden sie den Machthabern erst später angedichtet.
interessiert mich wirklich.

Bei Peter dem Großen verhielt es sich so, dass er am 20.10.1721 vom Senat ersucht wurde, die Titel Vater des Vaterlandes, Imperator sowie den Beinamen der Große anzunehmen. In einer Rede an den neuen Imperator hieß es, dass Peter das russische Volk aus dem Nichtsein zum Sieg erhoben habe.

Preußen und die Niederlande erkannten Peters Titel als Imperator sofort an. Schweden ließ sich damit zwei Jahre Zeit. Österreich, England, Frankreich und Spanien warteten mit der Anerkennung bis einige Jahre nach Peters Tod.
 
Liljana schrieb:
Preußen und die Niederlande erkannten Peters Titel als Imperator sofort an. Schweden ließ sich damit zwei Jahre Zeit. Österreich, England, Frankreich und Spanien warteten mit der Anerkennung bis einige Jahre nach Peters Tod.

Naja, der Imperator rührt ja vom byzantinschen "Erbe" her. Moskau als Drittes Rom und so...
 
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