Verhältnis Kaiser Wilhelm II zu den Nationalsozialisten

Zur Ergänzung:

Um dem angeblich in weiten Kreisen der Bevölkerung erhobenen Vorwurf nachzugehen, dass eine unverhältnismäßig große Anzahl Wehrpflichtiger jüdischen Glaubens vom Heeresdienst befreit sei, sich unter allen nur denkbaren Vorwänden davor zu drücken versuche und alles tue, um nicht an der Front eingesetzt zu werden, ordnete der preußischen Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn (1860-1925) am 11. Oktober 1916 eine statistische Erhebung über die Dienstverhältnisse aller deutschen Juden an. Nach Bekanntgabe des Erlasses zur "Judenzählung" entwickelte sich im Reichstag eine heftige Debatte: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) und die Fortschrittliche Volkspartei werteten den Vorstoß des Kriegsministeriums als "Bruch des Burgfriedens", der alle Deutschen gleich welcher politischen Überzeugung und Konfession hinter dem Kaiser vereinen sollte. Der deutschnationale Reichstagsabgeordnete Gustav Stresemann warnte im Januar 1917 vor einer "antisemitischen Bewegung [...], wie sie noch nie dagewesen ist."

http://www.dhm.de/lemo/html/wk1/innenpolitik/judenzaehlung/
 
Arcimboldo schrieb:
Zu Beginn des Jahrhunderts wanderten jährlich ca. 70.000 Juden aus . Zwischen 1881 und 1914
emigrieren mehr als 2 Mio. Juden vorallem nach den USA, Argentinien,Kanada und Palästina.


"In jedem Jahrzehnt der Kaiserzeit veranstaltete Preußen Massendeportationen, in denen ausländische Juden, auch mit gültigen Papieren, eingefangen und abgeschoben wurden" . Bis zur Jahrhundertwende wurden auf diese Weise mindestens 14 000 Ostjuden abgeschoben . Durch diese Deportationen wurden die Juden aus Osteuropa als Manövriermasse staatlicher Maßnahmen stigmatisiert und zugleich den Antisemiten als Aggressionsobjekt freigegeben. Dabei war die Zahl der Juden aus Osteuropa im Reich lächerlich gering; 1910 gab es 70 000 Ausländer unter den 615 000 Juden, das entspricht 0,1% der Bevölkerung. Wohl aber bestimmte die Konzentration der armen Juden in bestimmten Vierteln der Innenstädte das Straßenbild und damit die sinnliche Qualität dessen, was - zum Beispiel in "Mein Kampf" - als Jude bezeichnet wurde: der verschlissene Immigrant aus Osteuropa. Die rassistischen Stereotypen, mit denen die Ostjuden belegt wurden, gleichen weitgehend denen, die auch heute gegen die Flüchtlinge in Verkehr gebracht werden ."

ganzer Artikel : Untertitel : "DIE NATION DER MINDERHEITEN UND DAS VOLK DER STAATENLOSEN"


http://www.materialien.org/texte/migration/fluebewrass.html

der text ist ziemlich einseitig. die 70.000 auswanderer pro jahr bzw. 2 mio. über diesen zeitraum sind ja eben nicht deutsche jüdischen glaubens sondern emigranten aus osteuropa, die überwiegend über die deutschen häfen ausgewandert sind. immerhin sind davon 70.000 in deutschland "hängengeblieben", 10% der bevölkerung jüdischen glaubens (wie viele von den 2 mio. nicht in die usa gegangen?).

und wenn in den 30 jahren zwischen 1871 und 1900 14.000 juden aus osteuropa abgeschoben wurden, entspricht dies im durchschnitt einer zahl von 460/jahr, 2 pro werktag, massendeportationen?? wie viele von ihnen hielten sich illegal in deutschland auf und wurden deshalb "zu recht" abgeschoben (vgl. mit den abschiebungen von illegalen arbeitern heutzutage)? wie viele ausländer wurden sonst abgeschoben, wie sah die praxis in frankreich oder england aus?

ich will nicht behaupten, dass die behandlung der ostjuden im kaiserlichen deutschland vorbildlich war, aber unterschied sie sich denn so eklatant von der in anderen westeuropäischen ländern? immerhin hatte england bereits 1905 die einwanderung von juden aus dem russischen reich unterbunden! ´
 
collo schrieb:
und wenn in den 30 jahren zwischen 1871 und 1900 14.000 juden aus osteuropa abgeschoben wurden, entspricht dies im durchschnitt einer zahl von 460/jahr, 2 pro werktag, massendeportationen?? wie viele von ihnen hielten sich illegal in deutschland auf und wurden deshalb "zu recht" abgeschoben (vgl. mit den abschiebungen von illegalen arbeitern heutzutage)? wie viele ausländer wurden sonst abgeschoben, wie sah die praxis in frankreich oder england aus?

