Wann hatte wer die Führungsrolle in Europa?

Ein interessantes Thema, das ich nach drei Jahren hier wieder ausgrabe.

Ich werde nun lediglich die Zeit zwischen Karl d. Gr. und 1914 berücksichtigen und mal einige Überlegungen machen:

- Das Großfränkische Reich unter Karl I. dem Großen und Ludwig I. dem Frommen war bis 840/43 fraglos die Hegemonialmacht in Europa.

- Nach der Reichsteilung war lange Zeit nicht deutlich, welches der drei, später zwei Teilreiche eine Führungsrolle einnehmen würde. War die Kaiserwürde zunächst mit Italien verbunden (bis 875), fiel sie kurzzeitig an Westfranken (875–877 mit Karl II. dem Kahlen), um wieder an Ostfranken zu gelangen (881 mit Karl III. dem Dicken). Es gab danach zwar noch einige italienische Herrscher, die den Kaisertitel erlangten, doch konnte diese schwerlich eine europäische Hegemonialstellung erlangen. Ich würde also von 840/43 bis etwa 950 von einem Jahrhundert ohne eindeutige Hegemonie, allenfalls zeitweise, aber nie unumstritten (Karl der Dicke, Arnulf von Kärnten), sprechen

- Mit Otto dem Großen (936–973) trat dann wieder eine wirklich bedeutende Herrscherpersönlichkeit auf den Plan. Bereits Jahre vor seiner Kaiserkrönung 962 hatte er eine europäische Hegemonialstellung erlangt (ich würde sagen, spätestens nach der Lechfeld-Schlacht 955). Diese europäische Hegemonie vermochten auch seine Nachfolger aufrecht zu halten. Mit Heinrich III. (1039–1056) wurde sie gar noch gesteigert, um unter dessen Sohn und Nachfolger Heinrich IV. (1056–1106) freilich allmählich in Frage gestellt zu werden. In dieser Zeit kann man auch von einem zunehmenden Auseinanderwachsen der deutschen und französischen Monarchie sprechen. Die französische und englische Krone erstarkten ab dem 12. Jahrhundert, doch war ingesamt die Hegemonialstellung des Heiligen Römischen Reiches bis zum Todesjahr Friedrichs II. 1250 gegeben.

- Mit dem Interregnum verschob sich die europäische Monarchie vom Reich weg nach Frankreich. Ludwig IX. der Heilige (1226–1270) kann wohl mit einigem Recht als der bedeutendste Herrscher der Zeit nach 1250 bezeichnet werden. Unter seinen Nachfolgern, besonders Philipp IV. dem Schönen (1285–1314), wurde diese Stellung noch weiter ausgebaut, so daß dieser wahrlich "Kaiser in seinem Königreich" (und darüber hinaus).

- Die Erschütterungen durch den Hundertjährigen Krieg (1337–1453) stellten die französische Vormachtstellung allerdings bereits kurz darauf wieder in Frage. Der englische König Eduard III. (1327–1377) war zumindest in den Jahren 1356 (Schlacht bei Maupertuis) bis 1369 (neuerlicher Kriegsausbruch) der mächtigere König. Allerdings erstarkte gerade in dieser Zeit auch das Kaisertum mit Karl IV. (1346–1378) erneut, der zumindest eine hegemoniale Stellung in Europa versuchte (Reichstag 1356 mit Kniefall des Dauphin in Metz). Nachdem England ab ca. 1370 zunehmend in Schwierigkeiten kam (Frankreich siegte wieder) und nach dem Tod des großen Karl IV. 1378 gab es wiederum keine eindeutige Hegemonie in Europa. Sowohl der Kaiser als auch die Könige von England und Frankreich hatten schwache Nachfolger. Erst mit Heinrich V. (1413–1422) trat wieder ein energischer König auf, der 1420 faktisch die Personalunion Englands mit Frankreich erreicht hatte und somit theoretisch zum mächtigsten Herrscher in Europa aufstieg. Freilich beendeten sein früher Tod 1422 und die Jugend des Nachfolgers Heinrich VI. die hochfliegenden Pläne, so daß dieser erst Frankreich, dann England und schließlich auch sein Leben verlor. Das Land versank in bürgerkriegsähnlichen Zuständen.

- Im späteren 15. Jahrhundert waren weder der Kaiser noch der englische König also in der Lage, eine Hegemonie zu begründen. Stattdessen versuchten dies die Herzöge von Burgund, allen voran Philipp III. der Gute (1419–1465/67 und vor allem Karl der Kühne (1465/67–1477). Letztlich scheiterte der kühne Herzog aber, sein Reich wurde aufgerieben zwischen Reich und Frankreich.

- Im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts versuchte das wiedererstarkte Frankreich unter Karl VIII. (1483–1498), eine europäische Hegemonie mittels seiner Italienpläne zu begründen. Es folgten zwei Jahrzehnte des Kampfes, welche letztlich mit dem Sieg Franz' I. (1515–1547) bei Marignano 1515 endeten und die französische Hegemonie begründeten.

- Diese wurde aber sehr bald durch die dynastisch einmalige Erbfolge Karls V. (1515/16/19–1555/56/58) in den Niederlanden 1515, in Spanien mit Neapel-Sizilien 1516 und im Reich 1519 in Frage gestellt. Nach der Schlacht bei Pavia 1525 war die kurzlebige französische Hegemonie bereits wieder gebrochen. 1529 war Karl V. der unbestrittene Herr von Italien, 1530 gekrönter Kaiser. 1544 stand er kurz vor Paris. Franz I. sah sich gezwungen, letztmalig auf Mailand und Italien zu verzichten. Zwar errang Heinrich II. (1547–1559) Anfang der 1550er Jahre einige Erfolge gegen die Habsburger, doch sicherte der Frieden von Cateau-Cambrésis 1559 letztlich die unbestrittene habsburgisch-spanische Hegemonie. Frankreich wurde für 40 Jahre zur zweitrangigen Macht degradiert, bedingt durch die Jugend der Könige und die Religionskriege. Ihren Zenit erlangte die habsburgische Weltmachtstellung durch den portugiesischen Erbfall im Jahre 1580, der Philipp II. (1556–1598) nicht nur die gesamte Iberische Halbinsel, sondern auch das portugiesische Kolonialreich zusätzlich zum spanischen einbrachte. 1581 fielen allerdings die Niederlande von Spanien ab, 1585 konnte zumindest der südliche Teil zurückerobert werden. Die Niederlage der Armada 1588 wird oftmals in ihrer faktischen Auswirkung überschätzt. Mitnichten erlangte England 1588 die Vorherrschaft auf See. So blieb Spanien, wenn auch zunehmend nicht mehr unbestritten, bis zum Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) die Hegemonialmacht in Europa. Die vernichtende Niederlage in der Schlacht bei Rocroi 1643 leitete letztlich den wirklichen Niedergang ein. Im Pyrenäenfrieden 1659 ging die Vormacht in Europa auf Frankreich über.

- Frankreich war unter Ludwig XIV. (1643–1715) fraglos das mächtigste Land in Europa. Dies gilt insbesondere für die Zeit von 1659 bis 1685. Bereits im Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688–1697) und noch mehr im Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) zeigte sich allerdings, daß eine französische Hegemonie nicht mehr bedingungslos hingenommen wurde. Ich würde insofern nach den Friedensverhandlungen von Utrecht (1713) und Rastatt (1714) nur mehr eine "relative Hegemonie" zuerkennen, die letztlich bis 1763 andauerte.

- England bzw. Großbritannien stieg im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts immer mehr zur Großmacht auf. Nach dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763) löste es Frankreich als "relative Hegemonialmacht" ab.

- Erst mit Napoleon I. (1799/1804–1814/15) erlangte Frankreich noch einmal für kurze Zeit eine wirkliche Hegemonialstellung, die man vermutlich zudem auf die Jahre zwischen 1806 und 1812 eingrenzen muß. Danach setzte sich das Fünf-Mächte-System endgültig durch und behielt bis zum Ersten Weltkrieg (1914–1918) dann seine Geltung [wobei man dem Russischen Reich gerade unter Nikolaus I. (1825–1855) bis zum Krimkrieg (1853–1856) durchaus so etwas wie eine hegemoniale Stellung einräumen könnte].
 
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- Frankreich war unter Ludwig XIV. (1643–1715) fraglos das mächtigste Land in Europa. Dies gilt insbesondere für die Zeit von 1659 bis 1685. Bereits im Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688–1697) und noch mehr im Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) zeigte sich allerdings, daß eine französische Hegemonie nicht mehr bedingungslos hingenommen wurde. Ich würde insofern nach den Friedensverhandlungen von Utrecht (1713) und Rastatt (1714) nur mehr eine "relative Hegemonie" zuerkennen, die letztlich bis 1763 andauerte.

- England bzw. Großbritannien stieg im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts immer mehr zur Großmacht auf. Nach dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763) löste es Frankreich als "relative Hegemonialmacht" ab.
Und was ist mit Österreich und Russland?
M.E. ging z.B. spätestens ab 1733 in Polen nichts mehr ohne russische Zustimmung. Spätestens mit Zarin Elisabeth war Russland Großmacht und mächtiger Handelspartner Englands. Ich sehe nichtmal ein Kopf- an Kopf-Rennen der beiden Großmächte Russland und Frankreich, sondern eher in sich abgetrennte Interessensphären, freilich nicht ohne Konfliktpotenzial wie v.a. um die polnische Krone, wo beide Großmächte mitreden wollten, wobei Russland letztlich näher dran war und den direkteren Zugriff hatte.

Österreich hingegen ist schwieriger einzuordnen. Im Reich war der Konflikt mit Preußen im Grunde seit 1713 permanent, mit dem Aufstieg Preußens unter dem Soldatenkönig und der zunehmenden Einflussnahme Preußens auf weite Teile Nord- und Mitteldeutschland, ja auch Süddeutschlands (Beziehungen z.B. hin nach Württemberg, Schlucken von Ansbach und Bayreuth etc.) wurde dieser Konflikt zu einer Zerreißprobe innerhalb des Heiligen Römischen Reiches, das diplomatisches und militärisches Schlachtfeld beider Parteien wurde.
 
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