Was in diesem Zusammenhang "zu recht " geschen ist , oder "illegal " genannt werden kann, bedarf sicher einer Analyse der seit Zar Alexander III. wieder entrechteten Ost-jüdischen Volksgruppen. Diese Begriffe können dann keinesfalls mehr so verwendet werden !

Die Ostjuden machten 1914 12-15 % aller Juden in Deutschl. aus.
Sie waren Strandtgut der der ostjüd. Wanderbewegung nach Übersee, die seit den russ. Pogromen von 1881 in Gang gekommen war.Ihre fremdartige Erscheinung bildete die Zielscheibe für antisem Hetzte.
Sicherlich war der Antisemitismus der 1880-er Jahre ein gesamteurop. Phänomen.
Die Zunahme und Verschärfung des Antisemit. ,die sich in Deutschl. und Österreich seit 1873 beobachten läßt, entspricht dem Sturz der Aktienkurse nach d. Ausbruch d. Börsenskandals. Als die weltwirtschaftl. Depression 1879/80 ihren tiefsten Punkt erreicht hat, flammt überall die judenfeindliche Agitation auf ,um ab 1890 abzuflauen, nach Überwindung der wirtschaftl. Krisenzeit.
Das Bild des Antisemitismus im Kaiserreich ergibt sicher keinen monolithischen Block.
Schwerer wiegt die offensichliche Blindheit für das Eigenrecht für Minderheiten. Und für deren Gewinn , den ihr Anderssein der Mehrheit durchaus bot. Auch dies wohl eine europ. Erscheinung, wie u.a. die Anziehungskraft von diversen Rassenlehren-und Lehrern.
„Jedoch trat sie ( die Blindheit )in Deutschl. verschärft auf, weil soziale Toleranzen, die in England, Frankreich und Italien unterhalb staatl. Und polit. Ebenen solche Gegensätze abschwächten.
Die unbelehrbare Besserwisserei und Repressionstendenz militärischer und ziviler Behörden gegenüber Polen, Elsässern und Lothringern sei hier angemerkt. Das aber auch die Liberalen, die den Militarismus, den Bürokratismus und seine Subordinations-Mentalität bekämpften, über den Schatten der Intoleranz gegenüber Minderheiten nicht springen konnten, weißt auf spezifische Belastungen der dt. Szene hin.“
. -
Der Blickpunkt auf geschichtl. Vorgänge, ob mittendrin-oder Generationen später- kann auch hier sehr unterschiedliche Schlüsse zulassen, allemal aus dem Blickwinkel von Betroffenen, wenn man Geschichte auch als Summe von Einzel-und Gruppenschiksalen begreift.
Die Sozialdemokratie war sicher der Angstgegner Nr. 1 des Kaiserreiches, insofern muß ein Vergleich einer solchen Thematik zu Nachbarländern relativ erscheinen.

Zitat aus : Die Juden als Minderheit i.d. Gesellschaft. dtv- Verlag
weiter benutzte Quellen : Universalgeschichte des Judentums . dtv - Verlag
Deutsche und Juden von Wand Kampmann, S. Fischer - Verlag
 
Zuletzt bearbeitet:
Arcimboldo schrieb:
Was in diesem Zusammenhang "zu recht " geschen ist , oder "illegal " genannt werden kann, bedarf sicher einer Analyse der seit Zar Alexander III. wieder entrechteten Ost-jüdischen Volksgruppen. Diese Begriffe können dann keinesfalls mehr so verwendet werden !

Das verstehe ich jetzt vom Sinn her nicht. Erkläre mir das bitte.
Soll das heißen, weil die Juden in Rußland entrechtet und verfolgt waren, hatten sie das tatsächliche (oder moralische?) Recht im Deutschen Reich "Asyl" zu suchen?
Du überträgst also den heutigen Rechtsanspruch auf Asyl von verfolgten Minderheiten auf damalige Verhätnisse? Collo hat vom damaligen Rechtszustand her argumentiert. Meines Wissens gab es damals keinen Asylanspruch :confused:
 
Arne schrieb:
Das verstehe ich jetzt vom Sinn her nicht. Erkläre mir das bitte.
Soll das heißen, weil die Juden in Rußland entrechtet und verfolgt waren, hatten sie das tatsächliche (oder moralische?) Recht im Deutschen Reich "Asyl" zu suchen?
Du überträgst also den heutigen Rechtsanspruch auf Asyl von verfolgten Minderheiten auf damalige Verhätnisse? Collo hat vom damaligen Rechtszustand her argumentiert. Meines Wissens gab es damals keinen Asylanspruch :confused:

Vom juristischen Anspruch verstehe ich Nichts. Ich leiste mir einen unwissenschaftlichen Standpunkt, der ein moralisches Recht beinhaltet. Aus einem Kriegsgebiet Flüchtende mit dem Hinweis zurückzuschicken, sie hätten kein Recht ins rettende Land xy zu flüchten wäre zweifelsohne juristisch korrekt aber sonst ? Die verfolgten aschkenasischen Juden sprachen jiddisch und waren auch geographisch dem dt. Reich in Nachbarschaft angesiedelt worden,sie hatten schließlich keine freie Wahl der Niederlassung.Die Pogrome ab 1881 und der wachsende
Druck bishin zu Terror würde ich als kreigsähnlich gegenüber den Ost-Juden einschätzen.
Die Allermeisten betraten den Boden des dt. Reiches nur als Durchgangsstation zu den überseeischen Imigrationszielen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Arcimboldo schrieb:
Vom juristischen Anspruch verstehe ich Nichts. Ich leiste mir einen unwissenschaftlichen Standpunkt, der ein moralisches Recht beinhaltet. Aus einem Kriegsgebiet Flüchtende mit dem Hinweis zurückzuschicken, sie hätten kein Recht ins rettende Land xy zu flüchten wäre zweifelsohne juristisch korrekt aber sonst ?

Alles klar. Danke für die Erklärung. Damit sachlich kein Widerspruch zu Collos Argumentation nur die Nennung einer humanistischen Sichtweise. :hoch:
 
Ich finde, dass man den Antisemitismus im deutschen Kaiserreich etwas zu sehr hervorhebt. Es hat ihn gegeben keine Frage, der Begriff "Antisemitismus" entstand sogar in dieser Zeit (Wilhelm Marr, 1873), aber die Judenfeindlichkeit war soviel ich weiß im deutschen Kaiserreich soviel oder sowenig ausgeprägt wie in anderen Zeiten und anderen Staaten auch.

Antisemitismus gabs ja vom frühen Mittelalter hindurch kontinuierlich leider bis heute, mit lokalen Auswüchsen der Verfolgung, Progrome und Vernichtung.
Der Antisemitismus ist meiner Meinung kein Charakteristikum des Kaiserreiches auch wenn es ihn zweifelsohne gab.

Zurück zu Wilhelm II. um den es ja eigentlich geht ...
Auch hier sehe ich, wenn es überhaupt Geimeinsamkeiten des Kaisers mit den Nazis gab, sie nicht im Antisemitismus.
Wenn man Wilhelm II. Antisemitismus vorwirft, wie müssten wir dann Martin Luther, Karl Marx, Johann Wolfgang von Goethe und viele andere "Antisemiten" betrachten?

Als Wilhelm II. von den Progromen vom 9. November 1938 hörte äußerte er sich so:
„Es ist ja eine Schande, was da jetzt zu Hause vor sich geht. Jetzt wird es höchste Zeit, daß die Armee eingreift, viel hat sie sich gefallen lassen, dies darf sie unter keinen Umständen mitmachen. Da müssen die alten Offiziere und alle anständigen Deutschen protestieren. Aber alle sahen dieses Morden und Brennen - und rührten keinen Finger. Bisher war das ganze Nazitum der versteckte Bolschewismus, jetzt aber ist es der offene geworden. Länder müßten ihre Gesandten und Vertretungen abberufen, dann würden die Nazis schon klein beigeben. Auch die Auslandsdeutschen müssen sich jetzt von allen Naziverpflichtungen freimachen, dann werden die in Deutschland auch folgen. Die Stahlhelmer, die alten Frontsoldaten müßten sich zusammentun und die Nazis erledigen.“

Laut wikipedia:
Der Kaiser - der damit indirekt zum Widerstand gegen das NS-Regime aufrief - war so empört, daß er - der 30 Jahre lang das deutsche Staatsoberhaupt war - nun sogar äußerte, er schäme sich erstmals, Deutscher zu sein.

Das Glückwunschtelegramm von Wilhelm II. 1940 an den "Reichskanzler" Hitler soll er angeblich gar nicht persönlich, sondern sein Hausminister, Wilhelm v. Dommes, verfasst haben. Dieses Glückwunschtelegramm galt ja lange Zeit als "Beweisstück" für die Nazi-Nähe von Wilhelm II.
Allerdings könnte ich mir das schon eher vorstellen, dass die militärischen Erfolge, vor allem der Frankreichfeldzug, Wilhelm II. beeindruckt haben.
 
Zuletzt bearbeitet:
Wilhelms zweite Ehefrau Hermine war beispielsweise überzeugte Anhängerin Hitlers, ebenso Wilhelms Cousin Carl Eduard von Sachsen-Coburg und Gotha, was sicher nicht ganz ohne Einfluss auf Wilhelm geblieben ist.

Wilhelm ging es in erster Linie um die Wiedereinführung der Monarchie im Deutschen Reich, selbstverständlich mit ihm als Monarchen, und hier erblicke er in der Partei Hitlers und der DNVP Hugenbergs seit Ende der 20er, wenn diese sich zusammentäten, eine Chance für sich persönlich. Als sein Sohn August-Wilhelm in die NSDAP eintrat, drohte Wilhelm ihm mit dem Fall für Konsequenzen, falls hierdurch Schaden für das Haus Hohenzollern entstünde. (1)

Am 17. und 18.Januar 1931 war der Reichsjägermeister Göring zu Besuch in Doorn, der dort die vorgebliche Meinung vertrat, der Kaiser müsse zurückkehren. (2)

Es folgten Treffen zwischen Hermines mit Göring und Hitler. Ebenfalls traf sich Wilhelms Generalbevollmächtigter von Kleist und der Hofmarschall Alexander Grancy-Senaclens mit dem Reichsjägermeister und dem „Führer“ zusammen. Kleist schenkte dem Reichsjägermeister Göring sogar wertvolle Möbel aus dem Bestand des Hauses Hohenzollern. August-Wilhelm ließ für Röhm ein Pferd springen. (3) August-Wilhelm verfolgte aber nicht die Interessen seines Vaters, sondern seine eigenen Ambitionen.

1932 kam es dann sogar zu direkten Verhandlungen zwischen Kleist und Hitler, die aber nicht im Sinne Wilhelm II. verliefen. Hitler habe sich zwar für die Monarchie ausgesprochen, aber gegen Wilhelm und auch dem Kronprinzen Bedenken vorgetragen. Hitler meinte, Wilhelm und der Kronprinz würden von der Mehrheit des deutschen Volkes abgelehnt werden. (4)

Der Reichsjägermeister machte Wilhelm allerdings im Mai 1932 bei einen erneuten besuch in Doorn wieder Hoffnungen. Ein Jahr später war es dann allerdings endgültig vorbei mit den Hoffnungen auf dem Thron zurückzukehren.


(1) Ilsemann, Tagebuch vom 10.Mai 1930, Königswald, Kaiser, II, S.142 hier nach Röhl, Wilhelm II, S.1303, München 2008

(2) Ilsemann, Tagebuch vom 17. – 20.Januar 1930, Königswald, Kaiser, II, S.153-6 hier nach Röhl, Wilhelm II, S.1305, München 2008

(3) Röhl, Wilhelm II Der Weg in den Abgrund, S. 1305, München 2008

(4) Röhl, Wilhelm II Der Weg in den Abgrund, S. 1305, München 2008
 
Zurück
Oben